Dreier-Koalition gescheitert: Wie machen ÖVP und SPÖ jetzt weiter?
96 Tage sind seit der Nationalratswahl am 29. September 2024 vergangen. Länger warteten die Österreicherinnen und Österreicher bisher nur vier Mal auf eine neue Regierung. Seit heute ist sicher: Das Warten geht weiter. Nach wochenlangen Verhandlungen steigen die Neos aus den Verhandlungen um eine Dreier-Koalition mit ÖVP und SPÖ aus.
Wie geht es nun weiter?
Bundespräsident Alexander Van der Bellen hat ÖVP-Chef Karl Nehammer und SPÖ-Chef Andreas Babler bereits zu Mittag in die Hofburg zitiert. Das Ergebnis: Die beiden ehemaligen Großparteien verhandeln weiter zu zweit - vorerst, und mit unklarem Ausgang.
Viele Optionen für eine neue Regierung gibt es nicht:
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ÖVP, SPÖ und die Grünen
Ein “Dreier” ist gescheitert, doch den beiden ehemaligen Großparteien ÖVP und SPÖ stünde theoretisch ein weiterer Partner zur Verfügung: Die Grünen haben bisher stets erklärt, erneut Regierungsverantwortung übernehmen zu wollen. Doch vor allem die Volkspartei hat nach fünf Jahren türkis-grüner Koalition genug von der Öko-Partei. Bisher galt eine weitere Zusammenarbeit daher aus ÖVP-Sicht als ausgeschlossen. Dass sich die Volkspartei den Grünen durch den Neos-Ausstieg wieder annähern könnte, ist unwahrscheinlich. Dafür gibt es innerhalb der Volkspartei in Bund und Ländern zu wenige Kräfte, die von den Grünen noch nicht frustriert wurden - und zu viele, die mit der FPÖ zusammenarbeiten.
Dazu kommt: Werner Kogler wird noch heuer als Grünen-Chef zurücktreten. Neben dem oberösterreichischen Umweltlandesrat Stefan Kaineder gelten Justizministerin Alma Zadić und Klimaschutzministerin Leonore Gewessler als Favoritinnen für den Job. Doch Zadić hat sich durch ihren Schutz der Wirtschafts- und Korruptionsstaatsanwaltschaft (WKStA), die gegen die Volkspartei ermittelt, in der ÖVP unbeliebt gemacht. Dass sie in den letzten Interviews vor der Geburt ihres zweiten Kindes der Volkspartei vorwarf, die Justiz bewusst kleinhalten zu wollen, dürfte die türkise Antipathie nur steigern. Gewessler gilt für die ÖVP ohnehin als persona non grata, etwa weil sie den Bau neuer Autobahnen gestoppt und dem EU-Renaturierungsgesetz zugestimmt hat.
Vor allem wollen die Grünen aber sichtlich nicht nur für die Neos einspringen. Nach Meinl-Reisingers Pressekonferenz befand Kogler, dass ÖVP, SPÖ und Neos den Österreicherinnen und Österreichern „Antworten schuldig“ seien und forderte Aufklärung nach der pinken „Flucht aus der Verantwortung“: „Alle verhandelnden Parteien müssen sich jetzt erklären. Das ist eine Notwendigkeit, bevor nächste Schritte gemacht werden können.“ Das klingt nicht nach einem fliegenden Wechsel.
ÖVP und SPÖ (mit möglicher Unterstützung)
Die Neos sind zwar aus den Koalitionsverhandlungen ausgestiegen, ganz aus dem Spiel sind sie dennoch nicht. Bei ihrer heutigen Pressekonferenz betonte Neos-Chefin Beate Meinl-Reisinger explizit die Bereitschaft ihrer Partei, in jenen Bereichen zusammenarbeiten zu wollen, bei denen es während der Verhandlungen mit ÖVP und SPÖ zu Einigungen gekommen war (welche genau das sind, sagte sie nicht, Nachfragen der anwesenden Journalistinnen und Journalisten ließen die Neos nicht zu).
Was auf den ersten Blick wie ein Angebot für eine Minderheitsregierung aussieht, ist keines. Das bräuchte es gar nicht, denn formal hätten SPÖ und ÖVP eine knappe Mehrheit im Nationalrat. Diese ist allerdings nur durch ein einziges Mandat abgesichert und somit höchst instabil. Deswegen wäre in diesem Szenario eine parlamentarische Zusammenarbeit mit den Neos im Parlament sinnvoll, um Mehrheiten für gewisse Gesetzesentwürfe besser abzusichern. Diese punktuelle Zusammenarbeit ginge freilich auch mit den Grünen.
Für diese bräuchte es eine Zusicherung der Oppositionsparteien, sich bei Misstrauensvoten gegen die Regierung zu enthalten oder gar dagegen zu stimmen. „Sie wäre somit eine Art Teil-Opposition,“ sagt Politologe Hubert Sickinger. Im Gegenzug müssten ihnen die Koalitionsparteien die Möglichkeit einräumen, Projekte durchzubringen, die ihnen wichtig sind. Voraussetzung dafür wäre allerdings, dass sich SPÖ und ÖVP ihrerseits auf ein Regierungsprogramm einigen, das zudem diese Optionen zulässt. Es wäre ein Novum für Österreich, nicht jedoch in Europa. „Minderheitsregierungen sind in europäischen Demokratien weit verbreitet,“ sagt Sickinger. „Regierung muss nicht immer Koalition bedeuten.“
FPÖ und ÖVP
„Populismus ist keine Lösung“, erklärte Neos-Chefin Meinl-Reisinger bei ihrer heutigen Pressekonferenz während ein großes, totes Blatt von der einzigen Pflanze in der „NEOSphäre“ abfiel. Die meiste Freude dürfte am heutigen Tag dennoch in der Parteizentrale der Freiheitlichen ausgebrochen sein. Die FPÖ hofft schon länger auf ein Scheitern der schwarz-rot-pinken Verhandlungen, um dann doch den Sprung in die Bundesregierung zu schaffen.
Für eine Zusammenarbeit von FPÖ und ÖVP gibt es sechs schlagkräftige Argumente: Fünf Bundesländer, in denen die beiden Parteien bereits koalieren (in der Steiermark erstmals auch unter der Führung der Freiheitlichen). Argument sechs: Das Wirtschaftsprogramm der beiden Parteien auf Bundesebene ist nahezu ident. Letzteres liegt auch daran, dass die Industriellenvereinigung (IV) an beiden Papieren mitgeschrieben hat. Die Industrie drängt daher schon länger auf Blau-Schwarz.
Stand jetzt hat sich am blauen Dilemma aber nichts verändert: ÖVP-Chef Karl Nehammer hat eine Koalition mit FPÖ-Chef Herbert Kickl bisher dezidiert ausgeschlossen - und hat wenig Anreiz, sein Wort zu brechen um vom Kanzler zum Vizekanzler abzusteigen.
Die Freiheitlichen waren daher heute weiter bemüht, Nehammer als ÖVP-Chef zu entfernen: „Es ist Zeit für Ihren Rücktritt, Herr Nehammer!“, richtete FPÖ-Generalsekretär Michael Schnedlitz dem Parteichef der Volkspartei aus. Innerhalb der ÖVP wurden die Stimmen gegen Nehammer zuletzt zunehmend lauter, auch Gerüchte über eine mögliche Rückkehr von Ex-ÖVP-Chef Sebastian Kurz verdichteten sich. Die deutsche “Bild”-Zeitung kündigte am Freitag gar ein „Sensations-Comeback” an. Geschrieben wurde der entsprechende Artikel von Kurz-Biograf Paul Ronzheimer. Kurz dürfte allerdings kaum als Kickls Juniorpartner einspringen wollen, sondern auf Neuwahlen drängen (dazu später mehr). Will die ÖVP direkt mit den Freiheitlichen zusammenarbeiten, könnte sie stattdessen Wirtschaftskammer-Generalsekretär Wolfgang Hattmannsdorfer oder EU-Ministerin Karoline Edtstadtler an die Parteispitze hieven.
Alternativ könnte Kickl Blau-Schwarz auch selbst den Weg ebnen, wie ausgerechnet Ex-FPÖ-Chef Heinz-Christian Strache am Freitag erinnerte: Es gebe fünf Landesregierungen, in denen ÖVP und FPÖ gut zusammenarbeiten würden, und: „Herbert Kickl sollte jemanden aus diesem Kreis als möglichen FPÖ-Kanzler vorschlagen!” Strache empfiehlt seinem Nachfolger also den Schritt zur Seite. Dass Kickl als Wahlsieger diesen setzen wird, bleibt allerdings unwahrscheinlich. Und auch die blauen Landesorganisationen haben kaum Grund, Kickls Führungsanspruch in frage zu stellen: Bei allen überregionalen Wahlen konnte die FPÖ 2024 zulegen, auch bei den kommenden Landtagswahlen im Burgenland und in Wien sowie den Gemeinderatswahlen in Niederösterreich, Vorarlberg und der Steiermark hat die Partei beste Karten - egal, ob sie im Bund regiert oder nicht.
FPÖ und SPÖ
Die derzeit wohl unwahrscheinlichste, rechnerisch mögliche, Variante wäre eine Koalition aus FPÖ und SPÖ. Doch für die Bundes-SPÖ ist nicht nur Herbert Kickl, sondern die ganze freiheitliche Partei ein Tabu. Es gibt einen aufrechten Parteitagsbeschluss gegen eine Koalition mit der FPÖ. Vor allem Andreas Babler könnte als Vertreter des linken Flügels der SPÖ keine Koalition mit einer immer extremeren, rechten FPÖ rechtfertigen. Vor allem dürfte der SPÖ-Chef aber tatsächlich lieber in Opposition gehen, als mit den Freiheitlichen zu koalieren.
Vorstellbar wäre Blau-Rot folglich auch nur, wenn Babler als SPÖ-Chef zurücktritt - doch selbst dann bleibt diese Option unwahrscheinlich: Im aktuellen SPÖ-Klub gibt es zu viele Abgeordnete, die eine Koalition mit der FPÖ klar ausgeschlossen haben und dies auch tatsächlich so meinen dürften.
Neuwahlen
Für Neuwahlen bräuchte es das herkömmliche Prozedere – der Nationalrat, der sich erst am 24. Oktober des Vorjahres konstituiert hat, müsste sich auflösen, die Bundesregierung müsste, gemeinsam mit dem Hauptausschuss des Nationalrats einen Wahltermin festlegen – die Frist sind 82 Tage. Vor April wäre eine Neuwahl folglich unmöglich.
Wie sich Neuwahlen auf das Wahlergebnis auswirken würden, kann nicht seriös geschätzt werden. Die Wahlen, die in Österreich am knappsten nacheinander stattgefunden haben, waren jene in den Jahren 1970 und 1971 – zunächst formierte Bruno Kreisky (SPÖ) eine von der FPÖ gestützte Regierung, im Jahr darauf bekam seine SPÖ die absolute Mehrheit. „Das ist jedoch mehr als 50 Jahre her“, sagt Meinungsforscher Peter Hajek. „Was heute passieren würde, ist völlig ungewiss.“
Die Umfragen nach der Nationalratswahlen vom 29. September würden jedenfalls zeigen, dass die FPÖ noch stärker werden könnte, womöglich gut über 30 Prozent der Stimmen, sagt Hajek. Dies hätte zur Folge, dass keine Regierung Verfassungsgesetze ohne die Freiheitlichen mehr durchbekommen könnte. Die ÖVP könnte weiter verlieren, wohl mehr als die SPÖ, Neos eventuell leichte Zugewinne verzeichnen.
Was in diesem Szenario eine mögliche Kandidatur von Ex-ÖVP-Kanzler Sebastian Kurz bedeuten könnte, die die deutsche Bild-Zeitung ventiliert und ob sie die Freiheitlichen vom ersten Platz stoßen könnte, ist mehr als fraglich, sagt Wahlforscher Christoph Hofinger. „Kurz hat 2019 die FPÖ geschlagen, aber wir haben nicht mehr 2019.”
Welche dieser Optionen werden ÖVP und SPÖ wählen?
Bei der SPÖ tagte am Nachmittag das Bundesparteipräsidium. Dabei war überraschenderweise auch Wiens Bürgermeister Michael Ludwig anwesend. Eigentlich hatte sich Ludwig aus den Bundesgremien seiner Partei zurückgezogen, doch wenn er will, kann der Wiener SPÖ-Chef jederzeit den wichtigsten Sitzungen der Sozialdemokratie beiwohnen. Derzeit nutzt er dieses Recht offenbar. Nach der Sitzung des Präsidiums trat SPÖ-Chef Andreas Babler gemeinsam mit Eva Maria Holzleitner, Josef Muchitsch und Philip Kucher vor die Medien und betonte: Die SPÖ will die Verhandlungen mit der ÖVP fortsetzen, der Ball liege nun bei Karl Nehammer. Fragen der anwesenden Journalist:innen, etwa, ob der SPÖ unklar sei, ob die ÖVP noch mit ihr koalieren möchte, wurden nicht beantwortet.
Im Vorstand der Volkspartei soll Karl Nehammer am Nachmittag "der Rücken gestärkt" worden sein, heißt es aus der ÖVP. In einem danach veröffentlichten Social-Media-Video zählt Nehammer noch einmal die inhaltlichen Forderungen seiner Partei auf. Ob, wie und mit wem die Koalitionsverhandlungen fortgesetzt werden sollen, verrät der aktuelle Kanzler in dem zweiminütigen Video nicht. Erst am Freitagabend, nach dem Statement der SPÖ, hieß es aus der ÖVP zur APA, dass weitere Verhandlungen zwischen ÖVP und SPÖ vereinbart worden seien - zu zweit. Nur wann diese Gespräche stattfinden sollen, ist noch offen.
Ob sie erfolgreich sein werden, ohnehin.