Tag der Befreiung: Der Vogelfänger von Auschwitz
(Dieser Artikel ist erschienen in der profil-Ausgabe 19/2018 vom 7.Mai 2018)
Jorge Semprún: "Stell dir vor, ein Kamerateam kommt daher und sagt: ,Mein Herr, meine Dame, Sie sind der letzte Überlebende.' Was soll er tun? Er bringt sich um."
Elie Wiesel: "Nein. Ich stelle mir lieber vor, dass man ihm Fragen stellt, alle möglichen Fragen. Wirklich alle "
Semprún: "Wenn es nicht der Selbstmord ist, dann ist es das Schweigen. Das läuft auf dasselbe hinaus."
Wiesel: "Ein furchtbares Schweigen. Das letzte. Ich möchte jedenfalls nicht der letzte Überlebende sein."
Semprún: "Ich auch nicht."
Aus einem Gespräch der Holocaust-Überlebenden Elie Wiesel (1928-2016) und Jorge Semprún (1923-2011), veröffentlicht 1997.
Auschwitz ist zur Metapher geworden für den Holocaust. Wen fragen, wenn der letzte Überlebende tot ist? Wie davon erzählen?
Die zukünftige Österreich-Ausstellung in diesem ehemaligen Vernichtungslager tut dies in einer verstörenden Form. Sie stellt einen Mann vor, der als Symbolfigur für die monströsen Verbrechen des Nationalsozialismus verstanden werden kann: Vogelfänger in Auschwitz. Der Ornithologe Günther Niethammer meldete sich freiwillig zur Waffen-SS, stand im Konzentrationslager Auschwitz am Haupttor, erkundete im weiten Lagerareal das Vogelleben und stieg nach dem Krieg zum Doyen seiner Wissenschaft auf. Auschwitz war sein Karriere-Sprungbrett.
Durch Niethammers Beispiel bekommt man vielleicht eine Ahnung davon, warum es so weit kommen konnte. Es ist die Normalität im allgegenwärtigen Schrecken, das Studium der Vögel angesichts der Vernichtung des europäischen Judentums, die erst am 8. Mai 1945, am Tag der Befreiung, endete. Drei Millionen Menschen waren in Auschwitz-Birkenau ins Gas geschickt, erschlagen oder erschossen worden - oder verhungert.
Österreich-Pavillon als Privileg
Die Österreich-Ausstellung auf dem früheren KZ-Gelände ist seit fünf Jahren geschlossen. Die alte Präsentation war blamabel: Sie empfing die Besucher mit einem überlebensgroßen Plakat: Deutsche Soldaten trampeln über eine rot-weiß-rote Landkarte, darüber der Schriftzug "Österreich erstes Opfer Hitlers". Österreich musste in den vergangenen Jahren schmerzhaft bekennen, dass seine Landsleute mitgemacht hatten: als KZ-Kommandanten und -Aufseher, Gestapo-Schergen, Wissenschafter und Künstler. Eine noch unveröffentlichte Untersuchung über Österreicher und Österreicherinnen in der Lager-SS in Auschwitz kommt auf 163 Namen.
Die Österreich-Ausstellung, die wegen Sanierungsarbeiten am Gebäude erst 2020 eröffnet werden kann, ist ein Privileg: In der Gedenkstätte dürfen sonst nur Opfer-Nationen ihre Geschichte erzählen. Deutschland hat dort keinen Pavillon.
Österreich steht unter Beobachtung, derzeit auch wegen der Regierungsbeteiligung der FPÖ. Wie wird die neue Ausstellung mit Österreichs Rolle im Holocaust umgehen?
Da liegen sie: Vogelbälge, präparierte Vogelkörper, in Schachteln. Sie sind keine exotischen Exemplare, sondern gehören häufigen Arten an: Elster, Eichelhäher, Goldammer, Dohle Nur die mit dünnem Spagat an gekreuzte Vogelbeinchen gebundenen Etiketten des Naturhistorischen Museums Wien weisen sie als etwas Besonderes, Bizarres, Irreales aus: Die Vögel stammen aus Auschwitz und Umgebung. Geschossen, gefangen und gesammelt hat sie Günther Niethammer, Wachmann am Haupttor des Eingangs zum Lager Auschwitz und Angehöriger der Waffen-SS. Niethammer ist auch Ornithologe. Er hat sich auf Vogelpirsch begeben, während vor seinen Augen kranke Häftlinge in Gaskammern getrieben, sowjetische Kriegsgefangene in Kiesgruben erschossen wurden und die Vorbereitungen anliefen, Auschwitz zu einem Vernichtungslager des europäischen Judentums zu machen. Präpariert werden die Vogelbälge meist von seinem Gehilfen, einem polnischen Auschwitz-Häftling namens Jan Grebocki, einem Förster, dessen Spur sich 1944 verliert. Das nötige Arsen für die Konservierung muss sich Niethammer selbst beschafft haben.
Vogelpirsch in Auschwitz. Wie geht das?
In Auschwitz vollendet SS-Bewacher Niethammer den dritten Band seines "Handbuchs der deutschen Vogelkunde". Und er verfasst die Abhandlung "Beobachtungen über die Vogelwelt von Auschwitz", die 1942 in den Annalen des Naturhistorischen Museums Wien veröffentlicht wird. Seinem Autorennamen hat er stolz den Zusatz "z.Z. bei der Waffen-SS" beigefügt.
Niethammer ergeht sich in seinem Bericht in bildreichen Beschreibungen "reich gesegneter" Vorkommen von Krebsen, Muscheln, Aal und Hecht, schildert die Schwierigkeit der Uferschwalbe, "ihre Brut glücklich hochzubringen", und gibt exakt die Größe des Geschlechts eines geschossenen Baumfalken wieder ("Gewicht 200 g, Hoden 5 x 3 mm").
Vogelpirsch in Auschwitz. Wie geht das? Lauscht er frühmorgens dem anhebenden Gesang der Vögel, notiert die eindringlichen Balzlaute des Pirol ("In den Julitagen hörte ich noch verschiedentlich Männchen flöten") und steht am Abend als SS-Wachmann mit gezücktem Gewehr vor den Häftlingskolonnen, die ausgemergelt von der Arbeit ins Lager zurückkehren, brutal durchsucht und gelegentlich mit Gewehrkolben erschlagen werden?
Im August 1941 schreibt Niethammer seinem früheren Universitätsprofessor Erwin Stresemann launig: "Ich bin hier eine Art K.L. SS-Jägermeister, habe mein Gewehr und fahre mit dem Fahrrad draußen rum." Niethammer ist den Auschwitz-Granden erbötig, er liefert ihnen Wildbret und Enten.
Wer war dieser Vogelfänger von Auschwitz? Zwei Schriftsteller haben die böse Faszination, die von ihm ausgeht, in Romanen verarbeitet. In Polen entsteht eben eine Dokumentation über ihn. "So einer regt die Leute auf", sagt der Bonner Naturwissenschafter Eugeniusz Nowak. Er lernte den Ornithologen schon als Student kennen. Sie waren miteinander befreundet. Er kannte die Gerüchte. 2005 machte er die offiziell nie diskutierte SS-Geschichte des später europaweit geschätzten Präsidenten der Deutschen Ornithologischen Gesellschaft öffentlich ("Eugeniusz Nowak: Wissenschaftler in turbulenten Zeiten").
Elite der Wehrmacht
Niethammer entstammt einer wohlhabenden Unternehmerfamilie. Der Großvater war Unternehmer und Ende des 19. Jahrhunderts führender nationalliberaler Politiker in Sachsen; der Vater baute die Papierfabrik im Erzgebirge zur größten privaten in Deutschland aus und sorgte sozial vorbildlich für seine Beschäftigten. Günther ist das achte von neun Kindern. Nach dem Abitur macht er seine erste große Expedition zu einem Onkel, einem früheren Kolonialbeamten in Deutsch-Südwestafrika; als einer der Ersten durchquert er die Kalahari-Wüste im Automobil. Nach abgeschlossenem Zoologiestudium arbeitet Niethammer in Museen in Berlin und Bonn und ist erst 29 Jahre alt, als er den ersten Band seines Standardwerks publiziert. 1937 wird er Kustos im Zoologischen Museum Bonn und tritt der NSDAP bei. Sein Vorgesetzter ist hoch erfreut.
Danach drängt es Niethammer zur Elite der Wehrmacht, zur Luftwaffe. Doch mit über 30 Jahren ist er zu alt dafür. Er wird abgelehnt. Er weiß, als Angehöriger der Wehrmacht könnte er im Gefolge des deutschen Vormarschs Expeditionen in die besetzten Gebiete unternehmen. Über den "Umweg" Auschwitz sollte ihm genau das gelingen: Niethammer wird schließlich bei der SS-Forschungsgesellschaft "Ahnenerbe" von Heinrich Himmler landen. Sie hat die Aufgabe, Beweise für die "germanische Rasse" zu finden. Sie lässt Menschenversuche durchführen. Sie hat Geld und Macht.
Die Karriere läuft über Wien: Niethammers Mentor, Parteigenosse und NS-Günstling Hans Kummerlöwe, ist von Hitler "Im Namen des Deutschen Volkes" zum Ersten Direktor aller Wiener Museen ernannt worden. Er hievt den ehrgeizigen Vogelkundler auf den Job des Kustos der Ornithologie im Naturhistorischen Museum Wien (NHM). Am 1. April 1940 tritt Niethammer hier an. Mit seiner Frau Ruth und vier Kindern bezieht er ein fürstliches Domizil in der Blaasstraße 33 in Wien-Döbling. Die jüdische Besitzerin Rudolfine Liatscheff, geborene Grünspan, hatte ihre Parkvilla verlassen müssen (heute Sitz der Libyschen Botschaft, Anm.).
Niethammer forscht zum Thema "Welche Brutvögel Österreichs sind neu für Deutschland?". Doch er will mehr. Abermals meldet er sich zur Luftwaffe, wird wieder abgelehnt und tritt jetzt in die Waffen- SS ein. Beim Prozess in Polen 1947 wird er angeben: "Bei der Waffen-SS wurde ich ohne mein Wissen gemeldet durch meinen Vorgesetzten, den Direktor des Museums in Wien."
Doch auch Direktor Kummerlöwe versucht nach dem Krieg, vieles vergessen zu machen. Er ändert die Schreibweise seines Namens auf Kumerloeve - angeblich aus rein genealogischen Gründen.
Im September bekommt Niethammer den Stellungsbefehl, am 16. Oktober 1940 trifft er im Konzentrationslager Auschwitz ein. Er macht Dienst in der SS-Wachmannschaft am Haupttor des Lagers, über dessen Eingang der zynische Schriftzug "Arbeit macht frei" angebracht ist. Dem Gefängnisseelsorger in polnischer Haft wird
Niethammer Jahre später erzählen, es habe ausgereicht, "einen Moment dort zu verweilen, um dieses große Verbrechen zu begreifen".
Erkundung der Fauna im KZ
Nach einem halben Jahr am Tor bittet Niethammer den KZ-Kommandanten Rudolf Höß um eine neue Aufgabe. Höß gestattet ihm nun die Erkundung der Fauna in KZ und Umgebung sowie die Lieferung von Vogelbälgen an das KZ-Museum und das NHM Wien. Am 9. Juni erlässt Höß einen "Kommandantursonderbefehl". Demnach darf an den vielen nahen Fischteichen, an denen die SS bis dahin offensichtlich der Entspannung gefrönt hat, ab sofort niemand mehr baden und angeln. Höß: "Lediglich die von mir beauftragten SS-Mann Günther Niethammer (und) SS-Strm. Ernst Merzinger haben die Genehmigung, Vögel und Raubzeug abzuschießen."
Das "Raubzeug" ist Wildbret für die SS-Belegschaft des Lagers. Im Niethammer-Nachlass finden sich später genaue Zahlen und Einnahmen aus der Jägerei. KZ-Kommandant Höß bekommt seine Wildenten geschenkt. Einmal soll Niethammer sogar mit Höß persönlich auf die Pirsch gegangen sein; dessen elfjähriger Sohn Klaus darf ihn öfter begleiten.
Insgesamt versorgt der arbeitswütige Vogelkundler und -jäger mehr als 40 Angehörige der Lagerelite mit Wildbret. Zu seinen Kunden zählen die größten Verbrecher im KZ Auschwitz, etwa der Wiener Maximilian Grabner, der gefürchtete Chef der Politischen Abteilung. Auch SS-Mann Merzinger, der Niethammer assistiert, ist Österreicher.
Das Areal des Lagers umfasst 40 Quadratkilometer. Es liegt abseits der Haupteisenbahnlinie: eine Landschaft zwischen Weichsel und Soła, mit Sümpfen, Wiesen, Feldern und Birkenwäldchen - und ein Refugium für Zugvögel. Niethammer findet viele. "Seltsamerweise fehlt hier die Nachtigall", schreibt er in seinem Auschwitz-Text, und man kann es dem von Shakespeare in "Romeo und Julia" verewigten Vogel nicht verdenken, dass er hier nicht singen will.
Höß sagt "Jawoll"
Während Niethammer durch die Auen streift, wird in Berlin im Juni 1941 geplant, in Auschwitz "Vernichtungsmöglichkeiten einzurichten". Die IG- Farben will große Geldmittel zur Verfügung stellen. Höß sagt später im Kriegsverbrecher-Tribunal in Nürnberg aus, er habe zu diesen Plänen nur "Jawoll" sagen können.
"Der Pirol. Bereits am 29. Mai fand ich ein Nest mit einem Ei auf einer Eiche, die erst ganz kleine Blättchen hatte", schreibt Niethammer. Am selben Tag trifft ein Ärzteteam in Auschwitz ein, um kranke Häftlinge zu selektieren. 575 Menschen werden daraufhin in einer Gaskammer mit Kohlenmonoxid ermordet.
Am 18. Juli werden einige Hundert sowjetische Kriegsgefangene durch das Lagertor getrieben. An diesem Tag sieht Niethammer eine "Häherfamilie mit zahlreichen Jungen, welche die Eltern anbettelten". Niethammer schießt den Altvogel und ein Junges ab "in dem Augenblick, als die Fütterung im Gange war".
Ende August 1941 kommt der Organisator der Vernichtung, Adolf Eichmann, ins Lager und erörtert mit Höß den Bau und die Mittel zum Töten. Man einigt sich auf den Einsatz von Zyklon B. Das Flaschengas der ersten Versuche -Kohlenmonoxid - erscheint den Massenmördern zu teuer.
Mit dem Besuch Eichmanns in Ausschwitz enden die Streifzüge Niethammers. "Bis Ende August 1941 hatte ich Gelegenheit, die Umgebung von Auschwitz kennen zu lernen und dabei besonders auf die Vogelwelt zu achten", schreibt er in seinem Aufsatz.
Niethammer versieht vermutlich wieder Dienst am Lagereingang. Am 3. September 1941 werden einige Hundert schwerkranke Häftlinge und Russen von der SS in einen Bunker getrieben und "probevergast". Am 16. September 1941 wird die alte Leichenkammer in Auschwitz mit der Ermordung 900 sowjetischer Kriegsgefangener als Gaskammer "eingeweiht". Einige Tage später treibt man 400 alte Juden aus der Slowakei über die Lagerstraße in die Gaskammern. Gestapo-Chef Grabner lässt einen Lkw-Motor laufen, um die Schreie der Menschen zu übertönen.
Niethammers Karrieresprung
Die Lagerleitung beginnt in Birkenau Bauernhäuser abzureißen, den Boden zu planieren und ein großes Gelände für ein neues Barackenlager und einen neuen Schienenstrang freizumachen. Im Frühjahr 1942 setzt die Massenvernichtung in großem Stil ein. Juden aus allen Teilen Europas, Roma und Sinti und andere nach Ansicht der Nazis "wertlose Menschen" werden in Zügen direkt nach Birkenau gebracht, an der Rampe selektiert, in die nahegelegenen Fabriken der IG-Farben oder ins Gas geschickt. In der Nähe der Fischteiche, die Niethammer so interessierten , müssen Häftlinge Bodenunebenheiten mit Asche auffüllen.
Am 15. Oktober 1941 gelingt Niethammer der entscheidende Karrieresprung. Er wird zum Oberkommando der Wehrmacht versetzt, arbeitet nun für die Wehrmacht als Zoologe im besetzten Griechenland und auf Kreta und kehrt im Jahr 1942 noch einmal für zwei Monate in das KZ Auschwitz zurück. Warum er das tut, ist unbekannt. Laut Unterlagen aus Niethammers Nachlass schießt er im September und Oktober 1942 100 Enten für Höß' Haushalt. In diesen Monaten kommt die aus Oberösterreich stammende KZ-Aufseherin Maria Mandl* aus dem KZ Ravensbrück nach Auschwitz. Sie wird als Oberaufseherin im Frauenlager Gefangene für den Tod in der Gaskammer bestimmen; sie gründet auch das Mädchenorchester von Auschwitz, das während der Appelle und Hinrichtungen Musik spielen muss. Das Konzentrationslager ist ein Vernichtungslager. Während Niethammer das zweite Mal in Auschwitz weilt, werden in Birkenau 103.000 Leichen ausgegraben und verbrannt, weil sie das Grundwasser verunreinigten. Mit bloßen Händen müssen Häftlinge die Überreste ihrer Schicksalsgenossen aus dem Boden buddeln. Nach Berichten Überlebender hat es "bestialisch gestunken".
Von all dem hat der Vogelkundler nie gesprochen. Nach dem Zwischenstopp dockt der Ornithologe bei Heinrich Himmlers Forschungsgemeinschaft "Deutsches Ahnenerbe" und dessen "Sven-HedinInstitut für Expeditionen" an, das auf Schloss Mittersill in Salzburg residiert. Die Wiener Historikerin Barbara Staudinger hat Dokumente entdeckt, wonach Niethammer selbst zeitweise im Schloss wohnte. Von hier aus bewirbt er sich Ende 1943 um einen fulminanten Sonderauftrag: die "Erforschung des griechischen Olymp". Niethammers Begründung: Auf dem Olymp könnten Großsäuger wie Hirsch oder Bär "eine eigene, noch unbekannte Rasse ausgebildet" haben. Partisanen auf dem Olymp verhindern die Expedition, im "Ahnenerbe" wird überlegt, den einsatzfreudigen Zoologen für die Schlangengiftgewinnung nach Bulgarien oder das Einfangen von Pyrenäenpferden nach Spanien zu kommandieren. Mitte 1944 wird er zum SS-Obersturmführer befördert, ist dann bei der Dienststelle "Reichsarzt SS" im Einsatz, schließlich im adriatischen Küstenland. Als Infanterist kämpft er bis zum letzten Kriegstag, dem 8. Mai 1945, in Sachsen.
Die Alliierten fahnden nach ehemaligem KZ-Personal, Niethammer taucht unter. Er trägt eine SS-Tätowierung, die er sich später herausschneiden lassen wird. Bei der Befreiung von Auschwitz hat man zudem im Panzerschrank des KZ-Kommandanten einen Aufsatz über Vögel gefunden, mit einer Dankeswidmung Niethammers an Höß.
"Fühle mich als Deutscher, nicht aber persönlich schuldig"
Anfang 1946 stellt er sich den Briten. Ein Bonner Museumskollege hatte bei den Briten vorgefühlt und vage ausverhandelt, Niethammer werde überprüft und danach entlassen. Doch Niethammer wird an Polen ausgeliefert. In einem Prozess gegen SS-Bewacher von Auschwitz wird er 1948 zu acht Jahren Haft und nach Intervention zu drei Jahren Gefängnis verurteilt. Urteilsbegründung: Die Waffen-SS hat Beihilfe zu Verbrechen geleistet. Niethammer hatte ausgesagt, er sei immer nur am Wachturm gestanden und mit Häftlingen nie in Berührung gekommen. Dem Gefängnispfarrer klagte er, er fühle sich als Deutscher für die Verbrechen, nicht aber persönlich schuldig.
Im November 1949 ist er wieder frei. 1950 kehrt Günther Niethammer an seine alte Wirkungsstätte im Bonner Zoologischen Museum zurück. 1967 wird er zum Präsidenten der honorigen Deutschen Ornithologischen Gesellschaft gewählt. Einigen Kollegen ist Niethammers Einsatz in Auschwitz bekannt, "doch das wurde vertuscht -wahrscheinlich, weil sie selbst belastet waren" sagt der Bonner Ornithologe Rainer Hutterer. Er arbeitet Niethammers Nachlass auf. Darin finden sich auch private Briefe aus Auschwitz. Hat er einmal über das Grauen im Lager geschrieben, zumindest etwas angedeutet? Hutterer: "Nein, Niethammer hat das totgeschwiegen."
Die Nachkriegskarriere des Vogelforschers verläuft steil. Im Zuge von ausgedehnten Forschungsreisen sammelt er auf allen Kontinenten Zigtausende Vogelbälge und publiziert regelmäßig. Ornithologische Gesellschaften zahlreicher Länder verleihen ihm die Ehrenmitgliedschaft. Vögel wie die angolanische Lerche Mirafra angolensis niethammeri tragen seinen Namen.
Auf der Rückkehr von einer Jagd stirbt Günther Niethammer im Jänner 1974. Es gibt überschwängliche Nachrufe. Die Deutsche Ornithologische Gesellschaft rühmt die Lauterkeit seines Wesens, seine Aufrichtigkeit und feinste Höflichkeit. Kein Wort über Auschwitz.
Niethammer bleibt lange Zeit eine Koryphäe
Dabei muss Niethammer gewusst haben, dass er dieses Leben nur auf Zeit führte. Die Vergangenheit ist ihm auf den Fersen. Wenige Jahre vor seinem Tod sucht der Widerstandskämpfer und Auschwitz-Überlebende Hermann Langbein den SS-Vogelsammler auf. Der Ornithologe versucht zunächst, einem Gespräch auszuweichen, muss sich dann aber doch stellen und beteuert, vom Schicksal der Lagerinsassen habe er zwar gewusst, doch "war es unmöglich, etwas dagegen zu tun". Er habe versucht, Häftlingen Brot und Tabak zukommen lassen. Langbein ist der Erste, der über Niethammers Geschichte schreibt ("Menschen in Auschwitz", Wien 1972).
Für Studenten und Experten der Vogelkunde bleibt Niethammer lange Zeit eine Koryphäe - und er ist es für manche bis heute.
Hat sich bei dem Aufsatz "Beobachtungen über die Vogelwelt in Auschwitz" und der fett gedruckten Zeile "Zur Zeit bei der Waffen-SS" niemand etwas gedacht? Vielleicht doch. Es war der rechtsextreme AULA-Verlag, der das Niethammer'sche "Handbuch der deutschen Vogelkunde" im Jahr 1999 neu auflegte.
Es gab immer Gerüchte, sagt Ornithologin Anita Gamauf im Naturhistorischen Museum Wien, doch erst seit einigen Jahren wisse man mehr. Die Fachwelt, für die genaues Beobachtung zum Handwerk zählt, hat auf die Auschwitz-Geschichte von Niethammer nie hinschauen wollen. Niethammer selbst hatte zu Hermann Langbein gesagt, er habe Vögel nur dort beobachtet, wo keine Gefangenen zu sehen waren.
*) Die unveröffentlichte Untersuchung Christiane Rothländer: "Österreicher und Österreicherinnen in der Konzentrationslager-SS Auschwitz-Birkenau" dokumentiert nach einer DÖW-Vorstudie erstmals Namen, Herkunft und SS-Karriere von 163 Österreichern