Ukraine-Flüchtlinge: Österreich will helfen
"Was braucht ihr?" "Bitte keine Kleidung!" "Friede der Ukraine!" "Was ist da drin?" "Kinderdecken!" "FFP2-Masken!" "Vorsicht!" "Darf ich vorbei?" "Alles Gute!" Der Strom an deutschen, ukrainischen und russischen Gesprächsfetzen, anhaltenden Autos, ausgehändigten Säcken und Kisten, vollgestopften, wegfahrenden Kleinbussen und heranrollenden, neuen Transportern scheint nicht abzureißen.
Eine junge Frau, die vis-à-vis auf einer Treppe sitzt, deutet auf das Transparent "Postgasse 8",das neben der Kirche St. Barbara in der Wiener Innenstadt hängt: "Das wird als Ort der Menschlichkeit in Erinnerung bleiben." Haltbarmilch, Windeln, Babynahrung, Decken, Schlafsäcke werden herangekarrt. Ein Herr im Parka wartet mit Kartons voller Verbandszeug, bis ein Helfer mit der Aufschrift "Security/Vitaly" ihn erspäht. Er hat Freunde im Kriegsgebiet; die jüngste Nachricht lautete: "Es ist leider lebensgefährlich, zu flüchten."An der Wand hängen mit QR-Code abrufbare Listen dringend benötigter Medikamente. Ganz oben steht Celox, ein blutstillendes Granulat. Der Krieg ist sehr nah.
Seit Putins Angriff auf die Ukraine wurlt es in der Wiener Postgasse. Vergangenen Donnerstag traf die ukrainische Diaspora hier auf Beistand von höchster politischer Ebene: ÖVP-Kanzler Karl Nehammer, Vize-Kanzler Werner Kogler, Nationalratspräsident Wolfgang Sobotka, Justizministerin Alma Zadić, Frauenministerin Susanne Raab, Arbeitsminister Martin Kocher, Bildungsminister Martin Polaschek, Außenminister Alexander Schallenberg, Kunst-Staatssekretärin Andrea Mayer, ÖVP-Klubchef August Wöginger und die Spitzen der Opposition Pamela Rendi-Wagner (SPÖ) und Beate Meinl-Reisinger (NEOS) fanden sich ein und zündeten in der Kirche Kerzen an. Auch der ukrainische Botschafter war da.
Es war ein starkes Symbol: Österreich will helfen. Doch die Hilfskonvois, die unentwegt Richtung Polen, Slowakei, Rumänien und Moldawien aufbrechen, reichen nicht. Niemand weiß, wann die Übergangslager dort aus allen Nähen platzen, wie viele Frauen und Kinder weiter wollen, wie viele in Österreich landen. Zu viel hängt vom russischen Kriegstreiber Wladimir Putin ab. Zwingt er die gesamte Ukraine unter seine Herrschaft, haben Vertriebene im eigenen Land keinen Ort, an den sie flüchten könnten. Dann könnte ihre Zahl in Europa rasch in die Millionen gehen. "Fluchtbewegungen passieren zuerst im eigenen Land und erstrecken sich dann auf Nachbarregionen", sagt Migrationsforscher Bernhard Perchinig: "Fehlen dort Perspektiven, gehen sie weiter." In Polen arbeiteten vor Kriegsausbruch zwischen einer und zwei Millionen Ukrainer mit befristeten Genehmigungen. Weil es Menschen dorthin zieht, wo sie jemanden kennen, könnte Polen bald eine "ähnliche Rolle spielen wie Deutschland und Österreich für die Bosnier Anfang der 1990er-Jahre" (Perchinig).Das Gros der Flüchtlinge aus dem Jugoslawien-Krieg war damals bei Verwandten untergekommen. Diese plünderten ihre Sparbücher und übernahmen-auch finanziell-einen erheblichen Teil der Integrationskosten.
Laut Angaben des UN-Flüchtlingswerks kamen in der ersten Kriegswoche 500.000 Menschen über die 500 Kilometer lange ukrainisch-polnische Grenze. Das Gros möchte in Polen bleiben. Auch in Rumänien und Moldawien sowie im südlichen Europa gibt es größere ukrainische Communities. Österreich könnte bis auf Weiteres eine Durchgangsstation bleiben. 12.800 Personen zählt die ukrainische Diaspora hier.
Doch man bereitet sich vor. Als Drehscheibe im Bund fungiert die Bundesagentur für Betreuungs-und Unterstützungsleistungen GmbH (BBU).Geschäftsführer Andreas Achrainer ließ in Mondsee und Ohlsdrof Übergangsquartiere mit je 150 Plätzen freimachen. Ein drittes sperrt in Villach auf. Unter www.bbu.gv.at/nachbarschaftsquartier waren zu Redaktionsschluss zudem fast 3000 private Unterkünfte gemeldet worden, in Summe geschätzt 8000 zusätzliche Betten. Auch die Kooperation mit der Hoteliersvereinigung trägt Früchte: Über 600 Betten in fast 50 Betrieben stehen-teils sogar mit Verpflegung-bereit.
BBU-Chef Achrainer setzt auf Einvernehmen mit Caritas, Diakonie, Volkshilfe, Samariterbund und Rotem Kreuz-sowie auf die Zivilgesellschaft im weiteren Sinn: "Zum einen können wir nicht alles selbst betreiben, zum anderen sind Quartiere, die kostenfrei zur Verfügung gestellt werden, Geschenke, die man nicht liegen lassen darf." Das Zusammenspiel zwischen Bund und Ländern in der Grundversorgung ist eine ewige Baustelle. Derzeit sitzen zwischen 2000 und 3000 Personen in Einrichtungen des Bundes fest, die bereits im Asylverfahren sind und von den Ländern übernommen werden könnten. Allein, es passiert nicht. Länder, die sich weigern, ihre Quote zu erfüllen, müssen keinerlei Sanktionen fürchten. Die Statistik sieht entsprechend aus: Niederösterreich etwa erfüllt die Quote selbst dann bloß zu 65 Prozent, wenn man die Erstaufnahmestelle Traiskirchen dazurechnet. In Wien beträgt die Quote 176 Prozent.
Schuld sind immer die anderen. NGOs klagen, mit einem lange Zeit nicht angepassten Tagsatz von 21 Euro seien Asylwerber nicht ordentlich zu versorgen. Die Länder werfen ihnen vor, geldgierig zu sein. Der Bund unterstellt den Ländern, sich nicht anzustrengen. Ein "toxisches Dreieck" nennt das Lukas Gahleitner vom Verein "Asylkoordination"-und eine "Geldverbrennungsmaschine" obendrein: In Einrichtungen des Bundes schlagen die Kosten pro Person und Tag-aufgrund höherer Overhead-Kosten wie Securitys oder Gesundheitscheck-mit 95 Euro zu Buche, vier Mal so hoch wie der Tagsatz im Land.
Die Krise könnte sich als Chance erweisen. Das hofft-neben vielen anderen-auch BBU-Chef Achrainer: "Ich bin mit dem Bild angetreten, dass es nur gemeinsam gehen kann. In einer Ausnahmesituation sind alle eher bereit, neu anzufangen."Um eine zentral geregelte Verteilung der Flüchtlinge und einen verlässlichen Krisenmechanismus werde man nicht umhinkommen. Dass dazu auch Ehrenamtliche gehören, zeigt sich in der Wiener Postgasse ebenso wie im BBU-Kosmos. Zu Redaktionsschluss zählte man in BBU-Einrichtungen rund 600 ukrainische Flüchtlinge. Die Zahl der Plätze könne man rasch auf 3500 hochfahren, sagt BBU-Geschäftsführer Achrainer. Noch sei das nicht nötig: "Viele wollen sich nur ausschlafen und schnell weiter. Asylanträge werden bisher kaum gestellt."
In Wien und im Burgenland werden Hallen vorbereitet, auch in Oberösterreich, Niederösterreich oder Salzburg stellt man Notbetten auf. Ein NGO-Vertreter seufzt, man sei "von einem einheitlichen Vorgehen immer noch weit entfernt",doch-immerhin-besser aufgestellt als 2015. Die EU-Kommission zog eine gut abgelegene Richtlinie zum "temporären Schutz" von Vertriebenen (auch bekannt als "Massenzustrom-Richtlinie") aus der Schublade. Sie war unter dem Eindruck der De-facto-Anerkennungen von bosnischen Flüchtlingen aus dem Jugoslawien-Krieg entstanden, aber nie in Kraft gesetzt worden. Vergangenen Donnerstag gaben sich die EU-Innenminister angesichts einer Million ukrainischer Flüchtlinge, die inzwischen in der EU angekommen waren, einen Ruck. EU-Innenkommissarin Ylva Johansson erklärte, die Regelung gelte für Inhaber eines ukrainischen Passes; Drittstaatsangehörige werden in ihre Herkunftsländer zurückgebracht. Dafür hatte sich-neben Polen, Ungarn und der Slowakei-vor allem Österreich starkgemacht. Der Streit über die Aufnahme von Flüchtlingen blockiert seit 2016 den Weg zu einem einheitlichen EU-Asylsystem. Ein Schlüssel für die gerechte EU-weite Verteilung der Flüchtlinge kam wieder nicht zustande.
Was bedeutet das in der Praxis? Ukrainische Flüchtlinge reisen 90 Tage visafrei ein. Die Massenzustrom-Richtlinie garantiert einen einjährigen regulären Aufenthalt, mit der Option, diesen um ein weiteres Jahr zu verlängern. Sie erhalten medizinische Versorgung. Ihre Kinder dürfen die Schule besuchen. Der Arbeitsmarkt steht offen. Ein Asylverfahren entfällt; die individuelle Möglichkeit, um Asyl anzusuchen, bleibt davon unberührt. Was der Passus, wonach ukrainische Flüchtlinge "notwendige Hilfe in Form von Sozialleistungen und Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts" erhalten, genau bedeutet, harrt einer konkreten Ausgestaltung.
Noch regiert der Notfall. Und es zeigen sich erste Anzeichen von Erschöpfung. Nina Hawrylow lebt in Linz. Sie hat einen ukrainischen Großvater und verbrachte mehrere Jahre in Kiew und Odessa. Wenn Journalisten fragen, wie es Ukrainerinnen in Österreich geht, die von hier aus versuchen, Verwandte in Sicherheit zu bringen, übernimmt sie es, in ihrem Namen zu sprechen, "weil ich bemerkt habe, dass viele ziemlich ausgelaugt sind".Jede freie Minute, die Mitglieder der ukrainischen Diaspora neben ihrer Arbeit oder ihrem Studium erübrigen können, vermitteln sie Hilfsgüter oder lesen Chats, in denen jemand schreibt: "Heute kommen zwei Erwachsene mit drei Kindern an. Wo können sie schlafen?",und jemand antwortet: "Schickt sie zu mir!" Oder: "Meine Oma und meine Mutter haben es aus Kiew raus geschafft. Ich habe Matratzen für sie, aber kein Bettzeug." Auch Hawrylow sagt, die meisten versuchen dorthin zu gelangen, wo sie jemanden kennen. Wer niemanden im Ausland habe, bleibe im Übergangslager an der Grenze.
2015, als sich Hunderttausende Syrer, Iraker und Afghanen Richtung Europa aufmachten, war es ähnlich. Der Staat kam erst lange nach den zivilgesellschaftlichen Initiativen wie "Train of Hope" in die Gänge. Dass man die Helferinnen und Helfer zuerst dringend brauchte und hinterher als "Willkommensklatscher" verhöhnte, haben viele nicht vergessen. Der Staat neige dazu, die Zivilgesellschaft "auszunützen, statt zu nützen", konstatiert Ex-Caritas-Präsident Franz Küberl: Hilfsorganisationen und Freiwillige würden "wie eine Ziehharmonika aufgeblasen, wenn die Not akut ist, und wenn sie nicht mehr nötig sind, einfach zusammengeschoben". Die Vertrauensbasis sei nachhaltig beschädigt, meint auch Martin Schenk, Sozialexperte der Armutskonferenz: "Viele Ehrenamtliche fragen sich jetzt insgeheim, wie lange es dauert, bis sie wieder als Deppen hingestellt werden."
Cornelius Granig managte das Ukraine-Geschäft der Raiffeisen-Bank und von Siemens und arbeitete als Unternehmensberater in Kiew und Wien. Er appelliert an die österreichische Regierung, "die Diaspora einzubeziehen: Sie ist engstens vernetzt und koordiniert nicht nur Hilfslieferungen und Telefonate in die Heimat, sondern auch die Hilfe hier." Gemeinsam mit A1 errichtete man in der Postgasse ein Callcenter: "Die Leute, die hier am Telefon sitzen und Ukrainisch sprechen, könnte der Bund oder die Stadt Wien sofort übernehmen."
Kritische Töne sind leise, aber es gibt sie. Seit Monaten sucht etwa die Volkshilfe Oberösterreich Unterkünfte für Asylwerber, das Gros jung, männlich, aus Afghanistan oder Syrien. Seit die Rede von "unseren Nachbarn" ist, von Kindern, deren Väter ihre Heimat verteidigen, gehen Türen auf. Kann man Not aufrechnen und Flüchtlinge angesichts der russischen Bombardements in gute und schlechte auseinanderdividieren? Für "rechtswidrig" und "rassistisch" hält Asylkoordinations-Sprecher Gahleitner alle diesbezüglichen Versuche: "Zwei Drittel der Asylwerber sind Syrer und Afghanen, die fast zu 100 Prozent Schutz erhalten. Daran gibt es nichts zu rütteln."
Manuela Ertl atmet schwer. Sie stellt, während sie telefoniert, Tische in einer noch leeren Halle auf, sagt sie. Am Vorabend wurde es für die Mitbegründerin der "Train of Hope"-Initiative spät. Neue Flüchtlinge werden erwartet, noch sind sie in der Slowakei oder in Ungarn unterwegs. Auch Ertl lernte 2015, wie flüchtig Ankündigungen und Zusagen sein können. "Das Innenministerium hat Rechnungen von damals immer noch nicht bezahlt",sagt sie. Vergangene Woche einigten sich die Stadt Wien, Samariterbund und "Train of Hope" darauf, in der Sport-&-Fun-Halle beim Happel-Stadion eine humanitäre Erstversorgung sicherzustellen. Wer hier auftaucht, bekommt das Nötigste. Derzeit seien 80 Prozent der Betreuten Kinder, "manchmal sind zwei, drei Erwachsene mit elf Kindern unterwegs". Ihnen weist der Einsatzstab der Stadt Quartiere zu. "Es ist nicht perfekt, aber es funktioniert", sagt Ertl. Und: "Wir haben 2015 geschafft, haben zwei Jahre Pandemie hinter uns, wir werden das auch auf den Boden kriegen."