Viktor Orbán und Soldat Musasa
Der Adidas-Rucksack ist leer. Daneben liegen zusammengeknüllt eine abgetragene Trainingsjacke und ein zerschlissenes T-Shirt. Kleidungsstücke, die Menschen auf ihrer Reise über die Balkanroute durchschwitzen – beim Warten in dunklen Verschlägen, auf Fahrten in stickigen Kastenwagen der Schlepper, beim Huschen über Felder in praller Sonne. Ballast, den sie an der österreichischen Grenze abwerfen, um in Ersatzkleidung endlich „Asyl“ zu sagen. Ein Windgürtel aus Bäumen und Büschen trennt das ungarische Getreidefeld und das Sonnenblumenfeld auf österreichischer Seite. Dazwischen ausgetretene Trampelpfade. Im Hintergrund drehen sich Windräder gemächlich. Es ist bereits der dritte Rucksack in kurzer Zeit, den wir auf unserem Grenzgang finden. „Es sind zu viele, um sie wegzuräumen“, sagt der 24-jährige Bundesheer-Soldat Yvrel Musasa am dritten Tag seines Assistenzeinsatzes. Er hält einen Sicherheitsabstand zum Gebüsch. „Ich darf die Grenze nicht überschreiten. Das wäre rein formal eine Invasion und damit eine Kriegserklärung.“
Ein paar Hundert Meter entfernt radeln Dorfbewohner aus dem burgenländischen Andau unbeschwert nach Ungarn rüber und wieder zurück, während pro Tag rund 100 Syrer, Afghanen, Inder, Nordafrikaner oder Somalis die Grenze heimlich überqueren. Ungarn und Österreich. Für Anrainer ist die Grenze nicht mehr existent. Für Flüchtlinge ist sie ein wichtiger Übergang zwischen der – aus ihrer Sicht – bösen und guten EU.
Für Musasa wiederum ist die österreichisch-ungarische Grenze ein normaler Dienstort. Er assistiert der Polizei beim Grenzschutz. Ein weiterer Dienstort des Berufssoldaten: der Wiener Ballhausplatz zwischen Bundeskanzleramt und Präsidentschaftskanzlei. Als Mitglied der Garde empfängt Musasa hier regelmäßig Staatsgäste. Zuletzt, vor drei Wochen, gab er Viktor Orbán alle militärischen Ehren. Nun späht er in dessen Land hinüber und hält Ausschau nach Schleppern. Musasa duckt sich. Ein Jeep fährt vorbei. Schlepper oder ungarischer Jäger? Es raschelt im Gebüsch. Der Soldat gibt übers Handy Meldung an die Kameraden, die von den Wachtürmen aus mit Feldstechern weitersuchen.
Im Vorfeld von Orbáns Wien-Besuch, der dem Kampf gegen die Schlepperei gewidmet war, zog der ungarische Ministerpräsident eine weitere Grenze zwischen Ungarn, Österreich und den meisten anderen EU-Ländern – entlang von „Rassen“.
Er sagte: „Es gibt jene Welt, in der sich die europäischen Völker mit den Ankömmlingen von außerhalb Europas vermischen. Das ist eine gemischtrassige Welt. Wir wollen aber nicht zu Gemischtrassigen werden.“ Eine Wortwahl, die an die NS-Zeit erinnert und für einen Aufschrei in der
liberalen Welt sorgte. Wie geht es Musasa, wenn er so etwas hört?
Beim Orbán-Empfang am 28. Juli stand er stramm und mit erhobenem Haupt mit 20 Kameraden in der ersten Reihe der 64-köpfigen Garde. Dabei kam er Orbán genauso nahe wie der ungarischen Grenze beim Assistenzeinsatz. Die „Kronen Zeitung“ vermutete hinter Musasas Platzierung an der Front gar eine gezielte „kleine feine Spitze“ gegen Orbán: „Beim Abschreiten der Bundesheer-Ehrenkompanie fand sich in der ersten Reihe doch glatt ein schwarzer österreichischer Soldat.“
Mutmaßungen, über die Musasa und seine Kameraden geschmunzelt haben. „Mein Einsatz bei Orbán war reiner Zufall. Es fehlte Personal, deswegen bin ich eingesprungen.“ Aber warum die erste Reihe? Weil sie von Beginn an Musasas Stammplatz war. Von dort aus sah er bereits Israels Staatspräsidenten Reuven Rivlin oder das spanische Königspaar an sich vorbeischreiten. „In der ersten Reihe lernst du die Haltung schneller, weil jeder Fehler sofort auffällt“, erzählt Musasa. Sein Exerziermeister habe ihn dort platziert. „Er schätzte es, dass ich Berufssoldat werden wollte, und förderte mich deswegen besonders.“
Die Aufregung über die rassistischen Orbán-Sprüche hatte er im Vorfeld des Staatsempfangs „natürlich“ mitbekommen. „Als Soldat war es für mich ein ganz normaler Dienst. Ich erfülle meine Pflicht. Selbst wenn Österreich das Staatsoberhaupt eines verfeindeten Landes einlädt, würde ich diesen Staatsgast mit denselben Ehren empfangen wie jeden anderen Gast.“
Und wenn er nach dem Dienst „die Schale ablegt“, wie er es ausdrückt? „Als Privatperson haben mich Orbáns Worte an die Apartheid erinnert.“ In Südafrika waren Mischehen bis 1985 verboten, wobei Schwarze strenger bestraft wurden als Weiße. Ungarn kommt Musasa vor wie ein „schwarzes Schaf“ innerhalb der EU, sei es doch von wesentlich offeneren Ländern umgeben. „Die Europäische Union ist doch auch keine einheitliche Rasse, sondern ziemlich gemischt.“
In Budapest war er bereits drei Mal. „Als Europäer will ich möglichst viele Städte kennen, nicht nur Wien.“ Die Blicke, die nur dunkelhäutige Menschen spüren, seien in Ungarn intensiver gewesen als in Österreich – Musasa nennt sie „Hinterblicke“. Feindlich sei die Stimmung aber nie gewesen. „Im Endeffekt ist das ungarische Volk sehr freundlich.“ Deswegen würde er auch nach Orbáns Sagern nicht zögern, wieder hinzufahren – selbst mit einer potenziell weißen Freundin. „Sollte ich doch einmal in einem Lokal nicht bedient werden, gehe ich ins nächste.“
Gegen Rassismus hat sich Musasa nicht nur seine Uniform, sondern auch eine dicke Haut zugelegt. Und die bildete sich bereits in seiner frühen Jugend in Österreich heraus. Seine Mutter stammt aus der kleinen Republik Kongo, sein Vater aus dem großen Nachbarland Demokratische Republik Kongo. Die Familie flüchtete vor dem Bürgerkrieg, als Musasa ein Jahr alt war. Aus mehreren möglichen Asylländern wählte die Mutter Österreich – wegen der Ruhe. Der Vater zog bald weiter nach England.
Bis zur Volksschule wuchs Musasa im oberösterreichischen Vöcklabruck auf und kann sich an „keinen Hauch“ Rassismus erinnern. Als die Mutter im Jahr 2003 dank ihrer Mehrsprachigkeit als erste Schwarze einen Job am Wiener Flughafen bekam, zogen die beiden nach Wien, und das Blatt wendete sich. In der ersten Klasse einer christlichen Volksschule in Wien-Simmering grenzten ihn die Schüler wegen seiner Hautfarbe aus. Sein Turnlehrer schaute ostentativ weg, wenn ihn Mitschüler im Turnsaal wieder einmal hänselten, stießen, schlugen oder ihm das Bein stellten. Eine Lehrerin quittierte seine Antworten als falsch, die identen Antworten eines weißen Schülers als richtig. Nach nur einem Jahr veranlasste seine Mutter einen Schulwechsel. Als Teenager lernte Musasa dann den speziellen Blick der Polizei auf Schwarze kennen. Irgendwann reagierte er mit Humor auf die Dauerkontrollen: „Wenn sie mich wieder einmal auf Englisch ansprachen, antwortete ich auf Englisch. Und wenn sie mich nach der Kontrolle fragten, warum ich trotz meines österreichischen Ausweises nicht Deutsch spreche, sagte ich: Sie haben mich ja auch auf Englisch angesprochen.“
Einen Grundrespekt vor Polizei und Uniform hat er sich dennoch bewahrt. „Im Endeffekt haben die Polizisten ihren Job gemacht und eine verdächtige Person gesucht. Ich muss nicht alles aufbauschen und als Beweis für die Feindschaft der Österreicher uns Schwarzen gegenüber hernehmen.“ Manche seiner Freunde kritisieren Musasa für diese Einstellung. Bestärkt durch die Black-Lives-Matter-Bewegung prangern sie jegliche Form von offenem oder verstecktem Rassismus laut an. Auch sogenannte „Mikro-Aggression“ wollen sie nicht mehr einfach so hinnehmen. Dazu zählt, als Schwarzer automatisch auf Englisch angesprochen zu werden – in der Annahme, ein Schwarzer könne kein echter Österreicher sein. Musasa aber meint: „Wenn mich hier an der Grenze ein 80-jähriger Burgenländer für mein gutes Deutsch lobt, hat das auch damit zu tun, dass er in einer Welt ohne Schwarze aufgewachsen ist. Dann sage ich einfach: Danke.“
„Als Privatperson haben mich Orbáns Worte an die Apartheid in Südafrika erinnert.“
Und wie reagieren Flüchtlinge, wenn sie sich aus dem Gestrüpp winden und Soldat Musasa vor ihnen steht? „Es gibt schon verwirrte Blicke“, erzählt er. Seine ersten Worte sind in der Regel: „Austrian Armed Forces.“ Ein afrikanischer Flüchtling habe ihn einmal hektisch auf Französisch angesprochen, der früheren Kolonialsprache im Kongo und vielen anderen afrikanischen Ländern. Musasa antwortete: „Restez tranquille!“ (Bleiben Sie ruhig).Und dann gibt es die Momente, in denen die Hautfarbe so gar keine Rolle spielt. Auf der Grenzstraße in die Kaserne nach Andau bleibt ein älterer Radfahrer stehen und wendet sich an Musasa. Bei einem der Militär-Lastkraftwagen sei ihm ein defektes Trittbrett aufgefallen, erzählt er freundlich, verabschiedet sich und radelt weiter. „Er hat in mir rein den österreichischen Soldaten gesehen“, sagt Musasa. „In solchen Momenten habe ich gewonnen. Ich zeige allen, die mich früher aus Österreich ausschließen wollten: Meinen Nationalstolz habt ihr mir nicht genommen.“ Diesen gewissen Stolz auf die Uniform lässt er sich umgekehrt auch nicht von Freunden nehmen, die meinen, er verrate durch diese starke Anpassung seine afrikanischen Wurzeln. „Ich stehe zu meinen kongolesischen Wurzeln, werde meinen Kindern einmal unsere Sprache Lingála weitergeben, aber mein Land ist Österreich. Hier bin ich aufgewachsen.“
In der Nähe des Rassentheoretikers Viktor Orbán mag Gardesoldat Musasa noch ins Aug gestochen sein. Doch er verkörpert längst die Normalität des österreichischen Bundesheeres – das insbesondere im Wiener Raum längst als Migrantenheer bezeichnet werden darf. Zuwanderer der ersten, zweiten, dritten Generation stellen in vielen Kompanien die absolute Mehrheit. Das Heer erhebt keine Zahlen zu Migrationshintergründen und ist auch mit Einschätzungen zurückhaltend. Ein Sprecher meint: „Das Personal des Bundesheeres repräsentiert den Durchschnitt der Bevölkerung. Bei uns zählt Leistung, nicht Herkunft.“ Doch bei Stellungen zeigt sich: Männliche Migranten mit österreichischer Staatsbürgerschaft zieht es im Vergleich zu Nichtmigranten viel stärker zum Heer als zum Zivildienst. Deswegen sind männliche Migranten beim Bundesheer stark überrepräsentiert.
Musasa rückte im Jänner 2021 in Wien zum Bundesheer ein. Unter den rund 300 Rekruten, die sich bei diesem Termin einfanden, kann er sich an keinen einzigen autochthonen Österreicher erinnern. Seine aktuelle Kompanie zählt 120 Soldaten. Österreicher ohne ausländische Wurzeln kann er an den Fingern einer Hand abzählen. Das Bundesheer ist knapp hinter der Polizei die zweitbeliebteste Institution der Österreicherinnen und Österreicher, eine tragende Säule des Staates – und längst durch und durch gemischt.
Orbáns Warnungen vor einer „gemischtrassigen“ Welt verpuffen angesichts dieser Realität.