Teuerung in Vorarlberg: „Herr Bürgermeister, kannst du den Döner billiger machen?“
Von Wolfgang Paterno
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Der Tod und das eigene Häuschen, darum dreht sich hier so gut wie alles. Keine Ausgabe der „Vorarlberger Nachrichten“, in der sich nicht seitenweise Sterbeanzeigen und Meldungen aus der Rubrik „Grund und Boden“ fänden. „Grund und Boden“ klärt darüber auf, welche Liegenschaften zu welchem Preis den Besitzer gewechselt haben. In Bezau wurde ein Gebäude auf 1681 Quadratmetern Grundstücksfläche um 1,08 Millionen Euro verkauft; in Bregenz wechselte ein 885 Quadratmeter großes Besitztum um 3,6 Millionen Euro den Besitzer. Man wähnt sich in den Hollywood Hills mit ihren Fantastillionen-Immo-Preisen – und nicht gerade in Lustenau, wo unlängst ein 2574 Quadratmeter großes Anwesen für 1,16 Millionen Euro veräußert wurde.
Lustenau, 24.000 Einwohner, größte Marktgemeinde Österreichs, darf man sich als eine Region am Rhein mit dahingewürfelten Häusern und unüberschaubarem Straßengeviert vorstellen. Als eine Art Märklin-Eisenbahn-Landschaft im Großformat, in der sogar eine Dampflokomotive entlang des Rheins zuckelt, in deren Riedlandschaft sich Hasen, Rehe, Graureiher, Störche tummeln. „Ghörig“ ist hier oft zu hören, was synonym mit „richtig“, „anständig“, „passend“ verwendet wird.
Eine Arbeit kann genauso ghörig sein wie eine Pizza und die nagelscherengepflegten Gärten im Schatten großer Eigenheime, die wirken, als hätte sie ein Kunstmaler mit Feinhaarpinsel aufs Papierblatt gezaubert.
Galoppierende Teuerung
Die politische Farbenlehre ist in Lustenau äußerst überschaubar. Die FPÖ regierte ab 1960 über Jahrzehnte; mit Kurt Fischer eroberte 2010 erstmals wieder ein Kandidat der ÖVP das Bürgermeisteramt; bei der Gemeinderatswahl 2025 wird Fischer nicht mehr antreten. In Lustenau stürzte die ÖVP bei der vergangenen Europawahl um mehr als zehn Prozentpunkte auf 26 Prozent ab, die FPÖ steigerte ihren Stimmenanteil um 9,6 Prozentpunkte auf 26,1 Prozent. Mitte Oktober stehen Landtagswahlen an. 2019 erreichte die ÖVP noch 43,5 Prozent, laut jüngsten Umfragen muss die Partei massive Verluste befürchten.
Nicht alles ist derzeit ghörig in Lustenau. Man muss etliche Menschen fragen und ein paar Umwege machen, um eine Ahnung davon zu bekommen, wie die galoppierende Teuerung auch in Lustenau ihre Spuren hinterlässt, im selbst ernannten „Musterländle“ etwas ins Rutschen gekommen ist. Gerne spricht hier niemand darüber, dass am Monatsende wenig Geld auf dem Konto ist. Lieber lächelt man das finanzielle Handicap weg.
Die Teuerung macht auch vor Lustenau selbst nicht halt. Die Stromkosten 2022 haben sich für die rund 100 Gemeindegebäude auf 2,5 Millionen Euro gesteigert, also mehr als verdoppelt, während die Gaskosten um 160 Prozent auf 840.000 Euro anstiegen.
Es gibt hier nicht wenige, die behaupten, sie würden da leben, wo andere Urlaub machen. Wenn Österreich die Insel der Seligen ist, dann ist Vorarlberg, so das klassische Alemannen-Klischee, der Vorhof zum Paradies.
Doch wenden wir uns lieber der Wirklichkeit zu, wo Sachzwänge walten, das Gespenst der Inflation zu Hause ist und die Preise für Einfamilienhäuser und Eigentumswohnungen durch die Decke gehen. Das Rheintal zählt neben den Städten Salzburg und Innsbruck zu Österreichs kostspieligsten Plätzen. Die Teuerung ist in Lustenau für viele im Großen wie im Kleinen schmerzlich spürbar.
Sortimente zum Schnäppchenpreis
Wenn man es genauer wissen will, kann man zum Beispiel Alexander Schranz treffen. Schranz, 44, ein grau melierter, freundlicher Mann, der in kehligem Tirolerisch spricht, stammt aus St. Anton, seit einigen Jahren lebt er in Lustenau; 2018 übernahm er das Kinder-Secondhandgeschäft „Pinocchio“ in der Staldenstraße, das er inzwischen zur Radwerkstatt und zum Skiverleih erweitert hat. Als Unternehmer ordnet er sein Geschäftsgebaren in Plus und Minus. Seine aktuelle Bilanz? Düster. „Es gibt nichts zum Schönreden“, sagt er. „Ich wollte mit dem Geschäft nie reich werden. Durch den allgemeinen Preisanstieg ist es inzwischen aber fast unmöglich, im Einzelhandel zu überleben.“ Die Geschichten, die Schranz dann erzählt, sind inzwischen typische Teuerungsgeschichten, wie sie ihm seit einiger Zeit begegnen. „Eine ältere Dame brachte uns kürzlich auf Kommission ihr Schaukelpferd vom Dachboden, das sie als Kind geliebt hatte. Die damit verbundenen Emotionen sind unbezahlbar, dennoch war sie auf das Geld angewiesen.“ Oder jene Jungmutter, die knapp eine Stunde Autofahrt auf sich nahm, um ihr Guthaben von 18 Euro im „Pinocchio“ einzulösen. Die Secondhand-Jeans um sechs Euro seien vor der Teuerungswelle bei vielen Kundinnen und Kunden einfach so in den Einkaufskorb gewandert. Kost’ nichts, nehmen wir mit – so habe das früher geheißen. „Heute kauft der Großteil der Kundschaft nur mehr das, was wirklich benötigt wird.“ Noch nie hätten Schranz auch derart viele Anfragen von in wirtschaftliche Misere geratenen Einzelhandelsgeschäften erreicht, die dem Secondhandladen ganze Sortimente zum Schnäppchenpreis anbieten.
Es ist ein hübscher Zufall, dass am heutigen „Pinocchio“-Standort einst Lustenaus erste, 1877 gegründete Konsumgenossenschaft stand. „Lustenau war damals ein armes Bauerndorf mit nur wenig Industrie und Handwerkstätten“, resümiert ein Zeitungsbericht aus dem Jahr 1957 zum 80-jährigen Jubiläum des frühen Verbrauchervereins: „Besonders die kinderreichen Familien führten einen schweren Daseinskampf.“ 1957 eröffnete in der Staldenstraße auch Vorarlbergs erster „Selbstbedienungsladen“, ein Vorläufer moderner Lebensmitteldiscounter. Sach- und Geldspenden aus dem „Pinocchio“ gehen heute an fünf Familien, die sich um sogenannte „Krisenkinder“ kümmern. „Vom Land, im Land“, sagt Schranz. Die Geschichten, die er erzählt, hängen auf vielen Ebenen zusammen. „Wir sind fünf in unserer Familie. Gasthausbesuche waren früher selbstverständlich, inzwischen aber nicht mehr. Heute zahlen wir 150 Euro allein schon für Pizza und Getränke.“
Hast nix, bist nix
Weiter in die Hannes-Grabher-Siedlung, 149 Wohnungen, davon sechs Eigentumswohnungen. Die fünf gemeinnützigen Wohnblöcke in der gleichnamigen Straße kennt man in der Gemeinde unter zwei Namen, einem freundlichen und einem bösartigen. „Banane“ heißt sie für die einen, nach der baulichen Krümmung des Haupttracks, realisiert 1995 vom weit über die Grenzen Vorarlbergs hinaus bekannten Architekturbüro Baumschlager Eberle. Andere nennen die Siedlung schlicht „Ghetto“. Michael Hämmerle, ein gemütlicher Mittzwanziger, arbeitet hier als Sozialarbeiter für „Kaplan Bonetti“, eine Institution für Menschen, die unter anderem von Wohnungslosigkeit bedroht sind. 2023 betreute die Einrichtung 1500 Haushalte – im Vergleich zum Jahr davor bedeutet dies eine Steigerung um mehr als 25 Prozent. Hämmerle hat zum Gespräch die Bewohnerin Katrien Vanderstappen mitgebracht, 42, eine gebürtige Belgierin, die seit neun Jahren in Vorarlberg lebt. „Eine Seebrünzlerin“, lacht sie. Sie hat sich in Lustenau schnell eingelebt.
Später wird Vanderstappen nicht mehr viel zum Lachen haben. „Hast nix, bist nix“, sagt sie. Sie erzählt davon, wie ihre zwei Buben und ihre Tochter zuweilen als „Ghetto-Kinder“ verunglimpft würden; wie die 120 Euro Selbstbehalt für den Schulcomputer den Kühlschrank leerten, wie sehr sie der Sager von Bundeskanzler Nehammer vom leistbaren Hamburger bei McDonald’s für jedes Kind geärgert habe. „Wie um alles in der Welt sollen wir uns eine Wohnung auf diesem überhitzten Markt leisten?“ Hämmerle assistiert: „Die althergebrachte Erzählung, wonach jeder und jede in Vorarlberg sich durch Fleiß irgendwann ein eigenes Haus oder eine Wohnung erarbeiten könne, bröckelt.“
Aus der Traum vom fescht Spära, vom eisernen Sparen, das irgendwann zum Eigenheim führt. Ein ghöriger Vorarlberger, so heißt es, sei brav und fleißig. Schaffa, schaffa, Hüsle bouo, das war einmal. Die althergebrachte Dreieinigkeit von Fleiß, Sparen und Hüslebouo ist nachhaltig erschüttert. In der Hannes-Grabher-Siedlung gibt es einen verwaisten Kindergarten, komplett eingerichtet und ausgestattet. Die umliegenden Anrainer wollen ihre Kinder nicht in das „Ghetto“ schicken.
In jeder Geschichte über Lustenau kommt die Grenze vor. Bürgermeister Kurt Fischer, 61, vergrübelte Stirn und zerknautschter Blick, steht am Ende der kleinen Lustenau-Reise auf der Wiesenrainbrücke ins Schweizerische Widnau und spricht über Schokolade und Nudeln. Über den einst schwachen und heute starken Franken, darüber, wie sich Lustenau einst in der Schweiz mit Genuss- und Lebensmitteln eindeckte – und wie die Grenznähe zum Hochpreisland Schweiz heute Druck auf die lokalen Preise ausübt. „Über viele Jahre fanden die Preissteigerungen durchaus schmerzhaft, aber schleichend statt. Jetzt kommen sie mit dem Hammer.“ Oder mit dem Döner. Kürzlich wurde an Fischer von türkischstämmigen Buben eine spezielle Bitte herangetragen: „Kurt, kannst du den Döner billiger machen?“
Wolfgang Paterno
ist seit 2005 profil-Redakteur.