Verteilung von Flüchtlingen: Babler und Ludwig allein zu Haus
Von Clemens Neuhold
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Anfang Juni 2023 wurde Andreas Babler der neue Vorsitzende der Sozialdemokratie. Ende Juni äußerte er sich erstmals konkreter zu einem Thema, das die Partei seit Jahren in zwei Lager spaltet: Zuwanderung und Migration. „Migration ist gerade kein großes Thema“, sagte er damals. Babler gehörte von Beginn an dem linken „Wir schaffen das“-Flügel an und wollte das heiße Thema nicht ohne Not aufgreifen.
Auf den ersten Blick lag er damals richtig. Denn bei seinem Amtsantritt verzeichnete Österreich die niedrigsten Asylantragszahlen des gesamten Jahres 2023 – ein Bruchteil im Vergleich zum Höhepunkt der Flüchtlingswelle 2016. Was Babler aber übersah: die Familiennachzugswelle, die sich gerade aufbaute.
Als Babler den SPÖ-Vorsitz im Juni 2023 übernahm, wurden in diesem Monat 769 Anträge von vorwiegend syrischen Müttern und Kindern auf Einreise nach Österreich gestellt. Eine Verdoppelung gegenüber Jänner 2023. Im Dezember 2023 waren es bereits 1000 Anträge. Da es die meisten Angehörigen zu den asylberechtigten Vätern nach Wien zieht, sind Schulen, Wohnungsmarkt und Sozialsysteme in der Hauptstadt immer stärker überlastet. Mit dem Familiennachzug ist das alte rote Streitthema Migration voll zurück. In der profil-Umfrage über die wichtigsten Polit-Themen der Österreicher von Ende April rangierte Zuwanderung hinter der Inflation bereits klar auf Platz zwei.
Das Ende des „Wir schaffen das“-Modus
Wegen der übervollen Schulen und der Wohnungsnot syrischer Familien scherte Wiens Bürgermeister Michael Ludwig nun erstmals aus dem „Wir schaffen das“-Modus aus, der seit 2015 in der Wiener SPÖ vorherrschte. Ludwig forderte die anderen Bundesländer auf, mehr Asylwerber aufzunehmen. Diese sollten außerdem durch eine Residenzpflicht im Bundesland gehalten werden, damit nicht alle nach Wien ziehen. Und Babler sekundierte. Am Tag vor dem 1. Mai forderte er vom Bund ein Gesetz über eine Aufteilungspflicht von Asylwerbern auf alle Bundesländer: „Familiennachzug soll dort stattfinden, wo er möglich ist. Wo Schulkapazitäten da sind, wo Menschen Wohnraum und Arbeitsplätze finden.“
Dass die ÖVP in Bund und Land Ludwig und Babler abblitzen ließ, konnte nicht verwundern. Im Nationalratswahljahr ist kaum Platz für sachliche Debatten – schon gar nicht beim Streitthema Asyl. Die ÖVP spielte den Ball zurück an Wien und forderte die Landesregierung auf, weniger Sozialhilfe an Flüchtlinge auszuzahlen. Denn auch das ziehe Flüchtlinge an.
Was eher verwunderte: das Schweigen der restlichen Sozialdemokratie quer durch Österreich. Der Hilferuf aus Wien verhallte ohne Echo. Von Vorarlberg über Kärnten bis Salzburg und Burgenland gelobte kein Landesparteichef öffentlich, Wien beizustehen, indem man als Teil der Landesregierung mehr Familien aufnimmt oder als Teil der Opposition Druck auf die Landesregierung ausübt, das übervolle Wien zu entlasten.
Das von der SPÖ absolut regierte Burgenland schwenkte sogar in die Gegenrichtung. Am 1. Februar hatte Landeshauptmann Hans Peter Doskozil eine jährliche Asyl-Obergrenze von 10.000 für ganz Österreich gefordert. Um die Forderung zu unterstreichen, übernahm das Burgenland in den folgenden Monaten praktisch keine Asylwerber in die Grundversorgung des Landes – vom 1. Februar bis zum 20. April waren es ganze zwölf aus Ländern wie Syrien oder Afghanistan (ohne Ukraine). Das ist selbst im Verhältnis zur Bevölkerungszahl ein Bruchteil der anderen Bundesländer, auch jener mit der FPÖ in der Regierung. Das schwarz-blaue Oberösterreich lag mit 830 übernommenen Asylwerbern nicht nur klar vor dem Burgenland, sondern in diesem Zeitraum sogar vor Wien.
Wahljahr 2025 wirft Schatten voraus
Die strategische Stoßrichtung des Burgenlandes ist klar: Doskozil war in Migrationsfragen der Anführer des rechten Flügels innerhalb der SPÖ. Im Kampf um die Parteispitze konnte er sich im Frühjahr letzten Jahres nicht gegen den linken Andreas Babler durchsetzen. Deswegen will er mit seiner rechteren Law- and-Order-Politik zumindest im Burgenland erneut die absolute Mehrheit holen. Sein Bundesland wählt im Jänner 2025.
Auch das Drängen Bablers, mehr Asylwerber vom Bund zu übernehmen, um Wien zu entlasten, passt nicht in Doskozils Drehbuch. Noch weniger passt es in sein Drehbuch, auf den Wiener Bürgermeister zuzugehen. Das zunächst gute Verhältnis zwischen den Alpha-Tieren Ludwig und Doskozil war kurz vor der Kampfabstimmung um den Parteivorsitz auf eine Parteifeindschaft abgekühlt. Nach einer Reihe gegenseitiger Sticheleien und Untergriffe unterstützte Ludwig am Ende das Team Babler – und Doskozil verlor.
Im Herbst 2025 wird auch in Wien gewählt. Wer Doskozil kennt, kann sich ausmalen, wie sehr ihn die Aussicht anspornt, bei den Landtagswahlen deutlich besser als Ludwig abzuschneiden. „Doskozil wird den Teufel tun, Wien Flüchtlinge abzunehmen“, sagen Kenner seiner Person, die nicht zitiert werden wollen. Zusatz: Das wäre auch für andere SPÖ-Landesorganisationen „Selbstmord mit Anlauf“ angesichts der aktuell sehr zuwanderungskritischen Stimmung in der Bevölkerung.
Hergovich, der neue Hardliner
Mehr Platz für Flüchtlinge hätte derzeit noch Niederösterreich, das Heimatbundesland des SPÖ-Chefs und Traiskirchner Bürgermeisters. Doch wer dem Chef der Landes-SPÖ, Sven Hergovich, zuhört, versteht schnell, warum Niederösterreich beim Familiennachzug keine innerparteilichen Solidaritätsadressen an Wien schickt. „Wir müssen die Migrationszahlen drastisch reduzieren. Das ist ganz, ganz wesentlich“, gab Hergovich im TV-Talk mit der „Kronen-Zeitung“ den neuen Hardliner in der Partei. Die grassierenden Migrationsprobleme sehe jeder, der mit „offenen Augen durch die Welt“ gehe. „Wer Regeln bricht, muss gehen“, sagte Hergovich, ohne groß zwischen Messerstechern und Zigarettendieben zu unterscheiden.
Hergovich bekannte sich auch demonstrativ zu Asyl-Obergrenzen und zum SPÖ-Migrationspapier, das Doskozil mit dem Kärntner Landeshauptmann Peter Kaiser 2018 erarbeitet hatte. Darin wurden „Integration vor Zuwanderung“ oder „Asylverfahren außerhalb der EU“ gefordert. Die Partei beschloss das Papier damals zwar, dem linken Parteiflügel war es aber von Anfang an zu rechts, und es verschwand in der Schublade der Partei. Wenig überraschend ging Babler nach Amtsantritt auf Distanz zum Doskozil-Kaiser-Werk und kündigte an, es zu „überarbeiten“ – was nie passierte.
Es ist ganz, ganz wesentlich, die Migration nach Österreich drastisch zu reduzieren.
Ein Fan der Ursprungsversion ist bis heute Salzburgs SPÖ-Chef David Egger, der bei der Kampfabstimmung Doskozil unterstützte. „Heute kommt man drauf, dass die Vorschläge in unserem Migrationspapier gar nicht so deppert waren.“ Zum Vorstoß Wiens für eine Residenzpflicht meint Egger: „Vor einer verpflichtenden Aufteilung von Asylwerbern in Österreich braucht es eine gerechtere Verteilung in Europa – auch mittels nationaler und europäischer Obergrenzen.“ Über dieser Grenze sollten Asylanträge nicht mehr angenommen werden. Soforthilfe für Wien schaut anders aus.
„Mein Kindergarten ist am Anschlag“
Egger ist auch Bürgermeister in Neumarkt am Wallersee mit 6600 Einwohnern. Die Integration der zehn bis 15 Syrer, Afghanen und Somalis im Ort laufe reibungslos. Das funktioniere aber nur bis zu einer gewissen Grenze. „Ich bin so weit solidarisch, wie ich es sein kann. Mein Kindergarten ist personaltechnisch auch am Anschlag, und auch die Schulen sind bereits gut gefüllt.“ Eine Angst, die nicht nur in seiner Gemeinde mitschwingt: dass man mit Integrationsproblemen am Ende allein dasteht, ohne Sozialarbeiter, Übersetzer, Team-Teacher. Wien kann ein Lied davon singen, und niemand will darin einstimmen.
Ich bin nur so weit solidarisch, wie ich es sein kann.
Was man von Egger und den anderen Genossen in den Bundesländern ebenfalls nicht hört: Appelle an die Landesregierungen, die Sozialgelder für „subsidiär Schutzberechtigte“ zu erhöhen. Diese Untergruppe von Flüchtlingen darf in Österreich bleiben, bekommt aber lediglich Grundversorgung wie Asylwerber. Nur Wien und Tirol zahlt ihnen die volle Sozialhilfe. Der Abstand macht pro Monat 700 bis 800 Euro pro Person aus. Die Wiener SPÖ drängt darauf, dass die anderen Bundesländer nachziehen und ebenfalls die volle Sozialhilfe zahlen. Die ÖVP fordert Wien auf, die Beiträge auf das Niveau von Restösterreich zu senken.
Egger antwortet diplomatisch auf die Frage, ob Salzburg künftig so viel zahlen soll wie Wien: „Ziel darf nicht das Sozialsystem sein, sondern die möglichst rasche Integration in den Arbeitsmarkt. Wir müssen ja auch den Steuerzahlern gegenüber solidarisch sein.“ Ein schön verpacktes Nein.
Beim ewigen Streitthema Migration hören sich Solidarität und Freundschaft in Rot rasch auf.
Clemens Neuhold
Seit 2015 Allrounder in der profil-Innenpolitik. Davor Wiener Zeitung, Migrantenmagazin biber, Kurier-Wirtschaft. Leidenschaftliches Interesse am Einwanderungsland Österreich.