Überraschende Wendung bei Prozess um Wiener Bandenkriege
Sechs Schüsse im Anton-Kummerer-Park in Brigittenau rissen im vergangenen Sommer eine Schneise der Angst durch Wien. Die Rede war von einem Bandenkrieg zwischen tschetschenischen und syrischen jungen Männern, mitten in Wien, der Stadt, die eigentlich für ihre Sicherheit bekannt ist. Was war genau los?
Der Weg zum Saal 401, der sich im vierten Stock des Wiener Landesgerichts befindet, ist länger als sonst. Um ins Landesgericht Wien hinein zu kommen, muss man zuerst durch eine Sicherheitsschranke. Normalerweise funktioniert dieser Securitycheck relativ fließend. Man gibt seine persönlichen Gegenstände durch einen Scanner und geht durch eine Sicherheitsschleuse: Nicht aber an diesem Montag. In der Eingangshalle stehen dutzende Besucher, Zeugen, Opfer oder Einberufene für das Geschworenengericht an. Viele von ihnen schaffen es erst über eine halbe Stunde nach Beginn des Gerichtsprozesses hinein. Eine Gruppe junger Männer soll sich in der Schlange vorgedrängelt haben, daraufhin kam es zu einer Rauferei, die Polizei wurde gerufen.
Wer hingegen nicht durch die Sicherheitsschranken musste, waren Emir K. und Schamil G. Um die beiden soll es im Saal 401 gehen. Emir K., 31, wird vorgeworfen, am 5. Juli 2024 im Anton-Kummerer-Park in Wien-Brigittenau auf eine Gruppe syrischer junger Männer mit einer Pistole, die in seinem Kofferraum war, geschossen zu haben. Sechs Schüsse fielen, glücklicherweise wurde niemand von einer Kugel getroffen, zwei junge Syrer, Ali A. und Ahmed A. wurden durch den Aufprall der Projektile leicht am Bein und an der Brust verletzt.
Die Schießerei zählte vergangenen Sommer zu einem der drei verhängnisvollen Konflikte zwischen Syrern und Tschetschenen. Die jungen Männer sollen sich mit schweren Waffen wie Messern, Macheten oder Pistolen bekämpft haben. Syrische Jugendliche sollen sich unter der Chiffre 505 versammelt, in Telegram-Chats mobilisiert haben. Die Rede war von einem Bandenkrieg. 19 Erwachsene, 23 junge Erwachsene und 15 Jugendliche wurden angezeigt. Tschetschenen versus 505-Syrer.
Dass es sich um fixe Banden handelte, stimmt allerdings nicht, das zeigen mittlerweile abgeschlossene Ermittlungen: „In Bezug auf den ‚Syrer – Tschetschenen’ Konflikt konnten einzelne Hierarchien und Organisationsgrade festgestellt werden. Nicht jedoch in einem Ausmaß um von ‚organisierter Kriminalität’ sprechen zu können“, heißt es etwa auf einer profil-Anfrage aus dem Bundeskriminalamt.
Trotz allem: Nicht schuldig?
Zurück in den vierten Stock des Wiener Straflandesgerichts. Der Vorwurf: Emir K. soll versucht haben, junge syrische Männer zu ermorden, Schamil G. soll ihm dabei geholfen haben. „Wenn Sie sich geständig zeigen, kann das zu einer Strafmilderung führen”, so der Richter zu den beiden.
Doch das tun sie nicht. Beide erwähnen immer wieder, dass sie nicht schuldig seien. Und das, obwohl zunächst alle Beweise gegen sie sprechen. Beide befanden sich an diesem Tag am Tatort. Der BMW von Emir K. wurde von den Opfern laut Zeugenaussage erkannt, die Ermittler fanden Spuren von Schmauch an Emirs Kleidung und auf seinem Lenkrad. Schamil G.s Bauchtasche und seine DNA-Spuren wurden im BMW identifiziert. Beide waren in der Nähe des Tatorts – zumindest laut der Ortung ihrer Handys, so steht es in der Anklageschrift.
Und trotzdem brachte der erste Prozesstag für die zwei Freunde auch Entlastendes.
In Bezug auf den ‚Syrer – Tschetschenen’ Konflikt konnten einzelne Hierarchien und Organisationsgrade festgestellt werden. Nicht jedoch in einem Ausmaß um von ‚organisierter Kriminalität’ sprechen zu können
auf profil-Anfrage
Der verhängnisvolle BMW
Als Erster nimmt Emir K., der Hauptangeklagte, gegenüber von den Richtern Platz. Es ist sein erstes Mal vor Gericht. Der gebürtige Tschetschene hatte bisher keine Vorstrafen, besuchte ein Gymnasium, machte eine Lehre in Mechatronik und war bis zu seiner Inhaftierung Referent für Technik und Projektmanager.
Auch ein Freund von Emir und Schamil erscheint beim Prozess – er setzt sich allerdings zu den Besuchern. Er kommt zu spät und wäre beinahe in eine Rauferei geraten, unten bei der Security Kontrolle: „Die Syrer haben Probleme gemacht.“ Er hat selbst einige Zeit im Gefängnis verbracht, „immer sind die Tschetschenen Schuld“, sagt er ironisch. Dass Emir K. auf die Syrer geschossen hat, kann er sich nicht vorstellen. „Er ist nicht einmal bei Rot über die Kreuzung gefahren.“
Trotzdem sprechen etwa die Schmauchspuren auf seinem Gewand und in seinem Auto gegen ihn. Emir K. erklärt den Richtern, er sei am Tag vor dem Vorfall im Park mit einem Freund nach Bratislava auf einen Schießstand gefahren. „Das belegen Whatsapp-Nachrichten“, fügt er hinzu. Der 31-Jährige interessiert sich schon länger für Waffen, hatte auch überlegt, sich als Polizist ausbilden zu lassen.
Vor der Schießerei im Park hätte Emir K. Schamil G. und andere Freunde im Allerheiligenpark im 20. Bezirk getroffen. Dort haben sie gequatscht, seien mit Emirs BMW rumgecruist, hätten sich bei der Tankstelle Snacks geholt. Danach soll Emir K. ins Fitnessstudio gefahren sein. Während seines Trainings wurde er von zwei seiner Freunde darum gebeten, in den Anton-Kummerer-Park zu fahren, der kleine Bruder seines Freundes hätte dort „Stress mit Syrern.“
Emir K. soll die beiden – laut seiner Darstellung mit zwei Schreckschusspistolen im Kofferraum – zum Park gefahren haben, er selbst sei aber nur kurz aus dem Auto ausgestiegen.
Der verhängnisvolle Ausgang
Auch Schamil G. soll nach eigener Aussage den Anton-Kummerer-Park nur kurz betreten und danach wieder verlassen haben. Der 29-Jährige ist mehrfach vorbestraft – kürzlich wegen des Besitzes und Erwerbs von Marihuana, sowie Sachbeschädigung: Während eines anderen Gerichtstermins betreffend seines Asyls soll er aus Wut einen Tisch in die Luft geschmissen und leicht beschädigt haben. „Da hatte ich einen Rückfall“, sagt er. Zum Tatzeitpunkt machte er gerade eine Entgiftungstherapie, hatte am Abend des 5. Julis aber Freigang.
Seine Version vor Gericht: Nachdem er sich mit Emir K. traf, ging er mit einer Freundin in der Nähe Pizza essen, danach in ein Café, das sich gleich neben dem Anton-Kummerer-Park befindet – dann hörte er plötzlich lautes Knallen und sah junge Tschetschenen, die in den Park laufen. Er stand auf, wollte ebenfalls in den Park rennen, kam jedoch nicht weiter als zum Eingang, sagt Schamil G. vor Gericht.
Zwei Freunde, die sich genau an dem Tag trafen, danach unabhängig voneinander beim Park waren, aber nichts mit der Schießerei zu tun haben sollen. Eine Aneinanderreihung mehrerer unglücklicher Zufälle, oder der Versuch, sich ein Alibi zuzulegen?
Nachdem sich Schamil G. wieder auf die Anklagebank setzt, kommt Ali A. in den Raum 401. Er ist einer der syrischen Opfer und Zeugen.
Doch nicht der Täter?
Ali A. war mit seinem Cousin und Bruder am 5. Juli im Anton Kummer-Park. Er war einer der Syrer, die am Konflikt im Park involviert waren – und eines der Opfer. Der Polizei sagte er kurz nach der Tat, Emir K. hätte auf ihn und seine Freunde geschossen. Danach soll der Tschetschene in seinen BMW eingestiegen und vom Tatort geflüchtet sein. Im Saal 401 erzählt er nun etwas anderes.
Der Schütze sei kein Tschetschene gewesen, sondern Türke. Das weiß er, weil Ali A., bevor er nach Österreich kam, selbst in der Türkei lebte und die Sprache ein bisschen beherrschen würde. Während der Schütze auf die Syrer schoss, soll er auf türkisch geschimpft haben, ist Ali sich sicher. Außerdem sei der Schütze besonders groß gewesen sein, soll einen langen dunklen Bart und schulterlange Haare getragen haben – Beschreibungen, die weder zu Emir K., noch zu Schamil G. passen.
Die zwei Tschetschenen hätte Ali A. gar nicht gesehen. Laut ihm waren zum Tatzeitpunkt verschiedene Männer im Park, wie viele, wisse er nicht genau. Emirs BMW fiel ihm auf. Allerdings erst, als er wegfuhr, es gäbe außerdem auch andere Autos, die vor dem Park standen.
Warum der Widerspruch zur Aussage in der Tatnacht? Ali A. sei völlig aufgewühlt gewesen, habe kaum einen klaren Gedanken fassen können und sei wegen seiner Verletzung am Oberschenkel stark beeinträchtigt gewesen.
Er könne sich zwar an kaum jemanden aus dem Park erinnern, den Schützen jedoch würde er mit absoluter Sicherheit wiedererkennen.
Alis neue Aussage könnte den gesamten Prozessverlauf jetzt erheblich beeinflussen.
Besteht nun die Chance auf einen Freispruch für Emir und Schamil?
Nächste Woche, am 8. Mai, steht der zweite Prozesstag und die Urteilsverkündung an – dann werden die tschetschenischen Freunde Gewissheit haben.