Sven Gächter

Sven Gächter: Stillgestanden!

Essay. Hektisch verwaltet die Politik ihren Niedergang

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Was sieht der österreichische Bundeskanzler, wenn er in den Spiegel schaut? Sieht er das legitime Ebenbild namhafter Amtsahnen wie Kreisky oder Vranitzky? Sieht er die rechtschaffene Nachhut belächelter, vergessener, beleidigter oder gescheiterter Vorgänger wie Sinowatz, Klima, Schüssel, ­Gusenbauer? Sieht er nur den schmächtig-fahlen Gegenschuss zu Josef Pröll? Sieht er rot, sieht er schwarz, sieht er grau? Sieht er einen Lichtblick, oder sieht er einen Abgrund? Er sieht Werner Faymann.

Vermutlich sieht er sich recht gern – weniger aus ungebändigter Eitelkeit als aus dem frommen Bewusstsein heraus, grundsätzlich eine gern gesehene Erscheinung zu sein, wie das Satiretrio maschek sie kaum spitzer persiflieren konnte: mit verlegenem Dauergrinsen und schneidendem Timbre. Eine einzige wandelnde Pointe.

Der österreichische Bundeskanzler hat schon bessere Zeiten erlebt. Bis in die neunziger Jahre galt er als Respektsperson, die ihr natür­liches Selbstverständnis aus der Würde der Funktion bezog, wobei die Würde der Person und die Würde der Funktion in den besten Fällen eine organische Wechselwirkung entfalteten. Die Integrität des Amts selbst stand nicht zur Debatte, unabhängig davon, wie die Amtsführung aus pragmatischer oder ideologischer Sicht im Einzelnen beurteilt werden mochte. Der Kanzler war der Kanzler und als solcher ein Bürdenträger, der ein Grundmaß an institutioneller Achtung erwarten durfte.

Mit dem Siegeszug des rechtspopulistischen Hooliganism änderten sich die Vorzeichen. Die Politik verkam zu einem vorzivilisatorischen Erlebnispark, in dem keine Axt tief genug fliegen konnte. Das Argument wurde durch den Untergriff ersetzt, die sachliche Kontroverse durch sinnfreies Gemetzel. Jede handelnde Person war schon aufgrund der Tatsache, als solche erkennbar zu sein, zum Abschuss freigegeben.

Die Politik im Besonderen folgte damit einer Tendenz, die das Unterhaltungsgeschäft im Allgemeinen schon vorweggenommen hatte: Öffentlichkeit lässt sich am zuverlässigsten über systematische Ver­rohung herstellen. Schnelle Aufmerksamkeitseffekte sind dabei garantiert, wenn auch nur kurzfristig – was kein Problem bedeutet, ­solange die Inhalte bedeutungslos, weil austauschbar bleiben und der Nachschub an Effekten nicht versiegt. Das Wesen von ernsthafter Politik jedoch besteht in der Produktion und Gewährleistung von Substanz, was ein durchaus erhebliches Problem bedeutet, weil in der gängigen Aufmerksamkeitsökonomie dafür kein Platz vorgesehen ist.

So hat die österreichische Innenpolitik sich binnen 15 Jahren auf das Niveau hektischer Bedeutungslosigkeit heruntergewirtschaftet. Dienstfertig verwaltet sie ihren eigenen Niedergang und wundert sich, dass die Verdrossenheit im Land stetig steigt. Die Regierungsverantwortlichen von SPÖ und ÖVP versuchen krampfhaft, einander klägliche Prozentpunkte diesseits der 30-Prozent-Schwelle abzujagen, während der Strachefeldzug mit einer dumpfen Ein-Punkt-Agenda – Ausländer raus! – wohlfeile Popularitätsgewinne einfährt. Dieser Strategie der atmosphärischen Sabotage verdankte Jörg Haider in den neunziger Jahren seinen unaufhaltsamen Durchmarsch, und sein Wiedergänger hat keinen Anlass, davon auch nur einen Millimeter abzurücken: Die rot-schwarzen Gegner sind durch dieselbe Schockstarre gelähmt wie ihre Pendants eine Generation zuvor.

Alles beim Alten auf den ersten Blick – ­Felix Austria, wie es leibt und bebt. Doch die Zeiten haben sich grundlegend geändert, nur das ­politische Personal in Österreich scheint davon nichts mitzubekommen. Hartnäckig wird so agiert, als gehe es wie in der guten alten Nachkriegsära weiterhin nur darum, das Land gütlich – sprich: mit möglichst geringen Terrainverlusten für das eigene Lager – aufzuteilen. Dass dieses Land in Wahrheit längst nicht mehr nur sich selbst gehört und auch längst nicht mehr nur sich selbst verantwortlich ist, wird dabei beharrlich ausgeblendet. Politik degeneriert so zu einer Subdisziplin der kosmetischen Chirurgie: Da ein Stückerl weg, dort eines dazu – schon schauen wir wieder blendend aus, nicht wahr? In Wahrheit ist der österreichische ­Patient vor lauter Botox schon halbseitig gelähmt.

Eine geradezu wohlige Paralyse hat zentrale Bereiche des öffentlichen Geschehens erfasst. Solange der Crash von Pensions-, Gesundheits- und Bildungssystem heute gerade noch abgewendet werden kann, mit welchen notdürftigen Mitteln auch immer, sollte man nur ja keinen Gedanken an morgen verschwenden. Und das Thema Integration ist bei der FPÖ ohnehin bestens aufgehoben – jede weitere sachdienliche Anstrengung erübrigt sich deshalb.

Die Notstandsverwaltung einer strapaziösen Gegenwart hat die Politik und ihre inspirationsfreien Vollstrecker so fest im Griff, dass keine Zeit mehr bleibt, Ideen, geschweige denn ­Visionen, für die vorausschauende Gestaltung der Zukunft zu entwickeln. Das Ergebnis ist Stagnation auf, zugegeben, hohem Niveau, doch wie trügerisch lieb gewonnene Niveau-Illusionen sein können, belegen unter anderem die jüngsten PISA-Daten.
Die derzeit regierungshauptzuständigen Herren Faymann und Pröll haben diese Misere nicht herbeigeführt, sie haben sie fliegend übernommen und mit einer Fantasielosigkeit fortgeschrieben, die an Indolenz grenzt. Wer sich bewegt, hat schon verloren. Der Handlungsspielraum wird auf allen Seiten durch entschlossene Ohnmacht demarkiert, und das große Reformprojekt, dem man nach Lage der Dinge dringend verpflichtet wäre, bleibt Maku­latur, weil Reformen immer am Status quo rühren und die österreichische Politik seit jeher eine tief sitzende Abscheu vor allem hat, was nach Veränderung riecht. Das Neue, ­Ungewohnte ist zu suspekt, als dass man sich ihm „ergebnisoffen“ nähern wollte, um eine modische Phrase aus dem jüngeren Politjargon zu bemühen.

Faymann und Pröll sind prototypische Vertreter jener Phrasenpolitik, die bei jeder Gelegenheit Zuständigkeit und Aktionismus vortäuscht, in Wahrheit aber nur Stillstand reproduziert. Die Irritation des Publikums, also der wahlberechtigten Bevölkerung, über das fortgesetzte Versagen der Entscheidungsträger ist mittlerweile in blanken Fatalismus umgeschlagen – eine demokratiespezifisch brandgefährliche Entwicklung, denn in dem Maße, in dem der Politik nichts mehr zugetraut wird, haben auch ihre Protagonisten ein grundlegendes Legitimationsproblem: Niemand nimmt sie mehr ernst.

Tatsächlich hat die Respektlosigkeit gegenüber der politischen Elite längst epidemische Ausmaße angenommen. Sie äußert sich medial in unverhohlenem Zynismus; die landeskaiserliche Betonfraktion ersetzt Verantwortungsbereitschaft durch routinemäßige Stinkefingerübungen in Richtung Wien; und der breite Rest der habituell Unzufriedenen rülpst seinen Obrigkeits-, Fremden- und Selbsthass in jede laufende Kamera und alle paar Jahre in die nächstbeste Wahlurne.

Wäre Mitleid eine politische Kategorie, müssten Werner Faymann und Josef Pröll mit sofortiger Wirkung unter Artenschutz gestellt werden: Sie sind möglicherweise die letzten Protagonisten einer staatstragenden Zunft, die nach außen hin noch vorgibt, ernsthaft etwas bewegen zu wollen, während sie in Wahrheit nur das lächerlich ­schmale Spektrum der Bewegungsunfähigkeit ausreizt. Der Unterhaltungswert einer solchen – mitunter wohl auch vorsätzlichen – Selbsttäuschung ist nicht zu unterschätzen; er ist allerdings auch beschränkt, weil er von einem dramatischen Vakuum ablenkt.

Satire lebt von der natürlichen Spannung zwischen Karikatur und Karikiertem. Wenn das Karikierte selbst aber bei noch so aufmerksamer Betrachtung zur Unkenntlichkeit verschwimmt, dann verliert die Karikatur ihren Reiz und somit auch ihre substanzielle Berechtigung. Sie bildet nichts mehr ab, was nicht ohnehin schon von Grund auf verzerrt erscheint.
Was also sieht Werner Faymann, wenn er ­morgens in den Spiegel schaut? Den Kanzler oder eine Kunstfigur aus einer maschek-Nummer? Das Komische und zugleich Traurige dabei ist, dass man beim besten Willen oft nicht mehr weiß, woran der Unterschied zu erkennen wäre.

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