Haben Behörden in Österreich ein Terrornetzwerk übersehen?
Von Daniela Breščaković und Clemens Neuhold
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Am 1. März 2024 macht sich ein 19-jähriger Niederösterreicher namens Hasan E. über Istanbul auf den Weg nach Mekka in Saudi-Arabien. Sein Handy hat er dabei. Den Laptop lässt er zurück in der Wohnung seines älteren Bruders in Ebergassing, Bezirk Bruck an der Leitha. Ein 4000-Einwohner-Ort, 30 Kilometer südlich von Wien, wo man einander kennt – und wo auch die Geschichte der Familie E. nicht vergessen ist. Der Vater von Hasan E. wurde vor Jahren verhaftet, nachdem er einen Mann absichtlich mit dem Auto angefahren hatte. Er war überzeugt, dieser habe eine Affäre mit seiner Frau gehabt. Bis dahin führte Hasan E. ein unauffälliges Leben: Schule, Fußball im örtlichen Verein. Doch im Oktober 2019 verschwand die Familie aus Ebergassing. Offiziell zogen sie in die Türkei, tatsächlich aber blieb Hasan E. bis Juni 2023 in Wien. Erst kurz vor seiner Reise nach Mekka kehrte er nach Ebergassing zurück.
Wenige Tage nach seiner Abreise schickt er seinem Bruder eine Abschiedsnachricht. „Es tut mir leid, aber ich hatte keine Wahl“, ist darin zu lesen. Er schreibt über den toten Vater, der nach seiner Haft an Krebs erkrankt und gestorben ist. Am Ende heißt es: „Also sei nicht traurig. Ich warte insallah mit Baba dort auf dich.“ Am 11. März 2024 sticht Hasan E. laut Saudischen Behörden bei der Al-Haram-Moschee in Mekka auf fünf Menschen ein und verletzt sie teilweise lebensgefährlich. Als vermeintlicher Anhänger des „Islamischen Staates“ (IS) hat ihn ein krudes Motiv an diesen Ort geführt. Der junge Mann überlebt und sitzt seither im saudischen Kerker.
Die unbekannte Freundschaft zu Beran A.
Ein Attentat, durchgeführt von einem offenbar turboradikalisierten Niederösterreicher an der heiligsten Stätte des Islam. Die hochbrisante Information gelangt im März 2024 an die Behörden in Österreich. Wie sind sie damit umgegangen? Haben Sie alles getan, um sein Netzwerk in Österreich zu finden? Immerhin soll Hasan E. – wie erst jetzt bekannt wurde – mit dem 20-jährigen Beran A. aus Ternitz, Niederösterreich, und einer weiteren Person eine parallele Anschlagswelle auch in Dubai und Istanbul geplant haben. Beran A. verließ der Mut am Tatort in Dubai. Er wurde aber dann zum Hauptverdächtigen hinter dem vereitelten Anschlagsplan auf das Taylor-Swift-Konzert im August 2024. Für beide gilt die Unschuldsvermutung. Oder sind ähnliche Fehler passiert wie vor dem Wiener Attentat am 2. November 2020, bei dem IS-Anhänger Kujtim F. vier Menschen erschoss?
Nach der Wien-Terrornacht stellte die eigens gegründete Zerbes-Kommission gravierende Behördenfehler im Verfassungsschutz (Land und Bund) fest. Entscheidende Informationen aus dem Ausland seien im Vorfeld des Attentats falsch eingeschätzt, nicht oder zu spät übermittelt worden.
Im Fall Hasan E. wirft aber dieses Mal vor allem die Arbeit der Justiz Fragen auf. Nach der Information aus Saudi-Arabien über den Anschlag eröffnet die Staatsanwaltschaft Korneuburg (StA) ein Inlandsverfahren wegen versuchten Mordes und terroristischer Vereinigung. Sie liegt dem Wohnort des Verdächtigen am nächsten und ist deswegen laut Gesetz selbst bei Terrorfällen zuständig.
Der uninteressante Laptop
Am 10. April 2024 sagt der Bruder von Hasan E. vor dem niederösterreichischen Landesamt für Staatsschutz und Extremismusbekämpfung aus. Er erzählt, dass Hasan ein „Problemkind“, „aggressiv“ und ständig am „Auszucken“ gewesen sein soll. Und er erwähnt Hasans Laptop, der noch in seiner Wohnung sei. Ermittler des Staatsschutzes gehen den Hinweisen nach und finden bei einer „freiwilligen Nachschau“ das Gerät in der Wohnung. Sie unterrichten die Staatsanwaltschaft Korneuburg von der Existenz des Laptops. Doch diese sieht keine Notwendigkeit, das Notebook sicherzustellen. Ohne richterliche Genehmigung muss die DSN das Gerät belassen, wo es ist. Warum veranlasste Korneuburg nicht alle denkbaren Schritte, um ins Netzwerk des Mekka-Attentäters einzudringen? Ob über Laptops, Hausdurchsuchungen oder vertiefte Ermittlungen zu möglichen Mitwissern?
Der Anwalt von Beran A., Werner Tomanek, ist überzeugt, die Ermittler seien bei Hasan E. von einem „Lone Wolf“ ausgegangen. Also von einem Einzeltäter, der mit niemandem in Kontakt stand. Er wirft den Behörden als Teil seiner Verteidigungslinie ein „Multiorganversagen“ vor.
Der Staatsschutz wehrt sich: Unmittelbar nach der Information über den in Saudi-Arabien festgenommenen Österreicher seien 21 Zeugen befragt worden. Der Fokus lag auf Familienmitgliedern. Die Befragten hätten übereinstimmend zu Protokoll gegeben, keinerlei Radikalisierungstendenzen wahrgenommen zu haben. Die Staatsanwaltschaft habe dann keine weiteren Ermittlungsmaßnahmen angeordnet. „Ohne diese Anordnung war es der Kriminalpolizei rechtlich untersagt, weitere – eigenständige – Ermittlungsmaßnahmen zu setzen.“
Die Staatsanwaltschaft Korneuburg kommentiert ihre damaligen Entscheidungen nicht und verweist auf die Staatsanwaltschaft Wien. Dort laufen die Ermittlungsstränge rund um Beran A. und Hasan E. neuerdings zusammen. Doch die Wiener Kollegen winken ab: „Zu Vorgängen, die noch in die Zuständigkeit der StA Korneuburg fielen, kann sich die Staatsanwaltschaft Wien nicht äußern.“
Für die Wiener war der Laptop von Hasan E. dann doch interessant. Bisher fanden sich keine verdächtigen Spuren darauf. Sein Handy befindet sich in Mekka in Saudi-Arabien. Der Staatsschutz soll bereits sieben Mal um die Übergabe angefragt haben – ohne Erfolg. Ohne das Handy von Hassan E. haben die Behörden auf die Messengerkommunikation rechtlich keinen Zugriff.
„Radikaler als Netzwerk von Kujtim F.“
Der Extremismusexperte und Gründer der Deradikalisierungsstelle Derad, Moussa al-Hassan Diaw, kennt das Umfeld von Hasan E. Er betreut Beran A., einen weiteren Verdächtigen rund um die Swift-Attentatspläne sowie ein Mädchen, das von seinen Eltern zur Deradikalisierung geschickt wurde. Angesprochen auf die „Lone-Wolf“-Theorie sagt er: „Wir arbeiten seit zehn Jahren mit radikalisierten Jugendlichen. In 99,9 Prozent der Fälle sind sie eng vernetzt mit anderen und tauschen sich ständig übers Handy aus.“
Zur der Zeit nach dem Mekka-Attentat sagt Diaw: „Sollte das Umfeld von Hasan E. nicht ganz genau durchleuchtet worden sein, macht mir das große Sorge.“ Die teilweise erst 14- bis 16-jährigen Jugendlichen aus Niederösterreich seien „noch extremer“ als die Gruppe aus Wien-Liesing rund um Kujtim F., dem Wien-Attentäter von 2020, die Diaw ebenfalls kannte. Sie würden dem IS-Gedankengut anhängen und eine „ungewöhnlich hohe Bereitschaft erkennen lassen, anderen Menschen Leid zuzufügen“. Diaw spricht von einem Netzwerk aus einer undefinierten Zahl an Personen mit Verbindungen nach Oberösterreich und Wien. Auch zu Syrern und Tschetschenen, die sich im Sommer 2024 einen Bandenkrieg auf Wiens Straßen lieferten, gebe es Verbindungen. Für Diaw ist klar: Die islamistische Bedrohung steigt weiter. Bei Workshops in Schulklassen seien zwei bis drei Jugendliche, die gedanklich radikalisiert wirken, mittlerweile die Norm.
Und wie geht es mit Hasan E. weiter? Droht ihm die Enthauptung in Saudi-Arabien? Oder gibt es Bemühungen, ihn zurückzuholen? Das Außenamt gibt dazu keine Auskunft. Auch nicht auf die Frage, warum man nach außen hin so tat, als hätte es das spektakuläre Mekka-Attentat eines Niederösterreichers im März 2024 nie gegeben.
Daniela Breščaković
ist seit April 2024 Innenpolitik-Redakteurin bei profil. War davor bei der „Kleinen Zeitung“.
Clemens Neuhold
Seit 2015 Allrounder in der profil-Innenpolitik. Davor Wiener Zeitung, Migrantenmagazin biber, Kurier-Wirtschaft. Leidenschaftliches Interesse am Einwanderungsland Österreich.