Viktor Orbán bei Karl Nehammer: Falsche Freunde
Großer Bahnhof. Schaulustige, Touristen, auch einige Orbán-Fans drängeln an der Absperrung am Wiener Ballhausplatz und halten ihr Handy in die Höhe. Ein Polizist, ein Bär von Mann, verstellt die Aussicht, was zu Unmutsäußerungen führt. Die Ehrengarde mit ihrem offenbar vorschriftsmäßig arroganten Gesichtsausdruck hat am Rande des roten, schon etwas ausgebleichten Teppichs Aufstellung genommen; Viktor Orbán wird mit einem Pomp empfangen wie sonst nur Staatspräsidenten.
Auch ÖVP-Bundeskanzler Karl Nehammer steht da wie eine Eins und wartet. Die Minuten ziehen sich. Was wohl in Nehammers Kopf vorgeht? Dort, wo er hinschauen muss, findet in diesem Moment eine Protestaktion statt. Die NGO „SOS-Balkanroute“ stellt eine schaurige Szene nach, die sich vor 14 Tagen an der ungarisch-serbischen Grenze zugetragen hat. Hunderte Migranten waren zusammengetrieben worden und mussten vor Uniformierten, die Befehle brüllten, auf die Knie gehen, die Hände über dem Kopf verschränkt, das Gesicht zum Boden. Eine Videoaufnahme davon kursiert im Netz. Kein gutes Omen für Nehammers Plan, gemeinsam mit Ungarn und Serbien eine Taskforce zum Umgang mit Migranten an den Balkangrenzen zu bilden. Zumal der serbische Innenminister die entwürdigende Szene persönlich beaufsichtigte und meinte, Serbien sei „kein Parkplatz für den Abschaum aus Asien“.
Da fährt Orbán vor, Türen schlagen, Nehammer streckt seinen Arm aus, fasst seinen Gast allerdings nicht, wie er es gern tut, um die Schulter; die Gardemusik setzt ein, die Nationalhymnen werden gespielt.
Auf Facebook hat Nehammer seine „große Freude“ über den Besuch Orbáns gepostet. Da ahnte er noch nicht, dass er derart im Scheinwerferlicht stehen würde.
Vor wenigen Tagen hatte Orbán bei der jährlichen Sommerakademie seiner Fidesz-Partei im rumänischen Kurbad Tusnad eine üble rassistische Rede gehalten, die in einer widerlich-höhnischen Anspielung auf das Gas und die Deutschen gipfelte. („Die kennen sich ja aus, historisch.“) Die ungarische jüdische Gemeinde war entsetzt, eine enge Orbán-Vertraute fand das eines „Goebbels würdig“ und warf ihren Beratervertrag hin.
Zeitpunkt und Ort waren nicht zufällig gewählt. Im Jahr 2014 hatte Orbán dort die „illiberale Demokratie“ ausgerufen. Diesmal warnte er vor einer „Vermischung mit Zuwanderern aus nichteuropäischen Staaten“, wie sie in Westeuropa üblich sei. Die Ungarn jedoch wollten „keine Gemischt-rassigen“ sein.
Gegen die „Vermischung von Völkern“ hatte Orbán schon öfter gezündelt, jetzt spricht er von Rassen. Das ist neu. Das Kurbad, in dem die Worte fielen, liegt im rumänischen Siebenbürgen, das vor dem Ersten Weltkrieg zu Ungarn gehörte, woran Orbán in letzter Zeit gern erinnert. Sein langjähriger Pressesprecher Zoltán Kovács hat eine Karte von Großungarn in seinem Büro hängen. Denkt Orbán schon daran, was von der Ukraine übrig bleibt, sollte Putin gewinnen?
Die europäische Solidarität mit der Ukraine wird von Orbán seit Wochen unterlaufen. Obwohl NATO-Mitglied, lässt er keinen Waffentransport über ungarisches Territorium zu. Sein Außenminister, der eben erst in Moskau war, um von Putin etwas Gas zu erbitten, saß während der Pressekonferenz in Wien in der ersten Reihe und wirkte hochzufrieden. Nehammer am Rednerpult dagegen steif und unbehaglich. Natürlich habe er „das“ auch angesprochen. „Wir in Österreich weisen jede Form von Verharmlosung und Relativierung von Rassismus und Antisemitismus auf das Schärfste zurück“, so ein Nehhammer-Stehsatz, worauf Orbán huldvoll nickte und beteuerte, da sei man zu 100 Prozent einer Meinung. Er, Orbán, habe in Wirklichkeit auch nicht die Biologie, sondern die Kulturen gemeint, die nicht „vermischt“ werden wollten.
Man hätte Nehammer gern gefragt, wie er sich denn eine Zusammenarbeit mit Ungarn und Serbien in der Migration vorstelle, ob er die Wahrung der europäischen Menschenrechte garantieren könne? Doch es waren nur zwei Fragen erlaubt: vom ORF und dem ungarischen Staatssender.
Orbán nutzte das Wiener Treffen, um aus der europäischen Putin-Politik auszuscheren. Die Sanktionen gegen Russland seien gescheitert, behauptete Orbán – im Widerspruch zu aktuellen Erhebungen von Wirtschaftsforschern. Auch darauf reagierte Nehammer etwas lahm: Für eine Evaluierung sei es noch zu früh.
Er zeigte nicht den Hauch einer Erschütterung über ein EU-Mitgliedsland, das von Politologen, Experten und nicht zuletzt von EU-Institutionen als halbfaschistisch, autoritär und nur noch als halbfreier Staat bewertet wird.
Bálint Magyar, Soziologe an der Central European Universität, die von Orbán aus Budapest verjagt wurde, sagt: „Für mich sind Putins Regime und Orbáns Regime nahezu identisch, beide sind postkommunistische Mafia-Staaten.“ Paul Lendvai nennt Orbán „den gefährlichsten Störenfried“ in der EU. Seine Studie über Orbán ist ein schauriges Panorama.
Im Artikel-7-Verfahren des Europäischen Parlaments aus 2018 werden „unfaire“ Wahlbedingungen, eine politisierte Justiz, Missbrauch der Zwei-Drittel-Fidesz-Mehrheit im Parlament, um Gesetze durchrauschen zu lassen und die Verfassung zu ändern, politische Eingriffe in die Führung von Universitäten, Akademien und Theater angeführt. NGOs werden in Ungarn ähnlich wie in Russland durch Verbot von Auslandsspenden kriminalisiert. Im Fall der George-Soros-Stiftung wurde das von einer jahrelangen antisemitischen Hetzkampagne begleitet. Mit Verweis auf EUGH-Verfahren wird der menschenrechtswidrige Umgang mit Migranten und Asylwerbern beanstandet; Minderheiten wie die Volksgruppe der Roma und Sinti werden diskriminiert, ein Wechsel des sozialen Geschlechts ist nicht erlaubt. Einen großen Teil des 30-Seiten-Papiers nehmen Korruption und Interessenskonflikte in den höchsten Rängen der ungarischen Politik ein – vor allem rund um Orbáns Freunde seit Studententagen, die er im Lauf der Zeit systematisch in Positionen hievte; Knebelung der freien Presse über Inseratenkorruption, Schaffung eines staatlich kontrollierten Medienmonopols.
Das Sündenregister ist lang und wird wohl nie geahndet werden. Polen, dem ebenfalls ein Verfahren anhängt, und Ungarn sind sich gegenseitig im Wort, ein Veto einzulegen. In den europäischen Räten, in denen seit 2019 darüber diskutiert wurde, waren die österreichischen Vertreter (immer ÖVP) weitgehend still geblieben.
Das gute Verhältnis zwischen Orbán und der ÖVP hat Tradition. In den 1990er-Jahren war der junge Orbán ein Shootingstar. Er galt als charismatischer Neoliberaler, der die alt-kommunistische Korruption beenden könne. Orbán war Stammgast bei Wirtschaftsgipfeln des damaligen Bundespräsidenten Thomas Klestil und bei Europa-Treffen in der Wachau. Dass sich der Reformer allmählich zu einem rechten, heute fast schon rechtsextremen Ideologen wandelte, ging schrittweise vor sich. Während die ehemaligen ÖVP-Minister wie Michael Spindelegger und Reinhold Mitterlehner gelegentlich Kritik an Orbán äußerten, hielten Ex-Kanzler Wolfgang Schüssel und Sebastian Kurz eisern zu Orbán. Kurz wollte die Anti-Migrationsachse nicht gefährden. Vielleicht fühlte er auch eine Wahlverwandtschaft.
Dass in der ÖVP heute noch immer kein innerer Seismograf ausschlägt, kein Bewusstsein vorherrscht, dass man dieselben Stehsätze von „Freundschaft trotz Differenzen“ auch im Umgang mit Putin jahrzehntelang bemüht hat, macht besorgt. Dummheit sei es, wenn man aus Fehlern nichts lerne, so eine schlichte, aber treffende Definition.
Im März 2022, drei Tage bevor er starb, warnte der Konservative Erhard Busek vor der zerstörerischen Wirkung Orbáns. Es werde für die ÖVP Zeit, sich auch mit Orbán auseinanderzusetzen. Seine Mahnung blieb folgenlos.