Tarek Leitner: Meine Zuseher*innen sind keine Sehenden

ORF-Anchorman Tarek Leitner über das Gendern in der gesprochenen Sprache.

Drucken

Schriftgröße

„Herr Leitner, reduzieren Sie mich doch nicht auf einen Schluckauf“, schrieb mir neulich ein Zuseher. Ich dachte zuerst, er meint das launig. Aber übers Gendern lässt sich selten launig diskutieren. Jedenfalls mir passiert das nie. Schon gar nicht, seit ich zuweilen das Binnen-I in der „Zeit im Bild“ ausspreche. Das bezeichnete jener Zuseher mit „Schluckauf“. Er meinte natürlich einen „stimmlosen glottalen Plosiv“, einen Stimmritzenverschlusslaut. Den muss man nicht kennen. Ich tat es auch nicht. Aber ich meine, es ist die einzig konsequente Form, den Ansprüchen gendergerechter Sprache nachzukommen.

Mit Sprache habe ich täglich zu tun, wenn auch kaum theoretisch. In den Nachrichten geht es vielmehr darum, damit Geschichten zu erzählen, die das Leben täglich schreibt. Oft sind sie komplex und sollen doch leicht verständlich vermittelt werden. Und seit einiger Zeit haben wir auch Genderbeauftragte. Sie sind ganz zufrieden mit mir, das Publikum weniger. Der Herr, der sich auf einen Schluckauf reduziert sieht, ist nicht allein.

E-Mails zu meiner Aussprache bekam ich manche in der Vergangenheit. Nicht viele, ich habe ja eine deutliche Aussprache. Ab und zu ging mir ein (mir) nicht geläufiger Sportler holprig über die Lippen. Ich weiß, das ist keine Kleinigkeit. Die Emotionen, die die anschließend vermittelte Sportkunde begleiteten, waren oft sehr groß. Ich kann damit gut umgehen. Seit es das generische Maskulinum nicht mehr gibt, ist das schwieriger. Die Emotionen sind deutlich größer.

Das generische Maskulinum zielte nicht auf das biologische Geschlecht ab. Es benannte eine Gruppe Menschen unterschiedlichen Geschlechts ganz „generell“. „Ärzte“, zum Beispiel, konnten vor zwei Jahrzehnten auch Frauen sein. Und da konnte man eine Geschichte noch folgendermaßen erzählen: „Bei einem Autounfall des Vaters wird dessen Kind am Beifahrersitz schwer verletzt und anschließend ins Spital gebracht. Der diensthabende Arzt bekommt am OP-Tisch einen Schwächeanfall, weil er sieht, es ist sein eigenes Kind.“

Sollten Sie jetzt über den Sinn dieser kurzen Schilderung nachdenken, haben Sie Genderkompetenz, würden Genderbeauftragte sagen. Das ist ein Fall von „generischem Maskulinum“. Der „diensthabende Arzt“ ist Unfallchirurgin und damit die Mutter. In dieser grammatikalischen Form sind die Frauen „mitgemeint“. Aber die Diskussion darüber ist wohl durch und beendet. So kann man eine Geschichte, nicht nur im Fernsehen, nicht mehr erzählen. Mit dem „Mitgemeintsein“ will ich daher hier gar nicht erst anfangen.

Für die geschriebene Sprache haben wir mittlerweile eine ganze Reihe von Möglichkeiten gefunden, um alle Geschlechter kenntlich zu machen. Je nach weltanschaulicher Herkunft oder Linie des Blattes werden Sternchen und Underlines, Schräg- und Bindestriche, Binnen-I und Hochstellungen verwendet. Warum diese Sonderzeichen, die uns die gute alte Schreibmaschinentastatur seit Jahrzehnten bietet, einmal gewisse Menschen in eine Gruppe miteinschließen und dann wieder nicht, erschließt sich mir nicht immer. In einiger Zeit werden wir aber gewiss auf einen gemeinsamen Modus übereingekommen sein. Beim Sprechen sind wir noch nicht so weit. Viele meinen ja, Sonderzeichen könne man nicht aussprechen. Das ist nicht falsch. Aber hören kann man sie schon, sage ich. Mein E-Mail-Schreiber, der sich dabei auf einen Schluckauf reduziert sieht, bürgt dafür. Allerdings, er kritisiert das sehr aufgeregt. Und ich würde es doch so gerne allen Zusehenden recht machen.

Allen Zusehenden? An den Unis hat man das erste Partizip (zum Beispiel „die Zusehenden“) sehr früh als gendergerecht erkannt. Wer seither an der Uni inskribierte, gehörte gleich den Studierenden an. Das wiegt die Betreffenden oft in falscher Sicherheit. Auch ich war in meiner Studienzeit vielfach kein Studierender. Aber ich hatte auch nicht ständig Punkte zu sammeln. Und wer dieser Tage mit Mund-Nasen-Schutz am Skilift wartet, gehört daher auch nicht zu den Skifahrenden. Das ist man erst auf der Piste, Skifahrer*in allerdings schon zuvor.

Ich verstehe die Zusehenden, wenn sie den faulen Kompromiss kritisieren, über das erste Partizip zu einer gendergerechten Sprache zu kommen. Denn bereits wenn sie sich nach der „Zeit im Bild“ an ihre Computer setzen, um mir zu schreiben, sind sie keine Sehenden mehr. Da sind sie Teil unserer Zuseherschaft. Oder unserer Zuseherinnenschaft?

„Belegschaft“ wird oft als Beispiel ins Treffen geführt, um geschlechtsspezifische Bezeichnungen wie „Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter“ zu umgehen. „Belegschaft“ ist weniger umständlich. Das strafft den Text. Aber zuweilen straft es auch den Text. Denn zuletzt, bei starker Lawinengefahr, hat natürlich nicht „viel Bergrettung“ unter Einsatz ihres Lebens leichtsinnige Tourengeher aus der Bergnot geholt. Es waren vielmehr viele „Bergretterinnen und Bergretter“. Die einzelnen Menschen waren risikobereit und altruistisch, die Belegschaft ist das nicht. Wir müssen die Menschen in ihrer Funktion bezeichnen. Nur dann haben wir sie glücklich oder leidend vor unserem geistigen Auge.

Ich verstehe die Zuseherschaft, wenn sie den faulen Kompromiss kritisiert, über die Verwendung von generalisierenden Substantiven zu einer gendergerechten Sprache zu kommen. Es geht doch um jeden einzelnen Zuseher und jede einzelne Zuseherin.

Nicht, wenn sie für eine gemeinsame Sache kämpfen. Im „geeinten“ Kampf, wie man so sagt, ist man stärker. Und geeint ist man auch in einem gemeinsamen Begriff. Das geschah zuletzt beispielsweise, als sich in den USA Betroffene von rassistischer Polizeigewalt zusammenschlossen. Sie traten unter dem Namen „Black Lives Matter“ auf. Das war ein starkes Zeichen. Seine Stärke resultiert aus einem einigenden „schwarz“. Es stellt in diesem Fall eben gerade nicht auf alle Schattierungen ab, die es in einer ethnisch vielfältigen Gesellschaft gibt. Würde die der Bewegung namensgebende Parole so sehr differenziert, dass auch jede noch so unterschiedliche Identität aufgezählt ist, zerfiele das Anliegen in kleinste partikulare Interessen. Die Betroffenen haben es dadurch nicht leichter, die Gegner schon.

Es gibt zwar viele ethnische Identitäten, aber doch nur zwei Geschlechter, die wir sprachlich sichtbar machen wollen, könnte man entgegnen. Das mache die Sache doch nicht so schwierig. Das stimmt allerdings nicht. Bei Stellenanzeigen etwa sind wir mit dem Hinweis „m/w/d“ (für männlich, weiblich, divers) bereits ein paar Schritte weiter. Warum sollte der Anspruch dieser Differenzierung nicht auch für die gesprochene Sprache erhoben werden?

Mit dem biologischen Geschlecht verhält es sich wie mit den Ethnien. Wo die Differenzierung eine „geeinte“ Gruppe zerlegt, ist sie im besten Fall sinnlos, zumeist aber nachteilig. Das scheint mir das wichtigste Argument zu sein, eine einigende Form für eine Gruppe Menschen zu finden, abseits von erstem Partizip oder einem abstrakten Sammelbegriff. Dort, wo es im Kontext gerade nicht auf geschlechtliche Unterschiede ankommt, braucht es einen generellen Begriff. Nehmen wir nach dem generischen Maskulinum jetzt also das generische Femininum, ausschließlich die weibliche Form. Die Männer können ja „mitgemeint“ sein. Nach Hunderten von Jahren kann es auch mal umgekehrt sein. Mir würde das nichts ausmachen. – Zuweilen auf Sendung probiert, viel Kritik.

Ich verstehe die männlichen Zuseherinnen, wenn sie den Kompromiss kritisieren, über die Verwendung der ausschließlich weiblichen Form zu einer gendergerechten Sprache zu kommen. Das braucht sich eine Minderheit (und statistisch sind das die Männer) im Jahr 2021 doch nicht gefallen zu lassen. Scheint so, als führe kein Weg daran vorbei, doch beide Geschlechter konsequent zu nennen. Ich habe das ein paar Mal für unsere Sendungstexte ausprobiert. Eine Diplomarbeit lässt sich so abgeben. Vor der Präsentation eines solchen Textes bin ich dann doch zurückgeschreckt. Er war in der gesprochenen Sprache kaum konsumierbar. „Einfach formulieren!“, habe ich noch im Ohr. Das ruft man jungen Leuten zu, die im Journalismus beginnen wollen. Heute oft mit der Einschränkung: „Dort, wo es halt möglich ist.“ Manchmal sollte gelegentlich eben doch zusätzlich die weibliche Form verwendet werden. Das finde ich unbefriedigend. Nur dort, wo ein bisserl Zeit bleibt oder wo es den Textfluss nicht allzu sehr stört, die weibliche Form einzusetzen, sonst aber beim generischen Maskulinum zu bleiben, da bekommt Gendern die Attitüde eines manierierten Luxus.

Ich verstehe die Zuseherinnen und Zuseher, wenn sie den faulen Kompromiss kritisieren, über die gelegentliche Verwendung beider Formen zu einer gendergerechten Sprache zu kommen. Sie stellen auch zu Recht die Frage, wie viele Personen eigentlich drei Bergretter und Bergretterinnen sind. Etwa sechs? Und wie viel sind  100.000 Österreicherinnen und Österreicher. Doppelt so viele?

Wer allerdings von „100.000 Österreich*innen“ liest, stellt sich diese Frage nicht. Der Sinn eines solchen Satzteils ist klar. Wir lesen mittlerweile geradezu darüber hinweg. Und ich finde, solcherart schriftlich Formuliertes lässt sich jetzt auch aussprechen. Wir würden uns rasch daran gewöhnen – und dem vermeintlichen Schluckauf die Bedeutung geben, dabei alle Identitäten der benannten Gruppe zu umfassen. Wir haben dann wieder einen einzigen (ausgesprochenen) Begriff für alle.

Neulich stieß ich in unserem Archiv auf eine alte „Zeit im Bild“-Ausgabe, moderiert von Annemarie Berté. So gut wie nichts sprechen meine Kolleg*innen und ich auf Sendung heute noch so aus wie sie. Wir Österreicher_/*Innen haben uns gut an neue Wörter und andere Betonungen gewöhnt. Wir können uns dafür auch etwas Zeit geben. Wenn wir für die Umstellung auf ein ausgesprochenes Sonderzeichen (also auf den glottalen Plosiv) nur so lange brauchen, wie zwischen Berté und mir liegt, dann – finde ich – geht es ja ganz schön schnell.