Gutachter: Tod von Psychiatrie-Patientin beschäftigt Gerichte

Eine junge Psychiatrie-Patientin, die Großeltern und Nachbarn des sexuellen Missbrauchs beschuldigt hatte, starb im Mai 2011 im künstlichen Tiefschlaf. Die Causa beschäftigt bis heute die Gerichte.

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Der Fall der schwer depressiven 16-jährigen Barbara Y. zog sich jahrelang durch die Medien. Nach mehreren Suizidversuchen wurde die junge Frau im Herbst 2010 in die Linzer Nervenklinik Wagner-Jauregg (heute Neuromed Campus Linz) aufgenommen. Dort erzählte sie einer Betreuerin, sie sei als Kind von ihren Grazer Großeltern und deren Nachbarn jahrelang sexuell missbraucht und vergewaltigt worden. Die Großeltern und zwei weitere Personen jenseits der 70, darunter ein pensionierter Richter, saßen aufgrund des schwerwiegenden Verdachts fünfeinhalb Wochen in U-Haft. Einer davon laboriert bis heute an den Folgen eines durch die Verdächtigungen erlittenen Herzinfarkts. Ein anderer kämpft um Schadenersatz für die zu Unrecht verhängte Haft.

Das psychisch kranke Mädchen hatte die Missbrauchsvorwürfe derart realitätsnah beschrieben, dass man sie für wahr halten konnte. Erst die dreitägige gezielte Befragung durch die gerichtspsychiatrische Sachverständige Heidi Kastner, Primarärztin am Neuromed Campus Linz, förderte Widersprüche in den Aussagen des Mädchens zutage, welche den Schluss nahelegten, dass es sich bei den Missbrauchsvorwürfen um intensiv erlebte Vergewaltigungsfantasien des Mädchens handeln musste. Daraufhin wurden die Beschuldigten enthaftet, aber das Drama ging in die nächste Runde.

Nachdem sich der Gesundheitszustand der Patientin trotz monatelangen stationären Aufenthalts nicht gebessert hatte, versuchten es die Ärzte mit einer von Fachleuten als "obskur" bezeichneten, riskanten Methode: In Absprache mit der Mutter versetzten sie die Patientin in einen sogenannten "therapeutischen Tiefschlaf", in der Hoffnung, das geplagte Gehirn des Mädchens werde sich dadurch erholen. Zu diesem Zweck verabreichten sie der Patientin das Narkosemittel Methohexital, ein Barbiturat. Dieses wird nach Schädel-Hirn-Traumen zur Herabsetzung des Hirndrucks eingesetzt, gilt aber als problematisch, weil es Leberzellen schädigt. Gleichzeitig wird Methohexital von der Leber abgebaut.

Anfang Mai 2011 starb Barbara Y. im Wagner-Jauregg-Spital -laut Gutachten an akutem Leberversagen und schwerer, durch Sauerstoffmangel bedingter Schädigung des Gehirns, verursacht durch die Überdosierung des Narkosemittels Methohexital (Handelsname Brietal).

Konträre Gutachten

Die Staatsanwaltschaft Wels, die den Tod der jungen Frau im Vorverfahren untersuchte, bestellte zur Klärung des Sachverhalts insgesamt drei gerichtlich beeidete Sachverständige als Gutachter - einen aus der Gerichtsmedizin, einen aus dem Bereich Anästhesie/Intensivmedizin und auf Anregung des Anästhesisten einen Sachverständigen aus dem Bereich Pharmakologie und Toxikologie. Die drei Sachverständigen beurteilten den Fall konträr: Der Gerichtsmediziner und der Pharmakologe kritisierten, dass die gewählte Dosis des Barbiturats zu hoch und die Behandlung "nicht lege artis" gewesen sei: Man habe auf die Verschlechterung des Zustands der Patientin, erkennbar an einem systematischen Anstieg der Leberwerte, nicht mit einem sofortigen Abbruch der höchst umstrittenen Therapie reagiert. Das Medikament Methohexital, so der pharmakologisch-toxikologische Gutachter Gerald Zernig aus Hall in Tirol, sei für einen sogenannten "therapeutischen Tiefschlaf" gar nicht zugelassen. Der Sachverständige wies zwar darauf hin, dass eine solche "off label"-Verwendung wohl möglich, aber die dabei notwendige besondere ärztliche Vorsicht nicht praktiziert worden sei. Anders sah es der Anästhesist: "Die Dosierung war in meinen Augen nicht zu hoch." Seiner Ansicht nach hätten die Ärzte auch das richtige Medikament verwendet. Man müsse eben in der Intensivmedizin "immer das Gesamtbild betrachten, nicht einzelne Werte". Einer der leitenden Ärzte des Wagner-Jauregg-Spitals sagte als Zeuge vor Gericht, der Tod des Mädchens sei "schicksalhaft" gewesen. Im Mai 2014 wurden die beiden angeklagten Anästhesisten des Wagner-Jauregg-Spitals vom Vorwurfs der fahrlässigen Tötung unter besonders gefährlichen Verhältnissen freigesprochen. Begründung des Richters: Die Gutachten hätten einander widersprochen, die behaupteten ärztlichen Fehler seien nicht schlüssig dargelegt worden. Im Zweifel sei daher zugunsten der Angeklagten zu entscheiden gewesen. Da der Staatsanwalt auf Rechtsmittel verzichtete, war das Urteil rechtskräftig.

Die Patientin tot, die Ärzte freigesprochen - das Medieninteresse verflog. Doch die Causa ging noch in eine weitere Runde. Denn jetzt klagte die Krankenhausholding Gespag einen der Gutachter, den Pharmakologen und Toxikologen Gerald Zernig aus Hall in Tirol, auf Ersatz der ihr entstandenen Anwaltskosten in Höhe von 15.207,36 Euro. Begründung: Erst sein - "unrichtiges" - Gutachten habe das Strafverfahren gegen die beiden Ärzte ins Rollen gebracht.

In einem diesbezüglichen Schreiben des Linzer Rechtsvertreters der Gespag, Gerald W. Huber, heißt es:

"Ausschließlich durch Ihre im Vorverfahren erstatteten inhaltlich unrichtigen und Fachkompetenz überschreitenden Gutachten ON 53 und ON 63 kam es zur Anklage gegen die beiden Oberärzte. Hätten Sie ein inhaltlich richtiges Gutachten erstattet, jedenfalls jedoch Ihre Fachkompetenz gewahrt und sich nicht dazu verstiegen, die intensivmedizinische Behandlung kommentieren zu wollen, wäre es nicht zur Anklage gekommen."

An anderer Stelle des Schreibens droht der Linzer Anwalt mit weiteren Forderungen:

"Die ausschließlich durch Ihre inkompetenten Gutachten verursachte Anklage gegen die Dienstnehmer unserer Mandantschaft führte auch zu Dienstausfällen der beiden Oberärzte (...) Die diesbezüglichen Schadenersatzansprüche (Entgeltfortzahlung) unserer Mandantschaft gegen Sie persönlich bleiben vorbehalten."

"Gefährliche Therapie"

Zernig wies die Forderungen und Drohungen des Gespag-Anwalts zurück. Gegenüber profil wertet er diese als "Versuch eines finanziell mächtigen Krankenhausträgers und deren durch das Gutachten belastete Ärzte, einen kritischen Sachverständigen mundtot zu machen - darin sind die mit dem Fall befassten Sachverständigenkollegen mit mir einer Meinung." Zernig ist auch Mitglied eines deutsch-österreichisch-schweizerischen Fach-Arbeitskreises, in dem die anonymisierte Causa Barbara Y. zur Sprache kam. Einige der Fachkollegen unterstützen Zernigs Engagement, darunter der Pharmakologe und Biochemiker Christoph Hiemke von der Universität Mainz: "Der Vorwurf, Zernig habe sich klinische Kompetenz angemaßt, ist unzutreffend. Er ist Arzt, assoziiert mit einer psychiatrischen Klinik, ein idealer Gutachter." Hiemke äußert zwar Verständnis für den "schwierigen Fall" Barbara Y., bezeichnet die angewandte Methode aber als "gefährliche Therapie, für deren Wirksamkeit es keinen Beleg gibt. Wohin das führt, hat man gesehen."

Das Bezirksgericht Hall in Tirol, vor dem der Rechtsstreit verhandelt wurde, wies die Klage der Gespag ab, nachdem ein Gutachten des gerichtlich beeideten Sachverständigen Markus Paulmichl Zernigs Einschätzung bestätigt hatte. Der Krankenhauskonzern ging in Berufung. Nachdem die Causa ans Bezirksgericht Hall rückverwiesen wurde, stützte ein weiterer vom Gericht beauftragter Sachverständiger, der Augsburger Anästhesist und Intensivmediziner Helmuth Forst, Punkt für Punkt Zernigs Position. Forst zitierte in seiner zehnseitigen Expertise unter anderem aus einem Gutachten der Salzburger Gerichtsmediziner Fabio Monticelli und Edith Tutsch-Bauer. Darin heißt es, in postmortalen Blutproben der Barbara Y. seien "Konzentrationen von Methohexital (gefunden worden), die um ein Vielfaches über dem in der Fachliteratur als therapeutisch betrachteten Konzentationsbereich lagen."

Daraufhin zog die Gespag ihre Klage gegen den Sachverständigen Zernig im heurigen Frühjahr "aus prozessökonomischen Gründen" zurück. Die Spitalsholding will dazu nicht mehr Stellung nehmen, für sie ist der Fall erledigt.

Aber ein Unbehagen bleibt, weil viele Fragen offen sind. Zum Beispiel die: Woher kam die tiefe traumatische Belastungsstörung, die das Mädchen dazu veranlasst hatte, etliche Selbstmordversuche zu verüben? Warum konnten Grazer Gerichtsmediziner bei dem Mädchen Spuren sexueller Gewalt finden (einer der Beschuldigten zeigte deshalb Grazer Gerichtsmediziner wegen Verleumdung an), Salzburger Gerichtsmediziner aber nicht?