Sven Gächter

Sven Gächter Fukushima, mon amour

Essay. Fukushima, mon amour

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Wenn die Welt mal wieder auf dem Kopf steht und das Katastrophenpendel wild in alle Richtungen ausschlägt, übernehmen die Experten die Deutungsführerschaft. Sachlich, ruhig und gefasst erklären sie das Unbegreifliche. Ihre Expertise wird zum Richtfeuer im allgemeinen Chaos, selbst wenn man, weil alles so komplex ist, möglicherweise nichts von dem versteht, was sie sagen. Es reicht vollauf, sich in der tröstlichen Gewissheit zu wiegen, dass zumindest sie selbst verstehen, was sie ­sagen, denn solange es etwas zu verstehen gibt, gibt es auch Hoffnung auf die prinzipielle Existenz und Ergründbarkeit irgendeiner Ordnung.

Selten war die Sehnsucht nach Experten größer als nach der multiplen Katastrophe in Japan. Sachlich, ruhig und gefasst versuchten in der Regel ältere, mitunter schrullig anmutende Herren, das Unbegreifliche zu erklären. Dass sie dabei oft genug nicht nur einander, ­sondern, je nach Tageszeit und Erschöpfungsgrad, auch sich selbst widersprachen, gab ihren Ausführungen eine anheimelnd menschliche Note, die den technokratischen Inhalten naturgemäß abging. Sie konnten das Erdbeben, den Tsunami, den Reaktor-GAU, indem sie deren Entstehungs- und Funktionsweisen erläuterten, zwar nicht ungeschehen machen – sie konnten dem globalen Schock über das Unsagbare jedoch die beschwichtigende Kraft der Rationalität entgegensetzen.

Ein deutscher Krisenforscher skizzierte mit dem Tonfall eines fürsorglichen Märchenonkels im Fernsehen das elementare Prozessmuster aller Katastrophen: Am siebten Tage entscheide sich, ob die Situation unter Kontrolle gebracht werden könne; spätestens drei Wochen nach dem Unglück flaue das öffentliche Interesse ab; und nach drei bis fünf Jahren schließlich sei der ursprüngliche ­Zustand wiederhergestellt. „Alles am Ende vielleicht doch nur halb so schlimm?“, fragte der TV-Moderator, ­vorfreudig erregt angesichts der geradezu biblischen ­Folgerichtigkeit dieses Szenarios. Der Krisenforscher räusperte sich ganz unwissenschaftlich verlegen: „Na ja, äh, vielleicht, ja.“

Wie schlimm ist halb so schlimm? Immer noch schlimm genug? Und wie viele halbschlimme ­Desaster sind dem Menschen zumutbar, bis das Maß der physischen und psychischen Versehrung übervoll ist? Die Geschichte der vergangenen zehn Jahre lässt sich als eine praktisch nahtlose Abfolge von Katastrophen darstellen: 9/11 (2001), Tsunami (2004), Katrina (2005), Finanz- und Wirtschaftskollaps (2008 bis heute), Haiti (2010), Ölpest (2010), Japan (2011). Das virulente Lebensgefühl unserer Zeit ist die bedrückende Kontinuität der Krise, akzentuiert durch unterschiedlich einzuordnende und unterschiedlich heftige Unglücksfälle, die für einen konstant hohen Hysteriepegel sorgen. Dieser wiederum wird durch den lapidaren Verweis auf die manipulative Kraft der ­Medien keineswegs bedeutungslos. Tatsächlich handelt es sich dabei nicht um die Ursache, sondern nur um das greifbarste Symptom eines weltweit verbreiteten Grundphänomens namens Angst: Angst vor Terror; Angst vor dem Klimawandel und den Naturgewalten, die er entfesselt; Angst vor dem Ruin; Angst vor der Zukunft – kurz: Angst vor der Existenz.

Die moderne Zivilisation ist dadurch gekennzeichnet, dass sie neben dem ohrenbetäubenden Triumphalismus über ihre eigene Großartigkeit das klamme Unbehagen daran inzwischen automatisch mitproduziert. Wenn die hoch entwickelten Systeme, die der Mensch zu seinem luxuriösen Fortbestand geschaffen hat, ihm bei jeder Gelegenheit um die Ohren zu fliegen drohen, liegt die Sinnfrage und vor allem die Frage nach der Verantwortung für fatale Unwägbarkeiten auf der Hand. Und diese Fragen werden immer öfter und immer lauter gestellt. Der Weltschrecken über die Geschehnisse in Japan ist mehr als nur ein humanitärer Reflex, er widerspiegelt das dumpfe kollektive Bewusstsein, dass Vergleichbares jederzeit auch anderswo möglich und kein noch so hoher zivilisatorischer Standard immun dagegen wäre – im Gegenteil: ­Zivilisatorische Standards (wie etwa Atomkraftwerke) ­stehen in direkter Relation zu den Verheerungen, die sie anrichten können, wenn sie aus dem Ruder laufen.

Bei allem apokalyptischem Pathos, bei aller voraus­eilenden Panik sind solche Gedankengänge nicht nur ­legitim, sie sind überlebenswichtig, weil sie, wenn sie auch sonst weiter keine produktiven Wirkungen zeitigen sollten, immerhin die menschliche Hybris angemessen unterlaufen. Der Philosoph Peter Sloterdijk legte seinem nach Rilke betitelten Buch „Du musst dein Leben ändern“ (2009) eine „Tatsache von universaler ethischer Bedeutung“ zugrunde: die „allgegenwärtig wachsende Einsicht, dass es so nicht weitergehen kann“. Den bewusst salbungsvollen Aufruf zur „Umkehr“ leitete er nicht im religiösen Sinn aus einem Gottesbegriff ab, sondern durchaus diesseitsgewandt aus der globalen Krise.

Natürlich bietet der Weltuntergang seit jeher auch ­einen nicht zu unterschätzenden Unterhaltungswert – zumindest solange er nicht eintritt. „Die Apokalypse gehört zu unserem ideologischen Handgepäck“, schrieb Hans Magnus Enzensberger in seinem Essayband „Politische Brosamen“ (1982): „als wissenschaftliche Prognose, als kollektive Fiktion und als sektiererischer Weckruf, als Produkt der Unterhaltungsindustrie, als Aberglauben, als Trivialmythos, als Vexierbild, als Kick, als Jux, als ­Projektion“. Der spielerische Sarkasmus im Umgang mit fantasierten Katastrophen nimmt jedoch einen ätzenden Beigeschmack an, wenn er auf die authentischen Bilder der Verwüstung in Japan oder Haiti prallt. Die schrille Dauerbedröhnung durch die Medien erzeugt allgemeine Betroffenheit, in steigendem Maße aber auch die düstere Vorahnung einer Mittäterschaft, der man sich nicht ­dadurch entschlagen kann, dass man schulterzuckend ­höhere Naturgewalten beschwört, denn schmelzende ­Kerne und unkontrolliert strahlende Reaktoren sind ­Kollateralschäden einer von Menschenhand geschaffenen technologischen Hochkultur.

Alles in Wahrheit nur halb so schlimm, wiegeln die ­zynismusgestählten Realisten routinemäßig ab: Die vergleichsweise wenigen Toten, die es zu beklagen gebe (und die man selbstverständlich gebührend beklagen müsse), seien dem Erdbeben und dem Tsunami zuzuschreiben; Fukushima habe bisher, soweit bekannt, keine Opfer ­gefordert, weder vor Ort noch anderswo – abgesehen von den unzähligen Hysterieopfern rund um den Globus, die letztlich nur einmal mehr dem medialen Sirenengeheul erlegen seien, wie ausgerechnet manche Medien originellerweise resümierten.

Tageszeitungen, die eine Woche lang mit Hochdruck an der Panikschraube gedreht hatten, gingen umstandslos – wohl auch aus Enttäuschung über den hartnäckig ausbleibenden Super-GAU – zu ­säuerlich-platter Massenerregungskritik über. Es sei, schrieb ein österreichisches Blatt, höchste „Zeit für mehr Sachlichkeit“.

Sachlichkeit ist das Privileg der Unbeteiligten und Gleichgültigen. Davon allerdings gibt es immer weniger. Sie werden nach und nach zurückgedrängt von den Vorläufern und Fürsprechern einer Leidenschaft, die der existenziellen Frage gilt, wie wir unsere Lebensbedingungen gestalten, ohne dabei immer auch die niederschmetternde Option der Selbst- und Gemeingefährdung in Kauf nehmen zu müssen. Verglichen mit dem Fatalismus der vermeintlich Abgebrühten erscheint die diffuse Hysterie der Masse als vielleicht nicht unbedingt zielsichere, dafür aber integre Strategie zur Besinnung auf das Wesentliche. Wenn hinreichend viele Menschen aus permanent gegebenem Anlass in Hysterie verfallen, dann genügt der süffisante Hinweis auf eine vorgeblich ganz anders gelagerte Realität der Tatsachen nicht mehr zu deren Entkräftung, weil die Hysterie selbst irgendwann eine hinreichende Tatsachenrealität darstellt, die als solche Berechtigung und Dringlichkeit hat. Man muss nicht in Fukushima ­leben, um das zu spüren.

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