Nieselregen, quietschende Straßenbahnen, Autolärm. Der zentrale Grazer Jakominiplatz ist vergangenen Dienstag kein gemütlicher Ort-aber ausgiebig plaudern will hier sowieso niemand. Passanten stellen sich um ein Selfie mit Bundespräsident Alexander Van der Bellen an, er posiert geduldig, aber etwas ungelenk mit Marktstandlern, Schulklassen, Hipstern, Aktentaschenträgerinnen. "Alles Gute",verabschieden sich alle. Mehr Gespräch ergibt sich nicht.
Flammende Wahlkampfreden sind ohnehin nicht Van der Bellens Metier, schon als Grünpolitiker war er weniger für markige Sätze als für die ausgedehnten Pausen dazwischen berühmt. Der bedächtige Habitus war stets Markenzeichen des Anti-Politikers-und ist jetzt Angelpunkt der Kritik. War er zu ruhig?
Im langen Wahlkampf 2016 lautete Ihr Slogan "Mutig in die neuen Zeiten". Waren Sie mutig?
Van der Bellen
Wenn Sie so fragen, fange ich sofort an nachzudenken, wo ich nicht mutig war. Bin ich zurückgewichen vor Entscheidungen? Nein, im Gegenteil, bei der Ibiza-Krise etwa habe ich rasch reagiert, dabei war die Experten-Regierung nicht ohne Risiko, weil sie keine automatische Mehrheit im Parlament hatte. Also: Im Großen und Ganzen war es schon okay.
Linke werfen Ihnen vor, zu zahm mit Sebastian Kurz umgegangen zu sein.
Van der Bellen
Es ist ein Missverständnis, dass der Bundespräsident eine Art Gegenregierung darstellt. Es gab viele Gespräche mit Kurz. Teils, weil wir tatsächlich Meinungsverschiedenheiten hatten, teils, weil er überempfindlich reagierte-oft wegen Kleinigkeiten, die er als Regierungskritik verstand. Kurz war berühmt-berüchtigt dafür, sofort zum Hörer zu greifen und mein Umfeld anzurufen. Das war eine neue Erfahrung, wie empfindlich ein Kanzler sein kann.
Ist der Bundespräsident ein Korrektiv zur Regierung?
Van der Bellen
Ja, in manchen Situationen. Ich habe etwa einmal zum Thema Flüchtlinge gesagt, dass Grenzenschließen nicht die einzige Reaktion sein kann. Da bekam ich viel Echo von christlicher Seite, Ordensschwestern etwa bastelten mir eine Collage. Man muss die Kritik aber dosieren: Wenn man dauernd den Kurs der Regierung kommentiert, verliert das an Gewicht. Man muss sich gut überlegen, wann man das einsetzt.
Altbundespräsident Heinz Fischer steuert quietschvergnügt auf einen Würstelstand im 8. Wiener Bezirk zu, Van der Bellen im Schlepptau. Fischer bestellt voll Elan zwei Mal Bratwurst, fordert die Medientraube auf, Fragen zu stellen, hält eine Lobrede auf die "Ruhe und Übersicht" seines Nachfolgers. Van der Bellen lobt, dass er von Fischer das Abwägen gelernt hat. Mit dem Wahlvolk kommt er hier nicht in Kontakt, dazu sind zu viele Fernsehkameras da. Fischer verdrückt noch eine Bosna.
Van der Bellen stilisiert sich im Wahlkampf als Stabilo Boss. Hektik verbreitete er in der Tat nie, eher heitere Lässigkeit, manchmal auch Distanz. Fischer hatte das Amt republikanisiert, sich Interviews gestellt. Unter Van der Bellen hielt wieder Frontalunterricht Einzug: Videobotschaften und Reden.
Das war eine neue Erfahrung, wie empfindlich ein Kanzler sein kann.
Van der Bellen über Sebastian Kurz
Ihr berühmtester Satz war: "So sind wir nicht." Haben Sie sich angesichts der vielen Korruptionsaffären getäuscht, sind wir doch so?
Van der Bellen
Habe ich nicht hinzugefügt, dass wir beweisen müssen, dass wir nicht so sind? Eben. Es geht darum, dass wir jeden Tag versuchen, das Beste aus uns herauszuholen.
Schon Bundespräsident Rudolf Kirchschläger klagte über "saure Wiesen" der Korruption.
Van der Bellen
Richtiger Inhalt, falsche Metapher: Saure Wiesen sollten gerade nicht trockengelegt werden, weil sie CO2-Speicher sind, wie wir mittlerweile wissen. Aber: Natürlich bin ich gegen Korruption und die österreichische Krankheit der Freunderlwirtschaft. Parteien neigen dazu, bei Postenbesetzungen zu fragen: Ist das einer von uns? In der Wissenschaft und Wirtschaft ist es üblich, Projekte international begutachten zu lassen, weil in Österreich jeder jeden kennt. Das kann man nicht 1:1 in die Politik übertragen. Aber wir müssen von der Freunderlwirtschaft weg.
Zu Ihren Aufgaben gehört es, Postenbesetzungen zu unterschreiben.
Van der Bellen
Manche Bestellungsakte, etwa aus dem Verteidigungsministerium, habe ich mir angeschaut und festgestellt, dass sie nicht mit der Ausschreibung übereinstimmen. Dann habe ich nicht unterschrieben. Oder: Innenminister Herbert Kickl wollte Herrn Goldgruber als Generaldirektor bestellen und drängte, es sei eilig, ich sollte unterschreiben. Ich bestand darauf, mir das übers Wochenende anzuschauen. Währenddessen wurde aber das Ibiza-Video veröffentlicht.
Haben Sie sich zu spät zu den Chat-Protokollen geäußert, in denen es oft um Postenschacher geht?
Van der Bellen
Es ist wichtig, dass die Justiz unbeeinflusst ihren Aufgaben nachgehen kann. Insofern bin ich zurückhaltend. Das Amoralische in den Chats, wie über Kirche, Kollegen, Frauen geredet wird-da hätte ich rückblickend früher etwas sagen sollen. Ich bin aber ungern der Moralapostel. Dazu muss ich mich überwinden.
Es wird aber erwartet.
Van der Bellen
Auch mit Recht.
Van der Bellen lehnt mit Hund am Fenster der Hofburg, raucht und seufzt: "Pfoah, das wird fad!" Das Original der Karikatur von "Kurier"-Zeichner Michael Pammesberger hängt bei Van der Bellen. Fad war ihm nie, auch er wunderte sich, was alles möglich ist: Ibiza-Affäre. Innenminister Herbert Kickl entlassen. Expertenregierung mit Kanzlerin Brigitte Bierlein gekürt. Angelobungsrekord. Bisher galt der Bundespräsident als ein verstaubter Ersatzkaiser, dessen Rechte nur am Papier bestehen. Schon in der Ersten Republik bedankte sich Bundespräsident Michael Hainisch ironisch, als ihm ein Passant ein Taschentuch aufhob: Das sei das einzige Ding, in das er seine Nase stecken dürfe. Viele Nachfolger klagten über Langeweile, Adolf Schärf monierte etwa seine "beschränkten Aufgaben". Und wenn, wie Thomas Klestil, ein Staatsoberhaupt versuchte, Muskeln spielen zu lassen und eine Regierung zu verhindern, stieß er prompt an Grenzen: Klestil musste Schwarz-Blau angeloben, nur seine eisige Miene blieb als Kontrapunkt.
Van der Bellen ist der erste Bundespräsident, der nach Ibiza Teile der weitreichenden Macht nutzte. Seither hält niemand mehr das Amt für überflüssig.
Es gab eine Situation, wo der Bundespräsident die Regierung hätte entlassen sollen - 1933, als Dollfuß das Parlament kaltstellte.
Alexander Van der Bellen
Ihre Mitbewerber sagen, Sie würden die Bundesregierung entlassen. Das kann der Bundespräsident. Ist das ein Fehler in der Verfassung?
Van der Bellen
Es zeigt jedenfalls, dass das Amt des Bundespräsidenten mit Verantwortungsbewusstsein auszuüben ist. Gerade dieser Verfassungsartikel kann leicht dazu führen, dass man Chaos und Serien von Misstrauens-Voten erzeugt. In den 100 Jahren Republik gab es nur eine Situation, wo der Bundespräsident die Regierung hätte entlassen sollen-1933, als Dollfuß mit fadenscheinigen Argumenten das Parlament kaltstellte. Aber mit diesen Möglichkeiten der Verfassung spielt man nicht.
Der Wahlkampf eines Bundespräsidenten ist wegen der Zwitterrolle Wahlkämpfer und Amtsinhaber schwierig. Heinz Fischer schlug vor: die Legislaturperiode des Bundespräsidenten auf acht Jahre verlängern, dafür die Wiederwahl streichen.
Van der Bellen
Wir haben im Rechnungshof eine ähnliche Regelung, bei der Europäischen Zentralbank auch. Man könnte erwägen, das auch beim Bundespräsidenten zu machen-aber darüber reden wir bitte nach der Wahl.
Könnte ein Bundespräsident wie in Deutschland vom Parlament bestellt werden?
Van der Bellen
Ich möchte das nicht. Schon allein deswegen, weil ich persönlich angesichts der Mehrheitsverhältnisse im Parlament nie eine Chance gehabt hätte, Bundespräsident zu werden. Im Ernst: Deutschland bestellt durch das Parlament, aber ich sehe keinen Grund, das zu kopieren.
Van der Bellen ist in Graz mit den Selfies fertig, schlendert rauchend über den Markt, der Mitnehm-Aschenbecher ist stets dabei. "Der Gerald Grosz taugt mir mehr",schreit ein Mann vom Standl "Steira Box" und hebt sein Bier. Van der Bellen überhört es.
Der Gegenwind für ihn ist aber unübersehbar: Schrille Gegenkandidaten setzen ihm von rechts zu, Dominik Wlazny alias Marco Pogo punktet links. Dennoch könnte die Wahl im Vergleich zu 2016 ein kurzer Spaziergang werden, damals wurde fast ein Jahr versucht, den Bundespräsidenten zu wählen-und ein Monstrum als Wort des Jahres gekürt: "Bundespräsidentenstichwahlwiederholungsverschiebung."
Noch kein Amtsinhaber musste je in eine Stichwahl. Van der Bellens härteste Gegner sind unsichtbar: Nichtwähler. Zorn über Corona. Teuerung. Krieg. Energiekrise.
Van der Bellen: In dieser Situation kommt auf den Bundespräsidenten zusätzliche Verantwortung zu. Wir hatten auch früher Krisen, etwa die Finanzkrise, aber nicht diese multiplen Krisen-und keinen Krieg.
Es ist wichtig, dass die Justiz unbeeinflusst ihren Aufgaben nachgehen kann. Insofern bin ich zurückhaltend.
Alexander Van der Bellen zu den Chat-Protokollen der ÖVP
Der Zorn auf die Politik und "das System" ist groß.
Van der Bellen
Zur Demokratie gehören Austausch von Argumenten, die Suche nach Kompromissen. Wenn wir nicht mehr miteinander reden, sondern einander anschreien, wie soll Demokratie funktionieren? Der öffentliche Raum kann nicht jenen gehören, die am meisten Lärm machen. Hass im Netz, die Rolle der sozialen Medien gehört hinterfragt. Ich bin aber zuversichtlich, dass unsere Demokratie robust genug ist, um mit diesen Veränderungen fertig zu werden.
Wie sehr muss sich ein Bundespräsident in Krisenarbeit einmischen, etwa die Pakete der Regierung bewerten?
Van der Bellen
Bei derartigen technischen Fragen ziehe ich das Gespräch vor. Also mit Ministern zu diskutieren: Was sind die Alternativen? Wie viel Streuverluste nehmt ihr in Kauf, weil es schnell gehen muss? Das passiert aber nicht öffentlich. Schnelle Schlagzeilen gehören nicht zu den Aufgaben des Bundespräsidenten.
Eigentlich war Van der Bellen 2016 schon in Gleitpension: Er saß als Ex-Parteichef auf der Hinterbank des Wiener Gemeinderates, als ihn die Grünen zur Kandidatur überredeten. Mit dem Begriff "Heimat" gewann er die Wahl-und zierte sich lange, seine Wiederkandidatur bekannt zu geben. Warum tun er sich das mit 78 an?
Van der Bellen
Mir macht das solche Freude! Zwei Wahlplakate verwenden Sujets aus dem Kaunertal. Ich finde es nicht selbstverständlich, dass mir als Flüchtlingskind diese Heimat geschenkt wurde. Daher fühle ich mich Österreich so verbunden, dass es mir täglich Freude macht, in die Hofburg zu gehen. Der Hund rast den langen Teppich voran. Er fühlt sich dort genauso wohl wie ich.