Ukrainer auf Telegram & Co: die bestorganisierten Flüchtlinge
Manche Rollen verteilt der Krieg. Jenia Yudytska, 28, hat sich nicht darum gerissen, für Übersicht in einem der vielen Telegram-Kanäle für ukrainische Vertriebene zu sorgen. Manchmal wünscht sich die junge Frau weit weg von dem nervösen Strom an Fragen, Gefühlen und Kontroversen, der nie abreißt, sehnt sich danach, nichts zu wissen von der ständigen, oft scheiternden Jagd nach verlässlichen Informationen und von den vielen Menschen, „die aus ihrem Leben gerissen wurden und die nun überall und zu jeder Zeit versuchen, zurechtzukommen und zu verstehen“.
Seit es soziale Medien und Messenger-Dienste wie WhatsApp oder Telegram gibt, werden sie von Migranten genutzt. Doch nie zuvor hat eine Fluchtbewegung sich so schnell auf allen Kanälen organisiert wie die ukrainischen Vertriebenen. Yudytska ist eine kleine Schleusenwärterin in dieser gigantischen Flut. profil trifft sie in einem Café. Ihr Handy liegt am Tisch. Die junge Frau bestellt eine Wiener Melange.
Vielleicht war es ihr in die Wiege gelegt, Welten zu verbinden. Der Großvater mütterlicherseits stammte aus Belarus, und wurde mit seiner ukrainischen Frau in den 1930er-Jahren nach Sibirien zwangsübersiedelt. Hier kam Yudytskas Mutter zur Welt. Ein Teil der Familie blieb in Russland, ein Teil kehrte in die Ukraine zurück. Jenia wurde in Charkiw, im Osten des Landes, geboren. Sie war fünf, als ihre Eltern 1999 die Ukraine verließen. Die Familie lebte in Österreich, als den Vater – einen emeritierten Mathematikprofessor – der Ruf einer amerikanischen Universität ereilte. Es folgten dreieinhalb Jahre in den USA, die Rückkehr nach Österreich, ein Jahr in Israel, eine Professur in Linz.
Sie weckt ihre Mutter: "Es ist Krieg!"
So kam es, dass die gebürtige Ukrainerin die österreichische Staatsbürgerschaft besitzt, sich mit Englisch am sichersten fühlt, mit ihrer Mutter Russisch spricht und Flüchtlingen aus ihrer alten Heimat beim Neufang hilft, obwohl sie kaum Ukrainisch versteht. „Eine Migrationsgeschichte“, konstatiert sie trocken. Dass die 28-Jährige ihren Bachelor in Edinburgh, und ihren Master in Freiburg machte, in Hamburg lebt und den Telegram-Kanal für Ukrainer in Oberösterreich managt, fügt sich nahtlos in diese Biografie ein. Am 23. Februar 2022 war Yudytska bei ihren Eltern in Linz. Gegen Mitternacht klopfte ihr Vater an die Tür. US-Präsident Biden habe vor einem russischen Militärschlag innerhalb der nächsten 48 Stunden gewarnt, sagte er. Yudytska dachte an den geplanten Urlaub mit der Familie. „Was immer Putin vorhat, er muss es innerhalb von 24 Stunden erledigen, sonst haben wir keine Zeit“, scherzte sie. Um vier Uhr morgens wachte sie auf. Eine Freundin aus Amerika hatte eine Nachricht geschickt. Zwei Stunden später weckte Yudytska ihre Mutter: „Es ist Krieg!“
Dann ging es Schlag auf Schlag. Auslandsukrainer halfen Verwandten, Arbeitskollegen, Bekannten von Bekannten bei der Flucht. Bei Yudytskas Eltern quartierte sich eine 40-jährige Cousine mit Kind ein, und für Jenia Yudytska brach „eine der schlimmsten Wochen“ an. Sie wollte helfen und rannte im Kreis: Hotline, Grundversorgungsstelle, Caritas: „In Oberösterreich herrschte das Chaos, und ich hatte das Gefühl, alles falsch zu machen.“ Ein Satz der Cousine wendete das Blatt: „Die besten Informationen gibt es im Internet. Wenn ich etwas herausfinde, poste ich es dort.“ Yudytska hatte auf ihrem Handy den Nachrichtendienst Telegram installiert, um mit Verwandten in der Ukraine zu kommunizieren, nun suchte sie nach Gruppen mit Namen wie „Ukrainer in Österreich helfen Flüchtlingen“, die sich im Durcheinander der ersten Kriegstage austauschten: Wohin gehen wir? Wo gibt es was?
Wohin gehen wir? Wo gibt es was?
Eine Ukrainerin in Wien startet einen Chat mit dem schlichten Titel „Ukraine Österreich“, heute mit über 20.000 Mitgliedern der Österreich-Kanal der Ukrainer. Als Yudytska ihn während des profil-Gesprächs aufruft, sind 4000 davon auf Telegram aktiv. Bald stellt sich heraus, was in Wien gilt, muss nicht auch in Tirol gelten. Es bilden sich Bundesländer-Ableger. Als im frischen Telegram-Chat der Ukrainer in Oberösterreich jemand verzweifelt fragt: „Was sollen wir tun?“, postet Yudytska ihre Erfahrungen mit der Bürokratie, die sie bei den ersten Schritten ihrer Cousine in Linz sammelte. Der Beitrag findet Anklang. Jenia Yudytska wird Moderatorin des Oberösterreich-Kanals. Hier lesen und diskutieren mittlerweile 1700 Leute auf Russisch und Ukrainisch mit.
Es geht um Kindergartenplätze, Geschäftsideen, Jobs, Verkehrsprobleme. Kaum ein Thema bleibt unbesprochen. Im Beauty-Kanal „Mama in Wien“ tauschen sich die Mitglieder über erste Adressen für Frisöre und Nagelstudios aus. Posts, die über den Tag hinaus interessieren, werden an das virtuelle schwarze Brett geheftet: Wo findet man billiges, gutes Essen oder gebrauchte Handys, wie kommt man zu einem Hausarzt oder einem Schulplatz , wie organisiert man eine Demo, was hilft bei der Arbeitssuche?
Yudytska scrollt durch die Kanäle: Es gibt „Ukrainer in Belgien“ (7000 Mitglieder) und die „Hilfe für Ukrainer in Belgien“ (10.000 Mitglieder), mehrere Ukraine-Chats in Deutschland, die zwischen 20.000 und 45.000 Mitglieder zählen, einen Moldau-Kanal mit 25.000 Followern, einen Spanien-Kanal (24.000), einen für Frankreich (10.000), Italien (23.000), die Schweiz (19.000), Polen (34.000), einen europaweiten Chat für Vertriebene, die nicht die ukrainische Staatsbürgerschaft haben. Im Hamburg-Chat, der von 9000 Menschen verfolgt wird, sucht eine Frau eine Wohnung für sich und ihre beiden Kinder. Einen Hund hat sie auch. In Warschau klagt jemand über Probleme bei einer Geldbehebung. Im Österreich-Kanal braucht eine Frau einen e-card-Ersatzbeleg. Sie will wissen, ob sich auch ihre Sozialversicherungsnummer ändert. Eine Ukrainerin in Graz sucht Rat wegen der Familienbeihilfe.
Missverständnisse und schmerzhafte Debatten
Viele Chats drehen sich um den Alltag. Als zweites, immer noch unerschöpfliches Reservoir an Erörterungen, erweist sich die Bürokratie. Und dann geht es auch oft um den Kontakt zur Ukraine: Wie schickt man Geld ins Kriegsgebiet? Wer fährt hin, kann etwas zu Verwandten bringen, hat Platz im Auto und kann jemanden herausholen? Mitunter entzünden sich an Kleinigkeiten große ethische Debatten. Die Frage etwa, wo man Buchweizen findet, kann in eine Auseinandersetzung darüber münden, ob es in Ordnung ist, in einem „russischen Geschäft“ einzukaufen, also Geld für Produkte auszugeben, mit denen man den Krieg gegen das eigene Land finanziert. Oder: Darf eine Frau Wert auf lackierte Nägel legen, während in ihrem Land Bomben fallen? Das Große und Ganze lauert hinter jeder Harmlosigkeit: Darf man es sich gut gehen lassen, während andere leiden? Muss man in Sack und Asche gehen?
Ähnliche Konfliktlinien brechen auf, wenn jemand fragt, ob man mit dem Zug gratis von Linz nach Wien fahren darf, um mit dem Kind ins Museum zu gehen. Warum nicht, posten dann die einen: „Ich will nicht den ganzen Tag in einer kleinen Wohnung sitzen und weinen. Ich will leben. Ich will, dass mein Kind etwas von Österreich sieht.“ Und die anderen: „Die Gratiszüge wurden Ukrainern gewährt, um aus dem Krieg zu kommen. Wer dies ausnützt, lebt auf Kosten der Steuerzahler.“ Und immer wieder die Streitfrage, ob man im Chat Russisch sprechen darf, nun die Sprache des Feindes. „Warum respektierst du dich selbst nicht?“, schimpft das Njet-Lager. Ostukrainer kontern: „Wir sind Patrioten. Ich hasse, was die Russen in der Ukraine anrichten. Aber ich spreche seit 40 Jahren Russisch, ich werde es weiter sprechen.“ Es sind schmerzhafte Kontroversen. Darf der Ehemann mitflüchten? Das Wichtigste ist, dass er die Familie beschützt, nicht das Land, postet eine Frau. Eine andere hält dagegen: Mein Mann kämpft, warum deiner nicht?
Als Moderatorin fällt Yudytska die Aufgabe zu, Debatten zu schließen, um die Spirale der Eskalation zu stoppen. „Das stresst mich“, sagt sie. Am schlimmsten aber findet sie Nachrichten, die sie privat erreichen. Eine Ukrainerin im Salzkammergut misstraute ihren Vermietern. Sie hätten für ihre Tochter eine Modeschule empfohlen, und als sie, die Mutter erklärte, ihr Kind nähe nicht gern, sie eine „Schande“ für ihre Landsleute genannt. Yudytska dachte lange über diese Episode nach: Sagte die Vermieterin „schade“, war die Beschimpfung ein Übersetzungsfehler?
Geflüchtete als Objekte
Fehlinformationen, Missverständnisse, Irrtümer zeitigen enorme Kosten. Mitunter echauffieren sich Ukrainer, dass Ärzte nicht bei jeder Unpässlichkeit Antibiotika verschreiben, und Yudytska fühlt sich bemüßigt, zu erklären, das liege nicht daran, dass man sie nicht leiden könne, sondern an einer anderen Medizinkultur. Im deutschen Ruhrgebiet, das viele Arbeitsmigranten aus der EU anzieht, erkannte man die Zeichen der Zeit. 2017 startete ein mit EU-Mitteln gefördertes Pilotprojekt: Arbeitsrechts-Experten bringen sich in Chat-Gruppen ein, beraten und informieren in mehreren Sprachen, berichtigen falsche Meldungen. Yudytska wünscht sich Ähnliches für die Nachrichtenkanäle der Ukrainer. Akkurate Informationen – von Grundversorgung, AMS-Anmeldung über Arztbesuche bis zum öffentlichen Verkehr – könnten Vertrauen schaffen, Gerüchte entkräften und überstürzte Handlungen vermeiden.
Zu oft sind Geflüchtete bloß Objekte. Die Regierung macht etwas mit ihnen. Die Bevölkerung denkt etwas über sie. Was machen sie selbst? Was denken sie über Österreich? Manchmal schreibt jemand: Zuerst habe ich gedacht, die Österreicher sind so streng. Aber nein, sie lachen auch. Yudytska würde gerne mit dem Flüchtlingskoordinator darüber reden, dass ukrainische Vertriebene Subjekte sind: Jene, die im März gekommen sind, helfen jenen, die im April kamen. Auch Lukas Gahleitner vom Verein asylkoordination fragt sich, warum staatliche Stellen „dieses Potenzial nicht nützen“. Auch Problemzonen zeigen sich hier oft zuerst. Kürzlich postete eine Ukrainerin, dass die Bewohnerinnen des „Campus Wienerwald“ in Neulengbach Verträge unterschreiben müssen, mit denen sie staatliche Unterstützungen – inklusive Familienbeihilfe – an die Betreiber abtreten. profil und „Kleine Zeitung“ forschten nach.
Finger weg von roten Rüben mit Mayonnaise
Yudytskas Lieblingsthread begann mit der Frage, womit man österreichische Vermieter erfreuen könne. Acht von zehn Ukrainerinnen und Ukrainer kamen privat unter. Wie zeigt man sich erkenntlich? „Mit Knödel“, lautet der Tipp einer Userin. Von Hering mit Roten Rüben und Mayonnaise sei hingegen abzuraten: „Das knallige Pink könnte ihnen Angst machen.“ Und immer wieder – auf Russisch, auf Ukrainisch – der Ausruf: „Danke, Österreich!“ Jenia Yudytska packt die ironische Gelegenheit beim Schopf: „Ich richte den Österreichern jetzt aus: Die Leute auf Telegram sagen Danke!“ Der Job der Moderatorin kann auch Spaß machen.