Politische Trümmermänner: Revitalisierung von Parteien
Am Wahlabend sprachen Kommentatoren von einem "Tsunami", der die Freien Demokraten weggespült hatte. Seit 1949 war die FDP im deutschen Bundestag vertreten, davon über 50 Jahre als Regierungspartei. Am 22. September 2013 verpasste sie mit 4,8 Prozent den Wiedereinzug ins Parlament. Alle Mandate waren weg. Wolfgang Kubicki, Landesparteichef von Schleswig-Holstein, sprach von einem "Kollaps". Der einzige Ausweg: "Ein kompletter Neuanfang." Auf einem Parteitag im Dezember wurde der damals erst 34-jährige Christian Lindner zum Chef gekürt. Wolfgang Kubicki wurde dessen Stellvertreter und beschrieb die gemeinsame Aufgabe so: "Christian Lindner und ich sind jetzt sozusagen die Trümmerfrauen der FDP."
In Ost- und Westdeutschland wurden Trümmerfrauen nach dem Zweiten Weltkrieg glorifiziert. In der DDR errichtete man ihnen Denkmäler, in der BRD erhielten sie das Bundesverdienstkreuz. Gelingt Lindner bei der Wahl 2017 der Wiedereinzug in den Bundestag - wofür die Umfragen derzeit sprechen -, sind ihm Glanz und Gloria sicher. Der FDP-Chef wäre dann das Role-Model für eine Reihe österreichischer Spitzenpolitiker, die ihre Partei nach einem Totalschaden wieder in Fahrt bringen wollen.
Die SPÖ wird dank der Verbindungen zu Gewerkschaft, Pensionisten und Gemeinde Wien wohl nie untergehen.
Da wäre etwa Gernot Blümel, 34, Obmann der Wiener Volkspartei, die sich bei der Gemeinderatswahl 2015 auf 9,2 Prozent vereinstelligte. Oder Walter Steidl, 58, Vorsitzender der SPÖ Salzburg, dessen Partei erst den Überblick über die Landesfinanzen verlor, dann die vorgezogenen Landtagswahlen und schließlich den Landeshauptmannposten und alle anderen Regierungsämter dazu. Und in Klagenfurt bestimmt seit einigen Wochen Gernot Darmann, 41, die Geschicke der Kärntner Freiheitlichen, die nach einer Skandalserie und der Beinahe-Pleite des Bundeslands bei der Landtagswahl 2013 fast 30 Prozentpunkte verloren - ein Negativrekord in der Zweiten Republik.
Nach einer existenzbedrohenden Wahlniederlage muss eine politische Organisation zunächst eine fundamentale Frage klären: Hat es überhaupt einen Sinn weiterzumachen? Für jüngere Gruppierungen gilt: Solange irgendwo irgendetwas zuckt, wird nicht aufgegeben. Auch das von Jörg Haider 2005 von der FPÖ abgespaltene BZÖ existiert tatsächlich noch immer, und zwar in Person von Johanna Trodt-Limpl. Die Villacher Bezirksschulinspektorin ist Bundeschefin, Landesobfrau in Kärnten und eine von zwei BZÖ-Abgeordneten im Kärntner Landtag. Das Ende rückt freilich näher. Der Todestag des BZÖ wird mit dem Datum der nächsten Kärntner Landtagswahl zusammenfallen, jener des Team Stronach mit dem Nationalratswahltermin. Mangels politischer Masse und Tiefenstruktur in den Ländern sind beide Parteien nicht wiederbelebbar.
Doch nicht nur junge Bewegungen sind nach Niederlagen gefährdet. Mit der bürgerlichen Democrazia Cristiana in Italien ging in den 1990er-Jahren eine europäische Traditionspartei unter. Derartige Disruptionen werden ÖVP und SPÖ wohl erspart bleiben. Die - wenn auch längst nicht mehr glorreiche - Existenz der Volkspartei ist durch Wirtschaft, Bauern und Bundesländer gesichert. Die SPÖ wird dank der Verbindungen zu Gewerkschaft, Pensionisten und Gemeinde Wien wohl nie untergehen. Es muss kein Segen sein, nicht sterben zu können. Bisweilen ist ein Schrecken ohne Ende das härtere Schicksal als ein Ende mit Schrecken.
Niederlagen bei Wahlen sind nie ein heilsamer Schock. In der Regel folgen Schuldzuweisungen, Fremd- und Selbstzerfleischung - gern auch öffentlich ausgetragen. Das Liberale Forum führte dies vor 15 Jahren exemplarisch vor, als Vertreter der Wiener Landesgruppe sich erst gegen Heide Schmidt erhoben, um sich anschließend gegenseitig auszuschalten. Aber immerhin: Dem LIF gelang es, ein Mindestmaß an Parteistruktur über die Zeit zu retten. Vor der Nationalratswahl 2013 verbündete man sich mit den NEOS, 2014 folgte die Fusion - politische Auferstehung durch Übernahme.
Unvermeidbare Folgen jedes Wahlschocks sind Hoffnungslosigkeit und Selbstzweifel mit quälenden Fragen: Wer sind wir? Was wollen wir? Hat uns überhaupt jemand lieb?
Wichtigste Aufgabe nach einem Totalschaden ist die Abwicklung der Vergangenheitsbewältigung. FDP-Chef Christian Lindner gestattete seiner Partei einige Monate an Trauerarbeit. Dann setzte er auf Symbolik. Der Name der Partei wurde von FDP auf "Freie Demokraten" geändert, die Parteifarbe von Gelb auf Magenta. "Eine beschädigte Marke" brauche einen "radikalen Neustart in der Darreichungsform", zitierte die Hamburger "Zeit" den neuen Chefwerber der Freien Demokraten. Was ihnen fehlte, war das Geld. Lindner richtete einen Solidarfonds ein, in den die verbliebenen Landesparteien einzahlen sollten, um die - wenn auch deutlich verkleinerte - Parteizentrale in Berlin zu erhalten.
Unvermeidbare Folgen jedes Wahlschocks sind Hoffnungslosigkeit und Selbstzweifel mit quälenden Fragen: Wer sind wir? Was wollen wir? Hat uns überhaupt jemand lieb? Beste Therapie sind ein neues Parteiprogramm und eine inhaltliche Neu-Ausrichtung. 1966 erreichte die ÖVP bei der Nationalratswahl die absolute Mehrheit. Die SPÖ büßte Prozente und Mandate ein. In der Folge wurde Bruno Kreisky neuer Parteivorsitzender. Vier Jahre später war er Bundeskanzler, nach einer - wie der Politikwissenschafter Anton Pelinka schrieb - "Kurskorrektur, die gerade in kulturpolitischen, aber auch wirtschaftspolitischen Fragen nur als Abschied vom Austromarxismus zu verstehen war".
Noch bunter trieb es Tony Blair in Großbritannien. Er machte in den 1990er-Jahren aus einer verstaubten Verlierertruppe "New Labour" und trat so marktwirtschaftlich auf, dass er in Londons Finanzzentrum bald mehr Anhänger hatte als in der eigenen Partei. Der aktuelle Labour-Chef Jeremy Corbyn setzt auf die gleiche Strategie wie Blair (Parteireform durch inhaltlichen Kurswechsel), aber mit umgekehrten Vorzeichen: Linksruck statt dem Weg in die Mitte.
Wunderwuzzis wie Blair werden einer Partei selten zwei Mal in einer Epoche geschenkt.
Corbyns Labour-Vorsitz ist das Experiment, ob das Comeback einer Partei überhaupt glücken kann, wenn der neue Chef schon leicht überwuzelt ist. Seit 1983 ist der heute 67-Jährige Mitglied im britischen Unterhaus. Geht es schief, haben Corbyn und seine Anhänger eine gute Ausrede. Vorgänger Ed Miliband war unverbraucht und erst 40 Jahre alt, als er 2010 Labour-Chef wurde. Bei der Wahl 2015 scheiterte er kläglich. Wunderwuzzis wie Blair werden einer Partei selten zwei Mal in einer Epoche geschenkt. Ohne sie ist das Wunder der politischen Auferstehung freilich nur erschwert möglich.
Da mit Ausnahme der NEOS neue politische Gruppierungen in Österreich Seltenheitswert haben, bekommen die traditionellen Parteien immer wieder eine Chance. Der Druck, diese auch zu nutzen, liegt auf den jeweiligen neuen Chefs. Der eine (Gernot Blümel) hat einen der unmöglichsten Politjobs des Landes freiwillig übernommen. Der zweite (Walter Steidl) versucht seit drei Jahren, seine Partei an die Opposition zu gewöhnen. Der dritte (Gernot Darmann) hat das Erbe von Jörg Haider angetreten.