Türkise Rede, Rote Widerreden
Als Ingrid Korosec am Freitagvormittag vor der großen Rede von Karl Nehammer im Publikum im ThirtyFive am Wienerberg Platz nimmt – zweite Reihe, erster Sitz –, ist sie schon seit sechs Stunden wach. Die Chefin des Seniorenbundes, 82 Jahre alt, Ikone der ÖVP, war schon beim Fitness-Training, hat gefrühstückt und über ihre Ansprüche an das Event gesprochen: Ihr Parteichef hält immerhin seine erste Ansprache „zur Zukunft der Nation“. Korosec hat hohe Erwartungen: Die Menschen bräuchten Sicherheit, findet sie. „Und die muss er jetzt vermitteln. Die große Aufgabe von Karl Nehammer wird es sein, den Menschen Mut zu machen.“
Korosec hat nicht nur an diesem Vormittag, sondern ganz grundsätzlich einiges erlebt: Sie war schon bei der allerersten Rede an die Nation dabei, die der damalige ÖVP-Chef Alois Mock 1983 hielt. Diese Ansprache gilt seinen Nachfolgern als Vorbild: Neun Mal haben die Obmänner danach gewechselt, und alle haben sich auf die eine oder andere Weise erklärt.
Nun also auch Nehammer. Nach monatelangem Krisenmanagement soll er sich und seine Vorstellungen für das Land skizzieren. 80 Minuten (etwas zu lang, befindet Korosec später) spricht er zu den 200 Gästen. Es geht offiziell gar nicht um die unmittelbare Zukunft, sondern um das Jahr 2030: Bis dahin soll das Arbeitslosengeld reformiert und die Grundsteuer für das erste Eigenheim gestrichen werden. Zumindest theoretisch – falls Nehammer da an der Macht und der Koalitionspartner einverstanden sein sollte. Die Ansprache ist auch eine Kampfansage an die Grünen. Sozialleistungen für Ausländer sollen unter Umständen gekürzt werden, findet Nehammer, und Verbrennungsmotoren erlaubt bleiben. Zudem sind die Verhandlungen zur Arbeitslosengeld-Reform mit den Grünen erst im Dezember gescheitert. Nehammer spricht zwar konsequent von Österreicherinnen und Österreichern, lässt sich aber immer wieder über das Thema Gendern aus.
In vielen Punkten bleibt Nehammer vage, Kinderbetreuung ab dem ersten Jahr soll zum Beispiel bis 2030 „ausgebaut und möglich gemacht werden“. Wie genau und in welchem Umfang, sagt er nicht dazu. Nur manchmal wird er konkreter, er fordert unter anderem das Fach Programmieren ab der fünften Schulstufe.
INGRID KOROSEC
Die ÖVP-Ikone war schon bei der ersten Rede an die Nation im Jahr 1983 dabei, damals hielt sie ÖVP-Chef Alois Mock.
Korosec hat sich im Vorfeld auch einige Gedanken darüber gemacht, was sie von ihrem Parteichef hören möchte. Zu dem Gespräch mit profil hat sie eine Liste mit Themen mitgenommen, die ihrer Meinung nach zentral sind: Aufklärung über die Auswirkungen von Teilzeit-Arbeit auf die Pension und eine flexiblere Vollzeit-Arbeit, zum Beispiel. Wer in der Pension arbeitet, solle auch keine Pensionsbeiträge zahlen. „Und das Gesundheitssystem muss aus einer Hand finanziert werden.“
Bei manchen Passagen in Nehammers Rede ist Korosec daher besonders aufmerksam. Etwa wenn Nehammer über das Gesundheitssystem spricht. „Wir werden 800 zusätzliche Kassenstellen bis 2030 brauchen“, sagt er. Für Medizinstudierende sollte es nach ihrem Abschluss eine Arbeitspflicht geben. Pflegerinnen und Pfleger aus dem Ausland sollten in allen Bundesländern dieselben Voraussetzungen haben, um dort arbeiten zu können. Arbeitsmarkt, Pensionen, Gesundheit – das ist der Fokus, den Korosec erwartet hatte.
Und alle anderen, für die Nehammers Rede wohl auch gedacht war? Das Thema, das die Bevölkerung derzeit am meisten beschäftigt, ist eindeutig: Teuerung. Maßnahmen gegen die explodierenden Preise stehen in der großen profil-Monatsumfrage ganz oben auf der Wunschliste an die Regierung.
Auch die Siegerin steht klar fest: die FPÖ. Ihre Kurve weist seit über einem Jahr ständig nach oben, nun durchbricht sie die 30-Prozent-Marke und kommt auf 31 Prozent. Der Abstand zu den anderen Parteien wird größer, die SPÖ folgt mittlerweile deutlich abgeschlagen mit 25, die ÖVP mit 22 Prozent.
Symptomatische Umfragewerte
Diese Umfrage ist symptomatisch für das Dauertief der SPÖ: Seit Monaten sackt sie langsam, aber stetig ab. Die Zeiten sind vorbei, als sie unangefochten auf dem ersten Platz lag und Parteichefin Pamela Rendi-Wagner sich hoffnungsfroh als künftige erste gewählte Bundeskanzlerin Österreichs bezeichnete. Seit Herbst geht es bergab: Schwächeln in Umfragen, bei den Wahlen in Tirol und Niederösterreich auf Platz drei hinter die FPÖ gefallen, in Kärnten fast zweistellig verloren. Im April droht in Salzburg der nächste Abstieg auf den dritten Platz. Auch deshalb hat das interne Rumoren eine Lautstärke erreicht, die einem Donnergrollen ähnelt. Restdisziplin war gestern, mittlerweile werfen sich Bundespartei und Burgenland Vorwürfe und Kontoauszüge um die Ohren.
Der jahrelange Konflikt zwischen Rendi-Wagner und ihrem ewigen Widersacher Hans Peter Doskozil steuert auf den Showdown zu: Kommende Woche tagt das Parteipräsidium, ein Sonderparteitag nach der Salzburg-Wahl ist realistisch – auf dem Rendi-Wagner und Doskozil in einer Kampfabstimmung um den Parteivorsitz rittern. Von der Papierform her ein offenes Rennen mit leichten Vorteilen für Rendi-Wagner: Doskozil hat fix die kleinen Delegationen der SPÖ Burgenland und SPÖ Salzburg hinter sich, Rendi-Wagner die drei Mal so große SPÖ Wien, die Frauenorganisation und weite Teile der Gewerkschaft. Um den Rest der Delegationen wird gebuhlt, Mehrheiten verschieben sich gerade: Niederösterreich etwa fährt unter dem neuen Parteichef Sven Hergovich einen scharfen Kurs und positioniert sich inhaltlich kantig, von Gratis-Kindergärten über Heizpreis-Stopp bis zur Jobgarantie für Langzeitarbeitslose, die Regierungsgespräche mit der ÖVP sind gestoppt. In Hergovichs Strategie-Team sitzen Doskozil-Vertraute, die SPÖ Niederösterreich hat auf einem Parteitag gleich viele Stimmen wie die SPÖ Wien. Andere Bundesländer wanken.
RENDI-WAGNER MIT WIDERSACHER DOSKOZIL
In der SPÖ steuert der jahrelange Konflikt auf den Showdown zu.
Manch roten Altvorderen erinnert die Situation an die berühmte SPÖ-Kampfabstimmung im Jahr 1967: Die dominante ÖVP hatte die absolute Mehrheit, die SPÖ stritt in der Opposition, Parteichef Bruno Pittermann weigert sich, den Sessel zu räumen, schon gar nicht für den aufstrebenden Bruno Kreisky. Pitter-mann forcierte den erdigen Arbeiterfunktionär Hans Czettel, der von Wien und der Gewerkschaft unterstützt wurde. Die anderen acht Landesorganisationen stellen sich nach und nach hinter den Modernisierer und polyglotten Sir Kreisky, der als Sieger aus der Auseinandersetzung hervorging. Und die SPÖ als strahlende Nummer eins in die erfolgreichste Phase ihrer Geschichte und zu absoluten Mehrheiten führte.
Dieses Happy-End des innerparteilichen Zwists scheint diesmal ausgeschlossen. Zu tief sind die Gräben. Rendi-Wagner ist angeschlagen, Doskozil hat sich durch seine Dauerattacken interne Feinde gemacht. „Was haben uns diese öffentlichen Diskussionen gebracht? Nichts, weder dir, Hans Peter, noch mir“, wusch Rendi-Wagner Doskozil schon im März 2019 den Kopf – vor vier Jahren. Schon damals kritisierte Doskozil die Parteichefin heftig öffentlich. Und dieses Drama in Rot wiederholt sich seither in ewiger Dauerschleife, kein Versuch eines Machtworts änderte etwas daran, nicht einmal die Mitgliederbefragung im Frühjahr 2020, die Rendi-Wagner deutlich gewann.
Nur die Töne zwischen den beiden Kontrahenten werden immer rauer – bis zur Eskalation auf offener Bühne, ob die SPÖ Burgenland ihre Mitgliedsbeiträge an den Bund überweist (sagt Burgenland) oder nicht (sagt Wien). Rendi-Wagner zieht betont kämpferisch in die Auseinandersetzung und attackiert ihre Widersacher persönlich. Ungewöhnlich, meist begeben Parteivorsitzende sich nicht selbst auf derartige Schlachtfelder, sondern schicken Adlaten.
Kopf-an-Kopf-Rennen in Kanzlerfrage
Ohne Blessuren geht es nicht ab: In der Kanzlerfrage liegen Amtsinhaber Karl Nehammer und FPÖ-Chef Herbert Kickl gleichauf, Rendi-Wagner dahinter. Und in der SPÖ halten sie viele für beschädigt: Hannes Bauer, Präsident des Pensionistenverbandes in Niederösterreich, formuliert das so: „Ein Wechsel ist angebracht. Pamela Rendi-Wagner ist nicht schlecht, sie ist aber verbrannt.“
Nehammers „Rede zur Zukunft der Nation“ mag sich offiziell an das Jahr 2030 orientieren, zuvor wird aber 2024 interessant – dann findet planmäßig die Nationalratswahl statt. Für viele in der ÖVP war es also höchste Zeit, dass der Parteiobmann eine Grundsatzrede hielt. Die Funktionärinnen und Funktionäre sollen wissen, wofür er steht, genauso wie potenzielle Wähler.
Der Optimismus, den sich Korosec gewünscht hatte, kam allerdings erst zum Schluss. Dann wird Nehammer kurz pathetisch: „Österreich soll 2030 ein Land voller Möglichkeiten sein, für uns alle.“ Der Rest der Ansprache war zurückhaltender, auch im Tonfall. „Er war locker, so, wie ich ihn auch sonst erlebe“, sagt Korosec.
Gefragt nach dem besten Redner blickt sie weiter zurück in die Vergangenheit: Erhard Busek unter allen ÖVP-Chefs, Wolfgang Schüssel unter allen Bundeskanzlern. Korosec weiß allerdings aus Erfahrung, was nach den Ansprachen wichtig ist: „Es waren immer sehr gute Ansätze. Aber nach einer Zeit sind sie oft versandet.“ Man brauche Experten, Praktiker und Prozesse, um das Versprochene auch umzusetzen. Und natürlich auch die Macht, um zu gestalten.