Ulla Kramar-Schmid Undankbares Volk
Es lässt sich alles schönreden. Die ÖVP hat bei der EU-Wahl als einzige Partei verloren und darf sich dennoch Sieger nennen. Die SPÖ hat hinter dem Komma zugelegt und darf behaupten, den Abstand zur ÖVP verringert zu haben. Und die Freiheitlichen? Haben ihr Wahlziel verfehlt, weil sie nicht über die 20-Prozent-Marke geklettert sind.
Aber: Die Blauen haben ihren Mandatsstand von zwei auf vier verdoppelt. Das lässt sich nicht schönreden.
Europa hat gewählt, und das österreichische Ergebnis liegt im Trend. Der Wahlsonntag hat die Koordinaten in Brüssel verschoben. Die bisherige Politik wurde abgestraft, die Europaskeptiker haben, links wie rechts, an Kraft gewonnen. Die Nachricht, die ein Viertel der Wähler und 200 Millionen Nicht-Wähler Richtung Europa abgesetzt haben, ist deutlich: So wie bisher kann, darf es nicht weitergehen. Wenn Europa für die Staats- und Regierungschefs einen Wert hat, dann müssen sie künftig mit derselben Entschlossenheit, mit der sie den Zerfall des Euro bekämpft haben, Ängste, Frust und EU-Ignoranz dieser (Nicht-)Wähler ernst nehmen. Sie müssen den Bürgern mit Entscheidungen für den Bürger beweisen, dass Europa mehr zu bieten hat als Rettungsschirme, Sparprogramme und offene Grenzen.
Der Wähler ist ungerecht. Der Wähler ist undankbar. All die Krisengipfel der vergangenen Jahre dienten dem Ziel, Europa bestmöglich durch die wirtschaftliche Flaute zu navigieren, den Euro zu stabilisieren und ein zweites Griechenland zu verhindern. Das war unabdingbar.
Doch der Wähler hat das letzte Wort. Und er sagt, er versteht dieses Brüssel nicht mehr. Der Europäer im Süden, Empfänger von zig Milliarden Hilfsgeldern, sieht keinen Grund, dankbar zu sein weil er davon nichts spürt. Der Europäer im Norden, Geber von zig Milliarden Hilfsgeldern, will nicht mehr zahlen, weil sich ihm der Sinn dieser Transfers nicht erschließt. Beiden Seiten ist gemeinsam, dass sie Europa als immer stärkere Belastung wahrnehmen bis hin zur existenziellen Bedrohung.
Der Durchschnittsbürger hat sich abgekoppelt. In Köpfen und Bäuchen hat sich das Empfinden verfestigt, dass Europa zwar für Banken und Wirtschaft parat steht, nicht aber für den Einzelnen, der seinen Arbeitsplatz/seine Existenz/seine Sicherheit/sein Fortkommen gefährdet sieht.
Und wenn der Wähler in einem nicht irrt, dann in der Feststellung, dass die Staats- und Regierungschefs in den vergangenen Jahren wenig dazu beigetragen haben, seine Ängste abzubauen.
Was hat die Kanzler und Präsidenten denn daran gehindert, die Besteuerung von Finanztransaktionen europaweit durchzusetzen und damit zu signalisieren, dass auch der Finanzsektor einen fairen Beitrag zur Krisenbewältigung leistet? Warum wurden keine europaweit gültigen Mindestlöhne verabschiedet, um Verdrängungsängsten und somit auch den politischen Scharfmachern den Wind aus den Segeln zu nehmen? Wie weit sind die viel beschworenen Konzepte gegen die Arbeitslosigkeit, vor allem in der Jugend, gediehen, die in keiner Wahlkampfrhetorik gefehlt haben? Wo blieb denn der entschlossene Kampf gegen Steuerhinterziehung und -oasen, die Europas Volkswirtschaften (und deren Steuerzahlern) jährlich hunderte Milliarden entziehen? Doch die Regierungschefs blockieren sich gegenseitig, weil auch sie ihre nationalen Interessen verfolgen.
Und so haben die Marine Le Pens, Nigel Farages und Harald Vilimskys dieses Europas ein leichtes Spiel. Sie machen die Menschen glauben, mit einer Rückführung von Kompetenzen auf nationale Ebene würden sich Hurra! alle Budget-, Arbeitsmarkt- und Wirtschaftsprobleme in Luft auflösen.
Unsinn. Die Globalisierung ist Fakt und die Annahme, dass europäische Nationalstaaten im weltweiten Wettbewerb besser reüssierten, völlig abwegig. Das müssen die Regierungen ihren Wählern klarmachen. Erst, indem auch sie ihre nationalen Egoismen hintanstellen, und in Folge mit einer Politik, welche auch die Bürger wieder ins Boot holt.
Andernfalls wird Brüssel sich in absehbarer Zeit mit neuen Regierungen konfrontiert sehen, die vieles wollen, nur eines nicht: Europa.