Das war Barack, hier kommt Obama

US-Wahl: Das war Barack, hier kommt Obama

USA. Wie sich Barack Obama nach seiner Wiederwahl neu erfinden muss

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Von Martin Kilian (Washington), Gunther Müller und Robert Treichler

Es ist keine Zeit für Komplimente. „Abgekämpft“ sehe der wiedergewählte Präsident aus, schrieb die „New York Times“; er sei jetzt zwar „reifer“ als vor vier Jahren, aber auch „von Narben gezeichnet“; wohl „weniger anfällig für Großartigkeit“, dafür vielleicht auch „weniger idealistisch“.

Es ist auch keine Zeit für Lob. In den vier Jahren in Washington habe der Wahlsieger eine Lektion gelernt, und nun werde sich zeigen, ob er dabei „die legislative Finesse erworben hat, die ihm während seiner ersten Amtszeit allzu oft gefehlt hatte“, kommentierte die „Washington Post“, die Obama, ebenso wie die „New York Times“, zur Wiederwahl empfohlen hatte.
Es ist, schlimmer noch, schon gar keine Zeit zum Verschnaufen. Barack Obama darf sich zwar bescheinigen lassen, nicht mehr so dynamisch zu wirken wie anno 2008, aber leisetreten darf er deshalb in den kommenden Wochen ganz bestimmt nicht. Noch ehe der 44. Präsident der USA am 20. Jänner des kommenden Jahres erneut die linke Hand auf die Lincoln-Bibel legt und die United States Marine Band die Präsidentenhymne „Hail to the Chief“ einzählt, wartet auf Obama bereits eine Bewährungsprobe, bei der nicht viel weniger als die Weltwirtschaft auf dem Spiel steht: die Umschiffung dessen, was Ben Bernanke, Chef der US-Notenbank, „Fiskalklippe“ genannt hat. Dabei handelt es sich um eine Reihe von Gesetzen, die automatisch am 2. Jänner 2013 in Kraft treten, falls sich Demokraten und Republikaner bis dahin nicht einigen können, wie sie das Budgetdefizit unter Kontrolle bringen. Der vermutete Effekt der krassen Ausgabenkürzungen und Steuererhöhungen: eine Rezession. Der absolute Imperativ lautet daher: Einigung, ehe die Klippe kommt.

Barack Obama wollte von 2008 an ein Präsident sein, der Gräben überwindet. Es gebe „nicht ein linkes und ein konservatives Amerika – es sind die Vereinigten Staaten von Amerika!“, sagte er damals, und weil er im selben Atemzug auch versprach, dass es nicht ein schwarzes, ein weißes, ein Latino- und ein asiatisches Amerika geben solle, sondern nur noch die Vereinigten Staaten von Amerika, glaubten ihm seine Anhänger – und nicht nur sie. Das Signal, dass ein Kind eines afrikanischen Einwanderers zum Präsidenten des mächtigsten Staats der Welt gewählt werden kann, war geschichtsmächtig und ist es immer noch. Obama verkörperte durch seine persönliche Herkunft und Biografie so viele verschiedene Kulturen, dass er fähig schien, durch seine schiere Persönlichkeit Konsens zu ermöglichen.

Das Pathos, mit dem er dieses Projekt in Angriff nahm, wirkte nicht einmal lächerlich. Es war ein zutiefst menschliches und dabei auch ein übermenschliches Unterfangen. Und es klappte nicht, jedenfalls nicht auf realpolitischer Ebene.

Alle großen legislativen Projekte – die Gesundheitsreform, das Stimulus-Paket für die Wirtschaft und die Rettung der US-Autoindustrie – fielen in die Zeit vor den Midterm-Wahlen im Herbst 2010, als ­Obamas Demokraten noch in beiden Häusern des Kongresses die Mehrheit hatten. Danach ging nichts mehr.

Das wird zu Recht vor allem den Republikanern angelastet, die sich auf keine Kompromisse einlassen wollten, doch das Versprechen, parteiübergreifende Lösungen zu finden, hatte der Obama des Jahres 2008 gegeben, der naive, idealistische Politiker, der darauf vertraute, dass sein Entgegenkommen die Front der Gegenseite bröckeln lassen werde.
Das Gegenteil passierte. Obama machte Kompromissangebote, und die republikanische Mehrheit im Repräsentantenhaus beharrte auf Maximalforderungen. Ähnlich erging es dem Präsidenten in der internationalen Politik. Im Nahostkonflikt wollte er Fairness zur Basis von Verhandlungen machen und verlangte einen Stopp des Baus israelischer Siedlungen. Israels Premier Benjamin Netanjahu ließ den US-Präsidenten abblitzen. An das iranische Volk sandte Obama gleich zu Beginn seiner Amtszeit anlässlich des persischen Neujahrsfests eine Videobotschaft, um einen „neuen Tag“ in den US-iranischen Beziehungen zu beginnen – Teheran stellte sich taub und setzte die Urananreicherung munter fort.
Das war der alte Obama, der Strahlende, von dem seine Fans dachten, er werde seinen Gegnern Erweckungserlebnisse bescheren. Jetzt kommt der neue.

Die globale Ausgangslage, die ihn erwartet, ist nicht eben rosiger geworden. In Israel wird Netanjahu an der Macht bleiben und jüdische Siedler hätscheln. Im Iran zeichnet sich keine Änderung in der Atompolitik ab. Der Wirtschaftskonflikt mit China wird auch unter der neuen Pekinger Führung in die Verlängerung gehen. Und zu Hause in Washington bleibt das Repräsentantenhaus in republikanischer Hand.

Aber Obama bekommt eine zweite Chance, und einen Fehler wird er jedenfalls vermeiden. Er bedauere, verriet er in einem Interview im vergangenen Sommer, ein entscheidendes Versäumnis: Es sei Aufgabe des Präsidenten, „dem amerikanischen Volk eine Story zu präsentieren, die den Menschen ein Gefühl von Einheit, Zweck und Optimismus gibt“. Genau an diesem Punkt versagte Obama – ausgerechnet er, der doch während des Wahlkampfs 2008 rhetorische Glanzpunkte setzte und die Wählerschaft so sehr für sich einnahm, indem er die amerikanischen Seelen streichelte, blieb als Präsident seltsam stumm. So konnte er die Massen nie mobilisieren und prallte mit seinen Vorhaben am Unwillen der Republikaner ab.

Der neue Obama bringt einerseits das politische Gewicht der Wiederwahl mit in die Verhandlungen und andererseits die Einsicht, dass annähernd die Hälfte der Wähler die Position der Republikaner unterstützt. Die Republikaner wiederum müssen einsehen, dass sie eine Fortsetzung ihrer Blockadepolitik nicht mehr damit rechtfertigen können, dass die Wähler bereits 2010 erkannt hätten, Obama sei die falsche Wahl gewesen.

Beide Seiten zeigten bereits wenige Tage nach der Wahl Anzeichen von Versöhnungsbereitschaft. Obama erneuerte vergangene Woche seinen Wunsch nach parteiübergreifendem Denken, und John A. Boehner, der republikanische Mehrheitsführer im Repräsentantenhaus, erklärte, das Volk habe beiden politischen Lagern aufgetragen, die Waffen niederzulegen und „das zu tun, was für das Land am besten ist“.

Das Problem, dass genau darüber, was das sein könnte, Uneinigkeit besteht, bleibt. Kurz gefasst: Der Präsident möchte die Einnahmen des Staats vergrößern und die Steuersätze für die Reichen erhöhen, was die Republikaner vehement ablehnen. Sie wollen den Staat zwingen, seine Ausgaben radikal zu reduzieren. Von einem Kompromiss könnten beide Seiten profitieren: Obama, weil er damit beweisen könnte, dass seiner Rhetorik Taten folgen, und die Republikaner, weil sie dringend ihren Ruf als staatstragende Partei wiederherstellen müssen.

Der Obama des Jahres 2012 hat noch ein neues Feature:
Er hat sich durch seinen zweiten Wahlsieg auch als Parteipolitiker Respekt erworben. Sein erster Erfolg 2008 hätte als historischer Zufall – aus republikanischer Sicht: Unfall – abgetan werden können, doch seit dem 6. November wissen die Strategen beider Parteien, dass sie es mit einem dauerhaften Phänomen zu tun haben – einer Koalition von Bevölkerungsgruppen, die den Demokraten eine Mehrheit sichert. Es sind dies vor allem die Afroamerikaner, Latinos, junge Wähler und Arbeiter der traditionellen Industrieregionen.

Dass die ethnischen Minderheiten bei den Demokraten eine politische Heimat gefunden haben, hat historische und aktuelle Gründe. George McGovern, der Präsidentschaftskandidat der Demokraten des Jahres 1972 (er erlitt eine vernichtende Niederlage gegen Richard Nixon), hatte als Parteivorsitzender dafür gesorgt, dass Minderheiten in der Demokratischen Partei besser vertreten waren. Damit verschreckte er damals allerdings traditionell eingestellte Unterstützer.

40 Jahre später kann sich Barack Obama auf überwältigende Mehrheiten bei nichtweißen Wählern verlassen, und die Republikaner haben den Rückgang des Anteils der weißen Wähler zu beklagen. Diesmal betrug er 72 Prozent, 2008 waren es 74 Prozent, 1992 waren es noch 84 Prozent gewesen.

Die Republikaner haben es den Demokraten zuletzt sehr leicht gemacht. Sie betrieben eine so harsche Antieinwandererpolitik, dass sie alle ethnischen Minderheiten auf geradezu fahrlässige Weise vertrieben. Während nun die Grand Old Party mit treuen, aber zu wenigen weißen Wählern dasteht und die religiöse Rechte auch kein Mehrheitsbringer mehr ist, umarmt Barack Obama die Ethnostimmen, Frauen und Arbeiter. So könnte er die Demokratische Partei in vier Jahren in stärkerer Verfassung übergeben, als er sie selbst vor vier Jahren vorgefunden hat.

Aber die harte Arbeit beginnt jetzt erst.
Obama hat in seiner Wahlkampagne bewusst darauf verzichtet, dem Volk konkrete Projekte vorzuschlagen. So bot er Romney wenig Angriffsfläche, gleichzeitig kann er nicht behaupten, er habe für bestimmte Gesetzesvorhaben ein eindeutiges Mandat bekommen. Die Zeit läuft. Bereits am Tag nach seiner Wiederwahl tauchte in Kommentaren der Begriff „Lame Duck“ auf – eine Bezeichnung für einen Präsidenten, der am Ende seiner letzten Amtszeit nicht mehr die Macht hat, Neues durchzusetzen.

Dienstag vergangener Woche markierte den Anfang vom Ende: Nie wieder wird Barack Obama in einen Wahlkampf ziehen, nie wieder eine Siegesrede halten. Ab sofort arbeitet er an seinem historischen Vermächtnis. Er könnte auf eine enttäuschende erste Amtszeit die gelungene zweite folgen lassen. Gute Tipps, wie das klappen könnte, bekommt er bereits: Er soll eine „Regierung der nationalen Einheit“ ernennen, in der auch Republikaner vertreten sind, schlug vergangene Woche David Borden, ein Berater des Präsidenten, vor. Mit einer solch dramatischen Aktion könnte Obama die Atmosphäre in Washington schlagartig verändern, glaubt der ehemalige Senator.

Genau das Gegenteil predigt Paul Krugman, linker Star-Kolumnist und Obama-Anhänger: Der Präsident solle bloß keinen faulen Kompromiss eingehen, sondern schlimmstenfalls die USA sogar über die Fiskalklippe stürzen lassen – und den Republikanern die Schuld dafür zuschieben.
Es ist doch Zeit für ein Kompliment: Obamas Persönlichkeit übt eine ungebrochene Faszination aus. Immer noch traut ihm die halbe Nation zu, die Versprechen von vor vier Jahren einzulösen. Das ist nicht wenig.