Unter seinem Auge: Wie geht es Austro-Russen seit Kriegsausbruch?
"Weiters bitten wir Sie, aufgrund des derzeitigen Konflikts zwischen Ukraine und Russland keine neuen Kunden mit Staatsbürgerschaft Russland oder Belarus zu beraten bzw. zu vermitteln.“
Boris Pavlovsky staunte nicht schlecht, als ihm sein Finanzberater ein E-Mail der Bank Austria Finance weiterleitete (es liegt profil vor). Gemeinsam mit seiner Partnerin wollte der russischstämmige Geiger, der in einem renommierten Wiener Orchester spielt, einen Kredit beantragen. Er besitzt die österreichische Staatsbürgerschaft, seine Partnerin wartet noch darauf. Mit der Welt der Oligarchen, die auf diversen Sanktionslisten stehen, haben beide nichts zu schaffen. Dennoch die Absage.
Ein Sprecher der Bank beteuert, das Mail sei so nie verschickt worden, sondern habe sich explizit auf „neue Kunden mit Staatsbürgerschaft und Wohnsitz in Russland“ bezogen. Das Paar versichert, das Mail nicht verändert zu haben. Wie auch immer es zustande kam – solche Episoden sind Wasser auf den Mühlen jener, die vor Diskriminierung russischer Staatsbürger im Westen warnen. Allen voran Wladimir Putin.
Nur einen Tag nach dem Angriff auf die Ukraine beklagte der russische Präsident die "Russophobie" und die "Cancel Culture" in Europa und den USA. In Deutschland ruft die Botschaft seither auf, "Fälle von Mobbing, Belästigung, Drohungen, Angriffen oder physischer Gewalt" an eine SOS-Mailadresse zu schicken. In Österreich hat der Landsleute-Verein aus dem Umfeld der Botschaft eine Telefonhotline für Mobbing-Opfer eingerichtet.
Die Propaganda dahinter ist offensichtlich. Der Kampf gegen die vermeintliche Diskriminierung im Westen soll verschleiern, von wem die Aggression ausgeht - von Russland. Die Vereinnahmung der Landsleute verdeckt die Tatsache, dass sich gerade in der Diaspora viele Putin-Gegner finden, die gemeinsam mit Ukrainern gegen den Krieg demonstrieren und Vertriebenen auf Bahnhöfen helfen.
profil führte in den vergangenen Wochen Gespräche mit Austro-Russen. Dabei zeigte sich: Die gefühlte Diskriminierung ist deutlich größer als die tatsächliche. Für praktisch alle stellt der Krieg jedoch einen Einschnitt in ihr Leben dar. Offen reden die wenigsten. Putin-Kritiker fürchten, dass Verwandte in Russland in Sippenhaft genommen oder sie selbst bei der Heimreise verhaftet werden. Die Angst scheint berechtigt. In Russland stehen auf das bloße Wort "Krieg" 15 Jahre Haft. Putin-Versteher wiederum schweigen, weil sie wissen, wie verpönt ihre Ansichten im Westen sind.
"Österreicher mit Hirn machen einen Unterschied zwischen Putin und den normalen Russen hierzulande",fühlt sich eine 32-jährige Russin, nennen wir sie Anna, nicht diskriminiert. Anlass dazu hätte es gegeben. Kurz nach Kriegsausbruch wurde die sechsjährige Tochter der Angestellten von anderen Schülern ungut auf den Krieg angesprochen. Kein Einzelfall in den ersten Tagen nach Kriegsausbruch. Doch in all diesen Fällen konnten Lehrer gemeinsam mit Eltern weitere Hänseleien rasch unterbinden.
Russen in Österreich-das ist eine bunte Gesellschaft. Offiziell leben hierzulande 34.000 russische Staatsbürger. Rund 65 Prozent sind Flüchtlinge aus der russischen Teilrepublik Tschetschenien. Rund 2000 Russen studieren an heimischen Unis. Weitere Tausende Russen sind eingebürgert. In Bezug auf Putin ist die Community praktisch zweigeteilt. Auf der einen Seite Menschen, "die in Freiheit und Demokratie leben wollten und in Putins Russland keine Zukunft sahen", wie Geiger Pavlovsky es ausdrückt. Darunter Künstler, Ehepartner, Arbeitspendler, Geschäftsleute, Akademiker, die nach dem Studium blieben. Sie lehnen den Krieg kategorisch ab. Auf der anderen Seite 150 regimetreue Diplomaten samt Familien, pensionierte Sowjetdiplomaten und ihre Nachfahren, patriotische Arbeitsmigranten, Angestellte russischer Staatsfirmen wie Gazprom, Lukoil, Sberbank. Putin-Versteher, die über den Angriffskrieg auch dann betreten schweigen, wenn sie Bauchweh damit haben.
Die Gespaltenheit zeigt sich auch bei Wahlen. 2018 stimmten 63 Prozent der Austro-Russen, die sich an der Wahl beteiligten, für Putin. Im Vergleich zu Auslandsrussen in anderen EU-Staaten waren das überdurchschnittlich wenig-nur in den Niederlanden und Dänemark wählte die Diaspora Putin-kritischer. 2020 lehnten in Österreich 60 Prozent die Verfassungsänderung ab, mit der sich Putin seine Amtsdauer auf Lebenszeit verlängerte. In Russland selbst hatten 78 Prozent dafür gestimmt.
Alle eint die Sorge um Verwandte in Russland. "Mein Vater braucht Medikamente. Der US-Hersteller hat sich zurückgezogen. Das Ersatzmedikament kostet ein Vielfaches",erzählt die 51-Jährige Natascha, die in Wien für eine russische Firma arbeitet. Geld zu schicken, sei derzeit nicht möglich. Es werden viele solcher Geschichten erzählt. Von Großeltern in Russland, deren Pension parallel zum Rubel massiv an Wert verliert. Auch von der Sprachregelung, die man sich bei Telefonaten nach Russland auferlegt. Eine Russin aus Wien, die gerade Mutter wurde, meint: "Ich meide das Thema Krieg. Gott sei Dank haben wir die Windeln als Ersatzthema. Von Menschen, die ich mein Leben lang kenne, zu hören, dass sie diesen furchtbaren Krieg unterstützen, das wäre für mich unerträglich."
"Fühle mich als Russe schuldig"
Der Jurist Iwan Schatajew tritt offen gegen Putin auf und organisiert Demonstrationen vor der russischen Botschaft in Wien.
Er hat nach eigenen Angaben Tausende Euro für Vertriebene aus der Ukraine gespendet und wird bald in seiner Freizeit ukrainische Kinder in einem SOS Kinderdorf unterrichten. Der Jurist Iwan Schatajew (57) lässt keine Zweifel an seiner Haltung zum Krieg aufkommen. "Ich fühle mich schuldig als Russe",sagt er. Bis 2014 war Schatajew Auslands-Sprecher der sozialdemokratischen Oppositionspartei Gerechtes Russland, heute organisiert er Demonstrationen vor der russischen Botschaft in Wien. Außerhalb der "russischen Welt" in Österreich, die aus Botschaftsmitarbeitern, ihren Familien sowie Mitarbeitern der russischen Staatsunternehmen bestehe, würden die meisten Russen ticken wie er, ist Schatajew überzeugt. "Die meisten sind hier, weil sie Freiheit und Demokratie wollten und nicht die Diktatur Putins."Die Warnung Russlands, wonach Landsleute in Europa verfolgt würden, sei Propaganda. Schatajew erwartet keine Spannungen zwischen Russen und Ukrainern in Österreich, weil die meisten auf derselben Seite stünden-gegen Putins Krieg.
Schatajew spricht auch deswegen so offen, weil er seit 2005 in Österreich lebt und sowieso nicht mehr nach Russland kann. "Das wäre für mich zu gefährlich, ich stehe auf einer Liste."
"Ich will nur meinen Job machen"
Die Dolmetscherin Kristina K. fühlt sich am Arbeitsmarkt diskriminiert.
In den ersten Tagen nach Kriegsausbruch traute sich Kristina K. aus Moskau kaum außer Haus. Ihren zwei studierenden Kindern empfahl die 50-Jährige, auf der Straße nur noch Deutsch zu sprechen. Eingeschüchtert hätte sie die "Aggression",die Russen auf Facebook entgegengeschlagen sei. "Als ich den ersten Schock überwunden hatte, wollte ich einfach meinen Job machen."Als erfahrene Russisch-Dolmetscherin bewarb sich die alleinerziehende Mutter bei der Caritas für eine Dolmetsch-Stelle im Wiener Erstberatungszentrum für Ukraine-Flüchtlinge. Und erhielt eine Absage. Sie führt das auf ihre russische Herkunft zurück. Rückfrage bei der Caritas. Es habe mehr Bewerber als freie Jobs gegeben. Das wundert K. angesichts des großen Bedarfs an Übersetzern, den sie vor Ort feststellte.
Im zweiten Wiener Aufnahmezentrum nahm man ihre Dienste gerne in Anspruch, allerdings nur unbezahlt und freiwillig. "Da ich schon vor Ort war, dolmetschte ich für diesen Tag."Die meisten Ukrainer verstehen Russisch. Doch ein ukrainischer Familienvater habe lautstark dagegen protestiert, von ihr auf Russisch angesprochen zu werden. "Das war ernüchternd."Auch ihre Kinder seien einmal von ukrainischen Jugendlichen bei der Busstation beschimpft worden, als sie Russisch sprachen. Spannungen zwischen Ukrainern und Russen selbst in Österreich bereiten ihr Sorge. "Ich will einfach nur Frieden."
"Putin ist der größte Lügner"
Tatiana Vatnitskaya bezeichnet sich als "radikale Oppositionelle"
Tatiana Vatnitskaya ringt mit Worten. "Es ist sehr schwer für mich", beginnt sie. "Seit über zehn Jahren warne ich vor diesem Mann, dass er Russland in einen Abgrund führen wird. Und nun habe ich leider recht bekommen."Die elegante Dame Mitte 70 bezeichnet sich als politisch "radikale Oppositionelle".Seit Ende der 1990er-Jahre lebt sie mit ihrem Mann, der für die Internationale Atomenergie-Organisation (IAEO) tätig war, in Wien. Die russische Staatsbürgerschaft habe sie bis heute behalten. Nach dem Fall der Sowjetunion führte es Vatnitskaya und ihre Familie von St. Petersburg in die USA. "Ich kann mich gut an die Wahl von Boris Jelzin 1996 erinnern. Wir standen bei 40 Grad in einer Warteschlange in Los Angeles. Es war uns wichtig, zu verhindern, dass der Kommunismus zurückkommt."Hoffnung sei in der Geschichte Russlands stets das wichtigste Gefühl gewesen. In diesen Tagen fällt ihr der Glaube an Besserung in ihrem Land jedoch schwer. "Es herrscht eine sehr kluge und starke Propaganda, Putin ist der größte Lügner."Das Vorgehen gegen Russland unterstützt sie, die harten Sanktionen bekommt sie auch selbst zu spüren. Auf ein Visum für die USA, wo ihr Sohn mit den Enkelkindern lebt, müsse sie 170 Tage warten. Vor dem Krieg dauerte das Prozedere zwei Wochen. Ihre Gedanken seien bei den Menschen in der Ukraine. "Wir müssen diesem armen Volk helfen, so gut wir können. Wenn ich in Russland wäre, würde ich protestieren."
"Wir sind keine Oligarchen"
Für Daria Müller ist Russlands Krieg in der Ukraine ein Verbrechen, sie bedauert jedoch die weitreichenden Sanktionen.
"Seit Ende Februar steht mein Geschäft still", beklagt die 57-jährige Daria Müller bei einer Tasse Schwarztee. Die gebürtige Moskauerin ist Geschäftsführerin eines kleinen Handelsunternehmens im Bereich Chemietechnik. "Wir suchen Ersatzprodukte von europäischen Firmen-Pumpen, Filter, Anlagen-und verkaufen sie weiter nach Russland." Das Aussetzen des SWIFT-Abkommens treffe sie deshalb hart, der Handel konzentrierte sich in den letzten Jahrzehnten ausschließlich auf den russischen Markt. Noch im Februar habe man ein teures Produkt aus Tschechien bestellt und vorfinanziert, auf den Kosten bleibe man sitzen. Daria Müller kam 1992 als Dolmetsch-Studentin nach Österreich, ehe sie Ende der 1990er-Jahre bei dem Unternehmen andockte. 2005 bekam sie die österreichische Staatsbürgerschaft, seitdem sei sie selbst nicht mehr nach Russland gereist, 2010 heiratete sie einen Wiener. "Ich bin entsetzt, was in der Ukraine passiert, es ist ein Verbrechen von Russland",bedauert sie. Sie hofft, dass zumindest der Postweg nach Russland bald wieder möglich sein wird. Sämtliche Frachtgesellschaften haben ihre Verbindung ins Land unterbrochen. In den letzten Jahren schickte Müller regelmäßig Waren und Geld zur Unterstützung an ihren in Moskau lebenden Vater. "Wir sind keine Oligarchen, sondern normale Menschen",sagt sie.
"Putin führt einen Krieg wie früher die USA"
Natali und Peter*, ein austro-russisches Paar, sieht eine Mitschuld des Westens am Krieg in der Ukraine.
Natali spricht ruhig und kontrolliert, doch wenn man ihr unterstellt, sie hege Sympathien für Wladimir Putin, wird sie wütend. "Ich habe ihn nie gewählt, und ich werde ihn nie wählen",bricht es aus der 45-jährigen Russin heraus. Sie beklagt ein Klima des Sich-Distanzieren-oder Sich-Solidarisieren-Müssens mit der russischen Politik, eine Polarisierung. Natürlich verabscheue sie den Krieg in der Ukraine, habe selbst Freunde und Verwandte in Odessa. "Mein Großvater stammt aus Kiew, hat gegen die Nazis gekämpft. Es ist so sinnlos, es tut so weh, diese Zerstörung zu sehen." Dennoch glaubt sie, dass der Westen Mitschuld am Krieg habe, weil sich die NATO seit 2014 in den Konflikt zwischen der Ukraine und Russland einmische. Und sie spüre antirussische Ressentiments, die sie aus ihrer Kindheit kenne. Als Kind sowjetischer Diplomaten in Norwegen sei sie in ihrer Schulzeit als Außenseiterin behandelt worden. "Ich habe diese zwei konkurrierenden Welten gespürt, die sich nie akzeptieren werden, und das zieht sich bis heute."Als Studentin in Österreich lernte sie 2003 am Donauinselfest ihren Mann Peter kennen. Die Industrial-Band Ministry spielte dort und sang gegen den Irakkrieg. Punk und USA-Kritik-das verband den Österreicher und die Russin, die mit ihren beiden Kindern in Wien leben. Sie meinen: "Putin führt einen Krieg wie früher die USA im Irak oder Afghanistan. Er hat sich verrannt, als er glaubte, einen schnellen Regime-Change machen zu können."
*Namen von der Redaktion geändert