Treffen: Vom Zusammenhalt nach dem Unglück
Von Judith Belfkih
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Das Grollen des Donners ist in dieser Nacht eins geworden mit dem dumpfen Mahlen und Reiben des Gerölls und dem schaurigen Knarren der bebenden Hausmauern. Anfangs wird es nur laut an den Bachläufen im Kärntner Gegendtal. Wie immer, wenn es stark regnet.
Doch die sonst rauschenden Bäche schwellen in der Nacht zum 29. Juni 2022 zu gewaltigen Strömen aus Schlamm und Gestein an, bahnen sich beharrlich ihren Weg ins Tal, unterspülen in Treffen Häuser und Straßen, reißen Autos und Brücken mit, überziehen Ortsteile und Felder mit einer meterhohen Schicht aus Schlamm und Geröll. 250.000 Kubikmeter Material werden vom Berg zum Talboden befördert. Ein 81-Jähriger kommt in einer Mure ums Leben.
Die ermutigende Nachricht aus Kärnten zwei Jahre nach dem Unglück: Die Hilfsketten funktionieren, Menschen stehen in unverhoffter Solidarität zusammen. Das verloren geglaubte große Wir, das gibt es noch. Euphorische Technikgläubigkeit ist angesichts der Katastrophe einem demütig respektvollen Umgang mit der Natur gewichen. Kluge Rückbesinnung hat blinde Innovationslust abgelöst. Was an den Geschehnissen betrübt: dass offenbar immer erst etwas passieren muss, damit etwas passiert.
Treffen im Gegendtal ist ein Ort wie aus einem österreichischen Ortsbaukasten. Das Ensemble im Zentrum besteht aus Gemeindeamt und Freiwilliger Feuerwehr sowie einer Raiffeisen-Filiale und dem Dorfwirt. Selbstredend gibt es Kirche und Friedhof. Mit Kindergarten, Volks- und Mittelschule sowie einem Pflegeheim sind alle Generationen versorgt. Der Gemeindevorstand hat eine Männerquote von 100 Prozent. An den Fleischhauer am Platz erinnert nur das Namensschild. Den Marktplatz mit seinen stattlichen Linden ziert ein Denkmal, das mehrfach erweitert und umfunktioniert wurde – vom Kaiserjubel 1908 zum Gedenken 1918 und nach 1945. Die Kaiserbüste darauf blickt als stumme Zeugin auf ein Jahrhundert europäischer Geschichte.
© Judith Belfkih
Lange Aufarbeitung
Am Ortsrand von Treffen türmen sich noch Hügel aus Erde und Geröll. Sie werden nach und nach aufgearbeitet und in den Boden eingearbeitet.
Lange Aufarbeitung
Am Ortsrand von Treffen türmen sich noch Hügel aus Erde und Geröll. Sie werden nach und nach aufgearbeitet und in den Boden eingearbeitet.
Dass die Gemeinde in einer Tourismusregion liegt, zeigt sich am Ortsrand von Treffen. Auf dem Parkplatz eines großen Supermarkts decken sich an diesem hochsommerlichen Montag gut gelaunte Menschen in kurzen Hosen und Bergschuhen mit Proviant für eine Wanderung in den umliegenden Bergen ein – oder für einen Ausflug zum nahen Ossiacher See.
Moralischer Ruck durch die Verzweiflung
Der Zusammenhalt nach der Katastrophe in der 4600-Seelen-Gemeinde hatte viele Gesichter, erzählen die Bewohner. Da gab es die bis zu 4500 Feuerwehrleute; Freiwillige, die Kühe ausgeschaufelt haben, die bis zum Bauch im Schlamm steckten; Bauern, die betroffene Höfe mit Futter für die Tiere versorgt haben; den deutschen Radfahrer, der seinen Urlaub unterbrochen hat, um fremde Keller zu räumen; Nachbarn, die morgens Essen brachten – und abends das schmutzige Geschirr wieder abholten.
Glück im Unglück
Die Rückhaltesperre oberhalb von Treffen wurde nur wenige Tage vor dem Unwetter fertig. Ohne sie gäbe es den Ort heute nicht mehr, sind sich Bewohner einig.
Von dieser „fein geölten Maschinerie der Unterstützung“ ist auch der Bürgermeister von Treffen, Klaus Glanznig, nachhaltig beeindruckt. Gemeinde, Region, das Land Kärnten, Polizei, Bundesheer – und eine Schar freiwilliger Helfer: „Da hat ein Rädchen ins andere gegriffen. Das hat uns einen moralischen Ruck gegeben in der Verzweiflung,“ erinnert sich der SP-Gemeindechef. Diesen Zusammenhalt, den spürt man in Treffen bis heute. Lokalpolitisch ist Treffen sozialdemokratisch. Mit zwölf Gemeinderatsmitgliedern liegt die SPÖ hier weit vor FPÖ (6), ÖVP (4) und den Grünen mit einer Gemeinderätin. SP-Bürgermeister Klaus Glanznig wurde bei der letzten Wahl 2021 mit knapp 60 Prozent wiedergewählt, wie auch sein Parteikollege vor ihm.
Doppelter Schutz aus Stahl und Beton
Zwei Jahre nach dem verheerenden Unwetter blitzt die Sonne durch die Wolken in den Kärntner Bergen. Auf den ersten Blick erinnert nichts mehr an jene
unheilvolle nächtliche Verzahnung von vier Gewitterzellen über dem Tal. Der Sturm trieb die Wolkenblöcke um und ineinander, hinderte den Starkregen am Weiterziehen. Zwei Glücksfälle, erzählt Feuerwehrkommandant Daniel Frank, haben noch Schlimmeres verhindert. Dass es nachts war und die Straßen damit leer. Und dass drei Tage vor dem Unwetter die Geröllsperre am Pöllingerbach fertig wurde. Das Rückhaltebecken dahinter „war in 15 Minuten voll. Es hat drei Wochen gedauert, es wieder auszubaggern“, erzählt Daniel Frank.
© Judith Belfkih
Überwachsene Spuren
Zwei Jahre nach dem Unglück blühen in Treffen wieder Blumen vor dem Gemeindeamt. Die Zerstörung hat dennoch Spuren hinterlassen.
Überwachsene Spuren
Zwei Jahre nach dem Unglück blühen in Treffen wieder Blumen vor dem Gemeindeamt. Die Zerstörung hat dennoch Spuren hinterlassen.
Wir fahren mit dem Feuerwehrauto hinauf zu dieser Sperre. Der mächtige Stahl-Beton-Bau thront steile 300 Höhenmeter oberhalb des Ortes, den es wohl so nicht mehr gäbe ohne diese Sperre, ist man sich einig. Das Bächlein, das hier heute durch das riesige Becken plätschert, wirkt fast verloren in diesem Bauwerk. Als größenwahnsinnig sei er bezeichnet worden, als er auf der Sperre beharrte, erzählt Bürgermeister Klaus Glanznig. Diese Stimmen seien verstummt nach dem 29. Juni. Dass es die Schutzvorrichtung überhaupt gibt, beruhe auf Modellrechnungen. Diese haben in der Unwetternacht bis auf 20 Zentimeter gestimmt. Mittlerweile ist eine zweite Geröllsperre knapp oberhalb des Ortes fertiggestellt.
Dankbarkeit über den enormen Zusammenhalt – und neuer Respekt vor der Natur, vor dem Element Wasser. Diese beiden Gedanken tauchen in jedem Gespräch in Treffen auf. Beides hat sich tief eingegraben ins Gemeindegedächtnis. Letzteres zeigt sich auch im Wiederaufbau.
Dunkle Stunden
Treffens Bürgermeister Klaus Glanznig und Feuerwehrkommandant Daniel Frank (re.) waren in der Unglücksnacht im Einsatz.
Die Bachbetten wurden beim Ausbaggern verbreitert, wo das möglich war. Der Wildbachverbau im Ort ist um einen Meter Betonmauer erhöht, einige Ortsteile wurden mit den Erdmassen der Muren angehoben, andere mit einem Wall geschützt. Auch bei Baugenehmigungen sei man noch vorsichtiger geworden. Allumfassenden Schutz kann es trotzdem keinen geben. Das Gemeindegebiet umfasst 47 Bäche und Wasserläufe, allein der Ausbau des Pöllingerbaches hat acht Millionen Euro gekostet, berichtet Glanznig: „Das ist als kleine Gemeinde allein nicht zu stemmen.“
„Mia holt ma olle zom“
Angesichts der Klimaerwärmung häufen sich extreme Unwetterereignisse. Es wird in den kommenden Jahren wohl immer mehr Orte geben wie Treffen. Das Wissen um die zunehmenden Wetterkapriolen hat sich auch bei den Bewohnerinnen und Bewohnern von Treffen eingeschrieben. Die Panik der dunklen Sturmnacht blitzt bei jedem Grollen wieder auf. Das merkt auch Klaus Glanznig. An beunruhigten Anrufen seiner Mitmenschen bei Starkregen, an der Meldung jedes gestiegenen Flusspegels. Der Bürgermeister hat seit jener Nacht die Feuerwehruniform am Bettende liegen. Griffbereit.
Stärker als diese Unruhe ist jedoch der erstarkte Rückhalt in der Gemeinschaft. Isabell Fischer, Obfrau der Landjugend, hat nach der Flut ein Lied über diese Kraft des Miteinanders geschrieben, unterlegt mit Videos und Bildern des Unglücks. „Kana muass allan do duach“, singt die angehende Volksschullehrerin darin glockenhell, „mia holt ma olle zom“. „Wir sind von Haus zu Haus gezogen, haben geholfen und angepackt“, erinnert sie sich an die ersten Tage nach dem Unglück, „da gab es keine Fragen.“ Das ist ein Gefühl, das bleibt.
Doch die schöne neu erstarkte Dorfgemeinschaft hat feine Risse. Im auch durch Spenden und öffentliche Gelder finanzierten Wiederaufbau sei die Stimmung immer wieder gekippt, erzählt eine Dorfbewohnerin, deren Haus direkt an einem der Bäche steht. Sie will ihren Namen nicht in den Medien lesen, es gebe schon genug Gerede. Die neue Küche ist ja viel größer als die alte! So ein schickes Wohnzimmer hätt’ ich auch gern! Wo kommt denn das neue Auto her? Muss das sein, diese hässlichen Betonmauern im Ortskern? Kommentare wie diese kommen noch immer. „Das tut einfach weh“, erzählt die Treffenerin, „da sind Lebenswerke davongespült worden, ideelle Werte, die mit Geld nicht aufzuwiegen sind, ganze Familiengeschichten.“ Da gebe es diese Familie, die kein einziges Babyfoto der Kinder mehr besitze – sie wurden inklusive Sicherungskopien aus dem Wohnzimmer gespült. Da tröste auch die neue Küche nicht.
Dass die Geschlossenheit dieser Gemeinde relativ ist, zeigen die Ergebnisse der jüngsten Wahlen. Je weiter hier der politische Bezugsrahmen, desto kleiner der Rückhalt der Bürgermeisterpartei. Bei der Landtagswahl 2023, der ersten Wahl nach dem Unglück, rutschten die Sozialdemokraten in Treffen um zehn Prozentpunkte auf 38 Prozent ab, Zugewinne verbuchten ÖVP, das „Team Kärnten“ und die Grünen. Bei der Europawahl blieb die SPÖ in der Gemeinde mit 26 Prozent zwar annähernd stabil (2019: 28 Prozent). Der erste Platz ging in Sachen EU jedoch mit 34 Prozent an die FPÖ – auf Kosten der ÖVP, die von 28 auf 16 Prozent fast halbiert wurde. Inwieweit diese politischen Verschiebungen das viel gelobte neue Gemeinschaftsgefühl konterkarieren, wird erst die nächste Gemeinderatswahl 2027 zeigen.
Sichtbare und unsichtbare Spuren
Was bis heute vom Unglück sichtbar ist in Treffen, sind vereinzelt Behelfsbrücken des Bundesheeres und Geröllberge vor der Ortseinfahrt, die erst nach und nach von Sperrmüll und Felsbrocken befreit in den Boden eingearbeitet werden. Auf der Dorfdurchfahrt fehlt noch der neue Straßenbelag, der Sportplatz ist gerade im Bau. In einem Jahr, erzählt der Bürgermeister bei der Besichtigung der Baustellen, soll alles fertig sein. Wieder wie früher, nein: moderner, sicherer, jedenfalls umsichtiger.
Die unsichtbaren Spuren des Unwetters werden noch länger spürbar sein. Daran, dass das neue Betonbett das Rauschen des Baches lauter macht, wird man sich wohl gewöhnen. Das gemeinsam Erlebte hat zusammengeschweißt – auch in dem Bewusstsein, eine derartige Herausforderung nur gemeinsam meistern zu können. Auch die Angst wird bleiben vorerst. Sie wird dafür sorgen, dass auch die Solidarität nicht so schnell wieder bröckelt.
Vielleicht gelingt es der kleinen Gemeinde schon davor, positivere Rituale der Gemeinschaftsbildung zu finden. Jenseits der Angst. Wenn der neue Sportplatz mit Naturtribüne fertiggestellt sein wird; oder wenn auf dem geplanten neuen Festplatz daneben der erste traditionelle Kirtag gefeiert werden wird.
Aufgebaut sein wird auch dieses künftige Wir auf dem aktuellen. Im wahrsten Sinne des Wortes. Die Fundamente der neuen Gemeinschaftsorte werden gerade aus Erdreich und Steinen gebaut, die der Bach in jener Unglücksnacht ins Tal befördert hat.
Judith Belfkih
war zwischen Juli und November vertretende Digitalchefin. Davor in der Chefredaktion der „Wiener Zeitung“.