„Es sind UNSERE Narben“

Tzipi Livni: „Es sind UNSERE Narben“

Mauthausen. Rede von Tzipi Livni am Jahrestag der Befreiung des Konzentrationslagers Mauthausen

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Ich bin heute in Begleitung meiner Familie hier.
Ich bin mit meinem Schwiegervater Moshe Spitzer hier, der von Mengele zum Leben verurteilt worden ist, Mengele hat entschieden dass er zur Tötungsmaschinerie der Nazis noch beitragen kann und hat ihn, seinen Vater und Brüder aus Auschwitz nach Mauthausen geschickt.
Es war hier in Mauthausen, am Tag der Befreiung, dass er seinen Vater das allerletzte Mal gesehen hat.
Ich bin auch mit meinen beiden Söhnen hier – Omri und Yuval – die in Israel geboren sind und in der israelischen Verteidigungsarmee gedient haben – der Armee des Jüdischen Staates, der nach dem Holocaust geschaffen worden ist.
Wir alle stehen heute hier für eine größere Familie – die Familie der Jüdischen Nation. Einer Familie, die viel kleiner geworden ist, nachdem sie sechs Millionen ihrer Töchter und Söhne auf europäischem Boden verloren hat.
Eine Familie die fähig war, ein neues Zuhause im Staat Israel zu schaffen, der Juden aus aller Welt aufgenommen hat.
Ein Zuhause das jene vereint hat, die vor dem Holocaust im Land Israel lebten und jene, die danach gekommen sind.
Einige von uns – wie meine Kinder und ich – sind in Israel geboren. Einige – wie meine Eltern – sind als Teil der Zionistischen Bewegung vor dem Holocaust nach Israel gekommen und einige kamen aus verschiedenen Teilen der Welt.
Unter ihnen waren die Überlebenden des Holocaust, sie sind mit Narben nach Israel gekommen. Die Narben auf ihrem Körper und in ihrer Seele sind nicht nur ihre Narben – es sind UNSERE Narben – die Narben jedes Angehörigen der Jüdischen Familie.
So wie eine Mutter ihr verlorenes Kind niemals vergisst, wird auch Israel seine Toten und den Holocaust nie vergessen, selbst lange nachdem die Überlebenden nicht mehr mit uns sein werden.
Die Überlebenden haben offene Wunden – wir alle haben unbeantwortete Fragen.
Bevor wir hierher kamen hat mein Schwiegervater mich gefragt, ob er Ihnen hier heute eine Frage stellen könne. Ich dachte, er würde fragen wollen „Warum?“, „Hat es eine Möglichkeit gegeben, die Katastrophe zu verhindern?“, „Wussten die Menschen, was in ihrem Hinterhof vor sich ging?“, „Wie konnten sie erlauben, dass es passierte?“. Das sind die Fragen die wir alle uns stellen – die nationalen Fragen.
Aber, Damen und Herren, diese standen nicht auf der Liste meines Schwiegervaters! Er möchte Sie nur fragen ob irgendjemand weiß, was mit seinem Vater geschehen ist.
Mein Schwiegervater, Herr Spitzer, der Enkel und Urenkel hat, steht im Alter von 85 Jahren heute hier und möchte nur wissen, wohin die Autos seinen Vater gebracht haben, der den Horror überlebt hatte.
Sehen Sie geschätzte Damen und Herren? Die Überlebenden können den Erinnerungen nicht entkommen und nicht den Fragen, die sie quälen. Sie könnten es wollen – aber sie schaffen es nicht.
Auch wir, die wir nicht hier waren, können und dürfen nicht vergessen. Die Nummern, die in Auschwitz auf den Arm eintätowiert worden sind, sind in unserer Seele eingraviert.
Als israelische Verantwortliche müssen wir an die nationalen Fragen denken – nicht um Antworten über die Vergangenheit zu bekommen sondern um Entscheidungen für die Zukunft zu treffen.
Ich erinnere mich an meinen ersten Besuch in Auschwitz. Ich war ein neues Mitglied der Knesseth (israelisches Parlament, Anm.) und ich konnte nicht anders, als mich zu fragen, ob ich, als eine Verantwortliche, damals unmittelbar in der Lage gewesen wäre, die beginnende Katastrophe zu erkennen – und ich weiß, dass jeder israelische Verantwortliche sich diese Frage stellt.
Ich erzähle Ihnen dies heute, damit Sie Israel besser verstehen. Es gibt jene, die Israel als starke Macht sehen – und das ist es. Aber für uns ist der Alptraum des Holocaust ein Teil von uns, aus dem heraus wir uns in eine sehr schwierige Wirklichkeit in einer Region bewegen, die unsere physische Existenz bei weitem nicht anerkennt.
Deshalb werden wir den Holocaust nicht vergessen. Die Erinnerungen sind nicht um der Überlebenden willen, sie sind für uns. Wir schicken unsere Kinder um die Konzentrationslager zu sehen und da, in den Lagern, hüllen sie sich in die israelische Flagge wie in den jüdischen Tallit, der für die letzten Gebete für jene war, die hier zu Asche geworden sind.
Damen und Herren,
Jahre nachdem der Davidstern – der Magen David – als gelber Fleck auf die Häftlingsuniformen genäht wurde, hat er sich in das Blau und Weiß des Magen David verwandelt, der auf den Flügeln der Israelischen Luftwaffenjets eingeprägt ist. Aber wir wollen und müssen uns an den gelben Fleck erinnern. Dieser gelbe Fleck bedeutet nicht mehr Schwäche, jetzt ist er eine Quelle von Stärke und Stolz.
Wir erinnern für Israel und wir erinnern für die ganze Welt. Wir werden die Welt das Unheil nicht vergessen lassen, das Menschen einer anderen Nation antun können, die unmenschliche Grausamkeit mit menschlichem Hass.
Es ist nicht für uns, dass wir die Welt nicht vergessen lassen wollen, sondern für die Zukunft der Menschheit. Die Lektion muss gelernt werden – nicht für die vergangenen Toten, sondern um in Zukunft Grausamkeit und Tod zu verhindern.
Die freie Welt muss dem Ausdruck „Niemals wieder“ praktischen Inhalt geben. Dieser praktische Inhalt muss einschließen, künftige Generationen gegen Rassismus und den Hass anderer zu erziehen – und er muss gegen Verantwortliche gerichtet sein, die von Hass und Genozid reden und gegen jene, die ihre eigenen Leute massakrieren.
Das ist UNSERE Verantwortung. Während ich heute hier bin, hat auch die israelische Regierung ein besonderes Kabinettstreffen auf dem Herzl-Berg, als Erinnerung an einen großen zionistischen Anführer, der hier in Wien geboren wurde und von einem Jüdischen Staat geträumt hat.
Ich bin heute als Justizministerin des Jüdischen Staates gekommen um zu sagen „Niemals wieder“.

Übersetzung aus dem Englischen: Marianne Enigl

+++ Es sollte ein wichtiger Tag für die Republik werden: Marianne Enigl über Befremdliches im neuen Umgang Österreichs mit dem Erinnerungsort Mauthausen. +++