Gefahr droht nicht mehr nur aus dem Osten, sondern auch aus dem Westen. Die USA fallen als Bündnispartner aus. Mehr noch: Donald Trump wird selbst zur Bedrohung – für die Europäische Union und damit auch für Österreich.
Jahrzehntelang verfolgte die jeweilige Regierung neben der offiziellen auch eine schlitzohrige inoffizielle Sicherheitsstrategie. Die dazugehörige Schlawiner-Doktrin: Österreich ist von NATO-Staaten umgeben, daher sind Investitionen in die Landesverteidigung überflüssig. Im Ernstfall werden uns die anderen schon schützen. So präsentierte sich die gelebte Neutralität, obwohl Österreich diese laut Gesetz mit allen ihm zu Gebote stehenden Mitteln verteidigen müsste.
Mehr Heer
Jahrzehntelang konnte es sich die Republik leisten, das Bundesheer zu vernachlässigen. Das Verteidigungsbudget lag unter einem Prozent des Brutto-Inlandsprodukts (BIP) – ein Negativrekord in der EU. Erst mit dem Überfall auf die Ukraine im Februar 2022 setzte ein Umdenken ein. Ausgerechnet in einer Regierung mit grüner Beteiligung wurde das größte Aufrüstungsprogramm in der Geschichte des Heeres gestartet.
Trotz aller budgetären Probleme hält auch die neue Regierung daran fest und setzt den Aufbauplan „Unser Heer 2032+“ fort. Durch eine Novelle des Landesverteidigungs-Finanzierungsgesetzes soll das budgetäre Ziel für das Bundesheer auf zwei Prozent des BIP angehoben werden. Statt auf Auslandseinsätze und den Katastrophenschutz soll sich das Heer wieder auf seine primäre Aufgabe, die militärische Landesverteidigung im gesamten Bundesgebiet, konzentrieren.
Dazu wird das Heer mehr Personal mit besserer Ausrüstung, etwa modernen Sturmgewehren, erhalten. Die Infrastruktur in den Kasernen wird erneuert. Und Milliarden fließen in Beschaffungen: Die am Nutzungsende stehenden C-130-Hercules-Transportflugzeuge werden ersetzt und die Hubschrauberflotte erneuert. Von Italien werden zwölf Leonardo-Unterschall-Jets erworben. Auch über die Nachbeschaffung der 25 Jahre alten Eurofighter wird diskutiert. Am europäischen Raketenabwehrprogramm Sky Shield wird Österreich weiter teilnehmen und Luftverteidigungssysteme um insgesamt sechs Milliarden Euro anschaffen.
Einsatz am Balkan
Doch was kann das Bundesheer in die europäische Verteidigungsunion oder gar in eine zukünftige EU-Armee einbringen? General Robert Brieger, ehemaliger Generalstabschef des Bundesheeres und derzeit Vorsitzender des Militärausschusses der Europäischen Union, formuliert es allgemein: „Wie alle Mitgliedstaaten ist auch Österreich aufgerufen, einen glaubwürdigen Beitrag zur europäischen Verteidigungspolitik zu leisten. Dies kann sich in der Fortsetzung der Beiträge zu den EU-Missionen und Operationen sowie in verstärktem Kapazitätenaufbau niederschlagen.“
Derzeit befinden sich knapp 600 österreichische Soldatinnen und Soldaten im Auslandseinsatz am Balkan. In Bosnien sind 292 Soldaten im Rahmen der EU-Mission Eufor-Althea stationiert. Im Kosovo befinden sich 273 Soldaten und übernehmen im Rahmen der KFOR-Mission unter NATO-Kommando Überwachungs- und Sicherungsaufgaben. Zusätzlich stellt das Heer 150 operative Reservekräfte für den Westbalkan, die in Krisenfällen von Österreich in die Region verlegt würden.
Was den Balkan betrifft, besitzt Österreich spezifische Kenntnisse, die bis in die Monarchie zurückreichen. So verfügt das Bundesheer über alte Militärkarten aus der k. u. k. Zeit, auf denen längst vergessene Pfade und Steige durch die Schluchten des Balkans eingezeichnet sind.
Während der Balkankriege nach dem Zerfall Jugoslawiens ab 1991 horchte das für die Auslandsaufklärung verantwortliche Heeres-Nachrichtenamt den Telefon- und Funkverkehr der Region ab. „Im Prinzip konnten wir feststellen, wenn irgendwo in der Nähe von Pristina ein Funkgerät eingeschaltet wurde“, sagte ein Heeresoffizier einmal gegenüber profil. Die so gewonnenen Informationen behielt Österreich nicht für sich.
Lauschangriffe des Bundesheeres
Schon im Kalten Krieg belauschte das Heeres-Nachrichtenamt den Funkverkehr auf dem Balkan. Die Bänder gingen direkt an die USA, vor allem an die National Security Agency (NSA). Die Neutralität war dabei kein Hindernis. Die notwendigen Horchstationen wie jene auf der Königswarte bei Hainburg waren von den USA eingerichtet worden.
Dazu stand der Balkan stets im Zentrum der österreichischen Außenpolitik. Wien trieb den EU-Beitritt von Slowenien und Kroatien voran und unterstützt die Annäherung der Westbalkan-Staaten (Albanien, Bosnien und Herzegowina, Kosovo, Montenegro, Nordmazedonien) an die Union. Dieser außenpolitische und militärische Fokus Österreichs ist für die EU von Nutzen, zumal Russland stetig versucht, über seinen Verbündeten Serbien seinen Einfluss in der nicht gerade stabilen Region auszubauen.
Neben der Friedenssicherung auf dem Balkan beteiligt sich Österreich als eines von 17 EU-Mitgliedsländern im Rahmen der Gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik an den sogenannten EU-Battlegroups. Diese schnelle Eingreiftruppe besteht aus 1500 bis 3000 Soldaten mehrerer EU-Länder, die gemeinsam üben und für ein halbes oder ein Jahr für Missionen bereitstehen. Das Einsatzspektrum reicht von humanitären Hilfeleistungen über Evakuierungsoperationen bis zur klassischen Friedenssicherung in einer Entfernung von bis zu 6000 Kilometern von Brüssel.
Österreich war unter deutschem Kommando an Battlegroups in den Jahren 2012, 2016 und 2020 beteiligt. Für das Jahr 2025 stellt das Bundesheer erneut 500 Soldaten und hat in der Logistik der Battlegroup sogar die Führungsrolle inne. Zum Einsatz kam die schnelle Eingreiftruppe allerdings noch nie.
Keine Waffen für die Ukraine
Logistische Elemente sind es auch, die Österreich in eine zukünftige Verteidigungsunion einbringen könnte. Dazu könnte das Bundesheer – in eingeschränktem Maße – Gebirgstruppen, Infanterie- und Pioniereinheiten stellen. Allerdings stehen mögliche militärische Beiträge des Bundesheeres unter einem fast 70 Jahre bestehenden Vorbehalt: dem Neutralitätsgesetz, das am 26. Oktober 1955 vom Nationalrat mit Verfassungsmehrheit beschlossen wurde.
Auch wenn die Neutralität durch den EU-Beitritt und die europäische Integration ausgehöhlt und quasi zur immerwährenden Formalität wurde, besteht ihr militärischer Kern weiter. Dieser verbietet Österreich die Teilnahme an Kampfhandlungen im Ausland sowie die Unterstützung von Kriegsparteien, egal ob es sich im Anlassfall um den Aggressor oder den Verteidiger handelt.
Die Neutralität schließt rechtlich nicht nur Waffenlieferungen an die Ukraine aus, sondern auch deren Finanzierung. Bei Abstimmungen in Brüssel über finanzielle Militärhilfen für Kyiv enthält sich Österreich der Stimme und blockiert damit keine Entschlüsse, im Gegensatz zu Ungarn.
Die Neutralität hinderte das Verteidigungsministerium auch nicht daran, 10.000 Schutzhelme und 9000 Splitterschutzwesten an die Ukraine zu liefern. Ob diese – wie geplant – nur im Zivilbereich eingesetzt werden, ist kaum zu kontrollieren.
Keine Ausbildung ukrainischer Soldaten
Mit Hinweis auf die Neutralität lehnte Verteidigungsministerin Klaudia Tanner, ÖVP, allerdings die Ausbildung ukrainischer Soldaten in der Entminung ab, im Gegensatz zur Regierung des ebenfalls neutralen Irlands. Allerdings stellt Österreich finanzielle Mittel zur Minenräumung in der Ukraine für den zivilen Bereich zur Verfügung. Dass Österreich im Falle einer Waffenruhe Bundesheer-Soldaten zur Friedenssicherung in die Ukraine schickt, ist aus jetziger Sicht wohl ausgeschlossen.
Den Neutralitätsvorbehalt erwähnte auch Kanzler Stocker bei seinem ersten Auftritt im EU-Hauptausschuss des Nationalrats am vergangenen Mittwoch. Stocker bekannte sich dazu, die europäische Verteidigungsfähigkeit, wie es EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen ankündigte, zu stärken: „Österreich unterstützt grundsätzlich die Initiativen, natürlich immer auf Basis der verfassungsrechtlichen Rahmenbedingungen.“ Und diese sehen nun einmal die Neutralität vor.
Als EU-Mitglied hat sich Österreich eigentlich zur militärischen Unterstützung anderer Staaten bekannt. Im Artikel 42 des EU-Vertrags von Lissabon aus 2007 heißt es: „Im Falle eines bewaffneten Angriffs auf das Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaates schulden die anderen Mitgliedstaaten ihm alle in ihrer Macht stehende Hilfe und Unterstützung.“
Allerdings wird diese Beistandspflicht durch die „irische Klausel“ aufgeweicht. Diese besagt, dass die Beistandspflicht „den besonderen Charakter der Sicherheits- und Verteidigungspolitik bestimmter Mitgliedstaaten“ nicht berührt. Bedeutet: Wie Irland darf sich Österreich – etwa beim Angriff auf einen baltischen Staat – auf seine Neutralität berufen und keine militärische Unterstützung leisten.
Mozart & Neutralität
Trotz des Kurswechsels der US-Administration wird es die Bundesregierung nicht wagen, eine Debatte über die Neutralität zu beginnen. Laut einer Umfrage des Meinungsforschers Peter Hajek für „Pragmaticus“ wollen drei Viertel der Bevölkerung an der Neutralität festhalten. Gleichzeitig ist nur ein Drittel der Bevölkerung davon überzeugt, dass uns die Neutralität im Ernstfall vor einem Angriff schützt.
Unter den Parlamentsparteien wagen sich nur die Neos so weit vor, die Neutralität zu hinterfragen. Am aktivsten tritt dabei der Abgeordnete Veit Dengler auf. Ende Februar bezeichnete er Österreichs Neutralität im Nationalrat als „obsolet“. Abschreckung und Stärke würden den Frieden sichern, nicht das Völkerrecht und Verträge.
In der ÖVP sieht man das anders. Als nach der russischen Invasion in der Ukraine Vertreter der Volkspartei über eine Annäherung an die NATO nachdachten, sprach der damalige Kanzler Karl Nehammer Klartext: „Österreich war neutral, ist neutral und wird neutral bleiben.“
Auch Wolfgang Amadeus Mozart währt für immer.