Aufenthalt: Sollen ukrainische Vertriebene dauerhaft bleiben können?
„Tuha za domom“ beschreibt ein Gefühl, das Millionen Ukrainern und Ukrainerinnnen nur zu vertraut ist - Heimweh. Am 24. Februar 2022 griff Russland ihr Land an. Fünf Millionen flüchteten in europäische Länder, allen voran Polen, Deutschland und Tschechien. 100.000 landeten in Österreich. Mit jedem Monat, der verstreicht, schwindet ihre Hoffnung, nach Hause zurückzukehren. Aus Österreich, dem fremden Universum des Wartens und Sehnens wird allmählich die Möglichkeit einer neuen, zweiten Heimat.
Europa reagierte auf die Ströme flüchtender Menschen dieses Mal sehr rasch. Wenige Tage nach Kriegsausbruch verständigten sich die EU-Mitglieder darauf, die sogenannte Massenzustrom-Richtlinie in Kraft zu setzen und umstandslos für Schutz, Zugang zu Schulen und medizinischer Versorgung zu sorgen. Zunächst für ein Jahr. Der Vertriebenenstatus wurde inzwischen bis zum März 2024 ausgedehnt, die EU-Kommission signalisiert, dass er danach noch ein letztes Mal bis 2025 verlängert wird
Vorne dabei
Alles Weitere steht in den Sternen. ÖVP-Innenminister Gerhard Karner will bis zum frühen Herbst künftige, rechtliche Szenarien ausloten – „ergebnisoffen“, wie er mehrfach wissen ließ. Damit gehört Österreich, gemeinsam mit Polen und Tschechien, auf europäischer Ebene zu jenen Ländern, die in der Causa vorangehen. Die Juristen des Innenressorts tüfteln an einer Überführung der Ukrainer vom Asylrecht in das Niederlassungs- und Aufenthaltsgesetz (NAG) – und einem Zugang zur Sozialhilfe. Man geht davon aus, dass rund die Hälfte im Land bleibt. Auf profil-Anfrage heißt es nun: Spruchreif sei noch gar nichts.
Die Gespräche stocken auf höchster Ebene. ÖVP-Innenminister Gerhard Karner will zunächst die zu ihm ressortierende Grundversorgung entlasten. Aktuell sind hier fast 50.000 Ukrainer gemeldet, das Gros Frauen und Kinder, denn wehrfähige Männer dürfen die Ukraine nicht verlassen. Karner würde die Mammutaufgabe, sie aus der aufenthaltsrechtlichen Unsicherheit zu erlösen, gerne unbürokratisch erledigen. Das Kalkül dahinter: Nur Ukrainerinnen und Ukrainer haben den Vertriebenenstatus. Wenn sie aufgrund dieses Umstandes einen im NAG verankerten Aufenthaltstitel erhalten, ist der politisch gefürchtete „Pull-Faktor“ zu vernachlässigen.
Parteiintern bläst ihm jedoch kräftiger Gegenwind ins Gesicht. Denn Integrationsministerin Susanne Raab (ebenfalls ÖVP) schraubt die Kriterien hoch. Ihr Credo: Ukrainerinnen und Ukrainer müssten „Eigeninitiative“ beweisen. Nur wer Deutsch gelernt und sechs Monate über der Geringfügigkeitsgrenze gearbeitet habe, solle für Sozialhilfe in Frage kommen.
Das geht naturgemäß mit viel Bürokratie einher: Sprachkenntnisse müssen erworben und abgeprüft werden. Ausnahmen etwa für Ältere, chronisch Kranke oder Menschen mit Behinderungen müssen geschaffen und ebenfalls kontrolliert werden. Und: Die Arbeitsmarktintegration der ukrainischen Kriegsflüchtlinge kam bisher schleppend voran – aus nachvollziehbaren Gründen: Zum einen sind unter ihnen viele vulnerable Personen, zum anderen ist die Grundversorgung nicht darauf ausgerichtet, den Weg auf den Arbeitsmarkt zu ebnen, und – drittens – hängen Ukrainerinnen und Ukrainer in einer aufenthaltsrechtlichen Warteschleife.
Aktuell sind fast 50.000 ukrainische Vertriebene in der Grundversorgung, das Gros Frauen und Kinder, denn wehrfähige Männer dürfen die Ukraine nicht verlassen.
Hinderliche Unsicherheit
Neu anfangen oder zurückkehren? Sich auf das fremde Land einlassen oder die Verbindung zur alten Heimat halten? Unsicherheit – das lehrt die Erfahrung – zersetzt die Motivation, eine neue Sprache zu lernen, sich um einen Job, Kinderbetreuung, eine Schule und eine dauerhafte Bleibe zu kümmern. Am Ende werden jene, die an zu hohen Hürden scheitern, erst recht um Asyl ansuchen, also genau das machen, was die Massenzustrom-Richtlinie hintanhalten wollte, um die Behörden und das Asylsystem zu entlasten. Nur eben drei Jahre später. NGOs haben bereits deponiert, dass sie diesfalls Ukrainerinnen und Ukrainern raten müssten, um Asyl anzusuchen. Auch aus Raabs Ressort gibt es keine Stellungnahme. Nur soviel: „Die Verhandlungen laufen.“
Mit am Tisch sitzen auch ÖVP-Arbeitsminister Martin Kocher und Sozialminister Johannes Rauch (Grüne). Beide können der Öffnung der Sozialhilfe beziehungsweise Mindestsicherung für Kriegsvertriebene aus der Ukraine einiges abgewinnen, weil sich daran sowohl weitere soziale Leistungen als auch die Anbindung an das Arbeitsmarktservice (AMS) knüpfen. Arbeitsminister Kocher signalisierte denn auch Unterstützung. Die relativ stabile Lage am Arbeitsmarkt kommt ihm zupass. Zwar waren Ende Juni 307.732 Menschen arbeitslos oder in einer AMS-Schulung und damit um 3,1 Prozent mehr als im Monat davor. Doch dieser leichte Anstieg ist laut Kocher vor allem darauf zurückzuführen, dass die ukrainischen Geflüchteten seit 21. April freien Zugang zum Arbeitsmarkt haben und nun mitgezählt werden.
„Wir müssten viel mehr tun, um Ukrainerinnen und Ukrainer in den Arbeitsmarkt zu bringen.“
Manager und Ukraine-Kenner Cornelius Granig
Arbeitskräfte gesucht
Auch die Industriellenvereinigung wurde mit Statuspräferenzen vorstellig. Nicht nur die Betroffenen, auch die Betriebe bräuchten Rechtssicherheit, „um Personal, das sie aufnehmen, ausbilden und integrieren, über den März 2024 hinaus weiterbeschäftigen zu können“, heißt es hier. Stichwort: Rot-weiß-rot-Karte plus. Dabei handelt es sich um einen Aufenthaltstitel mit Beschäftigungsbewilligung für Einwanderer, die fit für den Arbeitsmarkt sind, und – anders als vulnerable Flüchtlinge aus Kriegsgebieten – keinen Schutzstatus benötigen. Entsprechend hoch sind die Kriterien. Zugang zu Sozialhilfe gibt es damit nicht.
Aus ökonomischer Sicht geht es vor allem darum, den drückenden Arbeitskräftemangel zu lindern. Um die besten Köpfe werde längst über Grenzen hinweg geworben, warnt Cornelius Granig, der vor dem Krieg als Generaldirektor von Siemens und bei Raiffeisen in der Ukraine arbeitete: „Wir müssten viel mehr tun, um Ukrainerinnen und Ukrainer in den Arbeitsmarkt zu bringen.“ Sprachhürden, die langwierige und kostspielige Anerkennung von Diplomen, fehlende Kinderbetreuung, die Angst, aus der Grundversorgung zu fliegen, ohne Dach über dem Kopf dazustehen oder in schlechte Jobs gedrängt zu werden, erschweren den Einstieg.
Ende Mai waren 16.000 Ukrainerinnen und Ukrainer erwerbstätig, um rund 6.400 mehr als im Jahr davor. Granig geht von einem unausgeschöpften Potential von bis zu 30.000 aus. Auch er hält es für höchst an der Zeit, „dass die Leute ins normale Sozialsystem kommen und eine längerfristige Perspektive erhalten“.
„Man kann mit ukrainischen Vertriebenen nicht eins zu eins wie mit normalen Arbeitsmigranten umgehen. Ein gewisser Schutzcharakter ist weiterhin nötig."
Die Lage ist insofern verzwickt, als viele Kriegsflüchtlinge hoch qualifiziert sind, doch es gibt daneben viele traumatisierte, gesundheitlich angeschlagene oder körperlich beeinträchtigte Menschen. „Man kann mit ihnen nicht eins zu eins wie mit normalen Arbeitsmigranten umgehen“, sagt Lukas Gahleitner-Gertz vom Verein asylkoordination: „Ein gewisser Schutzcharakter ist weiterhin nötig.“ Die Diakonie schlägt vor, ihren Status „von Amts wegen“ jenem von anerkannten Flüchtlingen anzugleichen. Damit stünde ukrainischen Vertriebenen sofort Sozialhilfe oder Pflegegeld zu. Pragmatisch und unaufwändig sei dieser Weg, so Christoph Riedl, Asyl- und Menschenrechtsexperte der Diakonie: „Man muss bloß ein paar Zeilen im Asylgesetz ändern.“
Jedes Modell hat Macken
Im Innenministerium ist man vom Diakonie-Vorschlag nicht restlos überzeugt. Ukrainerinnen kehren immer wieder zurück, um ihre Männer zu besuchen, die als Soldaten das Land verteidigen, oder um nach Angehörigen zu sehen. Anerkannte Flüchtlinge würde dies ihren Asylstatus kosten. Einen eigenen Schutztitel für Ukrainer will man nicht schaffen, zumal sie dann in der Asylstatistik aufschlagen würden. Für die Öffnung der Sozialhilfe wiederum braucht es die Zustimmung der neun Bundesländer. Unklar ist, ob ein Konsens etwa mit Niederösterreich, wo die FPÖ mitregiert, noch herstellbar ist.
Auch der Übergang vom Asyl- ins Niederlassungs- und Aufenthaltsgesetz ist trickreich, denn es fehlen die Schnittstellen zwischen dem jetzt zuständigen Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) und den Aufenthaltsbehörden in den Ländern: Muss dann jede einzelne Ukrainerin, jedes Kind auf ein Amt?
Allerorten wird Tempo eingemahnt. 2024 stehen sowohl Nationalrats- als auch EU-Wahlen an. Was nicht rechtzeitig in trockenen Tüchern ist, könnte in den Wahlkampf hineingezogen werden. Und das sind bekanntlich keine guten Zeiten für vernünftige Lösungen.