Virologin von Laer: „Der Lockdown wird verlängert werden müssen“
profil: Bei unserem Interview Ende August haben Sie den Lockdown bereits vorausgesagt. Ist es sogar schlimmer gekommen als Sie gedacht haben?
Dorothee von Laer: Eindeutig ja. Dafür gibt es mehrere Gründe: Die nachlassende Impfbereitschaft, die Notwendigkeit des dritten Stichs und die deutlich ansteckendere Deltavariante, die deutlich höhere Impfraten erfordert.
profil: Sind wir noch mitten in der vierten Welle oder lässt sich das Ende bereits erahnen?
Von Laer: Der Lockdown wird sich erst in einer Woche niederschlagen. Ich hoffe, dass wir Anfang nächster Woche eine deutliche Reduktion der Infektionen sehen können.
profil: Glauben Sie an ein Ende des Lockdowns mit 12. Dezember, wie es die Regierung in Aussicht stellt?
Von Laer: Dass man den Lockdown in ganz Österreich vor Weihnachten beenden kann, bezweifle ich stark. Man wird in einigen Bundesländern verlängern müssen. Ich gehe davon aus, dass der Osten öffnen kann, der Westen nicht.
Stehen Schulschließungen bevor?
profil: Bei den Kindern zwischen 5 und 14 Jahren ist die Inzidenz mit 2300 extrem hoch. Finden Sie es richtig, dass die Schulen im Lockdown offen sind?
Von Laer: Ich kann als Bürgerin, nicht als Virologin, durchaus verstehen, dass man den Kindern keine weitere Schulschließung zumuten will. Wir müssen nun abwarten. Die Maskenpflicht an den Schulen wurde gerade eingeführt, und einige Kinder bleiben doch zuhause. Aber wenn die Zahlen nicht fallen, werden auch die Schulen schließen müssen.
profil: Sie waren eine der ersten Expertinnen, die eine Impfpflicht gefordert hat. Nun soll sie im Februar tatsächlich kommen. Ist das zu spät?
Von Laer: Aus virologischer Sicht wäre eine Impfpflicht in wenigen Tagen schon gut. Je früher, desto besser. Aber ich verstehe, dass es hier einen gesetzgeberischen Prozess braucht. Es gibt allerdings noch einen Hebel, den die Politik in der Hand hätte und den ich seit Langem fordere: Man sollte jenen 15 Prozent der über 60-Jährigen, die noch nicht geimpft sind, proaktiv einen Impftermin zuteilen. Diese Lücke muss schleunigst geschlossen werden.
Fünfte Welle schon im Februar möglich
profil: Die Anzahl der Erstimpfungen ging im November aufgrund der verschärften Maßnahmen für Ungeimpfte nach oben, ist aber bereits wieder stark gesunken. Haben die Erststiche in dieser Welle überhaupt noch Bedeutung?
Von Laer: Nein. Aber sie können verhindern, dass wir im Februar in die nächste Welle stolpern.
profil: Sie rechnen also bereits mit der fünften Welle im Februar, wenn wir weiter so schleppend impfen wie bisher?
Von Laer: Auf jeden Fall. Wenn der Lockdown ausläuft, steigen die Zahlen wieder an. Noch sind wir nicht bei einer Immunitätsquote von 85 Prozent, die ausreicht, um das Virus in Schach zu halten.
profil: Viele Impfskeptiker warten auf die Zulassung von Totimpfstoffen. Sind diese womöglich tatsächlich verträglicher, weil es sich um eine alte Technologie handelt?
Von Laer: Ich habe Hoffnung, dass jene Menschen die meinen, alles besser zu wissen, dann endlich impfen gehen. Es gibt allerdings keinen Grund anzunehmen, dass diese Impfungen besser verträglich sind. Im Gegenteil: Wir haben mit den aktuellen Impfstoffen viel mehr Erfahrung. Aber jeder Stich zählt.
Werden wir das Coronavirus ausrotten wie die Pocken?
profil: Sollte die Impfpflicht im Februar greifen: Wie könnte das Ende der Pandemie aussehen?
Von Laer: Das Coronavirus wird ein weiterer Atemwegserreger sein. Man wird im Herbst wieder eine breite Impfkampagne starten müssen. Dann können wir schon im kommenden Winter eine Covid-Saison haben, keine Welle.
profil: Sie glauben also nicht an eine längere Immunität nach dem dritten Stich?
Von Laer: Das halte ich für unwahrscheinlich. Ich gehe davon aus, dass wir schon nächsten Herbst eine Kombi-Impfung haben werden gegen die Grippe und Corona. Das wird eine jährliche Impfung werden.
profil: An eine Ausrottung wie bei den Pocken glauben Sie nicht?
Von Laer: Nicht mit den aktuellen Impfstoffen. Sie schützen nicht so gut vor der Weitergabe, um ein Virus zu eliminieren. Pocken sind nicht so ansteckend wie die Delta-Variante. Außerdem ist der Pockenimpfstoff ein Lebendimpfstoff, der deutlich wirksamer ist. Eine Ausrottung des Coronavirus wird auch nicht nötig sein. Wenn genug Menschen geimpft oder genesen sind, werden wir damit leben können.
profil: Wäre ein Lebendimpfstoff gegen das Coronavirus eine Option?
Von Laer: Es werden derzeit einige wenige Lebendimpfstoffe entwickelt. Sie können eine leichte Form der Erkrankung verursachen. Bei der Rötelimpfung gibt es zum Beispiel Impfröteln, man kann also einen Ausschlag bekommen, allerdings ohne ernsthaft krank zu sein. Man wird auch beim Coronavirus in diese Richtung weiter forschen, um vielleicht ein noch wirksameres Mittel zu finden.
Indien und Großbritannien sind auf einem guten Weg – haben sich das aber teuer erkauft
profil: Noch wirken die Impfstoffe gut gegen die Delta-Variante. Nun ist Delta Plus im Vormarsch. Müssen wir demnächst den Impfstoff anpassen?
Von Laer: Bei Delta Plus besteht kein Grund dafür. Aber die in Südafrika erstmals entdeckte My-Variante umgeht das Immunsystem sehr stark. Würde eine Mutante auftauchen mit der Ansteckungskraft von Delta und der Immunumgehung von My, dann müssten wir den Impfstoff rasch anpassen. Das wäre technisch gut machbar.
profil: Gibt es Länder, die einem Pandemieende näher sind als wir?
Von Laer: Ein Blick auf die Weltkarte zeigt, dass in vielen Ländern die Zahlen sinken – auch auf der nördlichen Halbkugel. In vielen armen Ländern dürfte das Virus schon unbemerkt durchgelaufen sein. Indien hat im Moment – ohne größere Maßnahmen und ohne eine hohe Impfquote – erstaunlich niedrige Infektionszahlen. In manchen Regionen sind 90 Prozent der Menschen immun, sie haben einen riesigen Anteil an Genesenen. Indien könnte es also geschafft haben. In manchen Regionen Afrikas wird es ähnlich sein.
profil: Wie sieht es in Europa aus?
Von Laer: Großbritannien hat ebenfalls eine Immunität von über 90 Prozent. Allerdings nicht durch die Impfung, sondern durch das Zulassen von Infektionen. Die Briten haben sich mit einer sehr hohen Mortalität eine momentane Stabilität erkauft: Sie haben doppelt so viele Corona-Tote wie Österreich oder Deutschland. Jetzt muss man sehen, wie lange die Immunität der Genesenen anhält. Es könnten durchaus wieder Wellen kommen, wenn sie nachlässt.
profil: Wie gut sind Spanien und Portugal geschützt?
Von Laer: Sehr gut aufgrund der fantastischen Impfprogramme.
Was die neuen Medikamente können
profil: Könnten die neuen Medikamente gegen Covid tatsächlich das Ruder herumreißen, wie manche meinen?
Von Laer: Noch sind sie nicht zugelassen. Aber ich sage immer, der Februar wird der gute Monat in Österreich: Denn dann greift die Impfpflicht und wir können viele Risikopatienten zuhause mit Tabletten behandeln. Bisherige Studien zeigen, dass sie das Risiko für einen schweren Verlauf um die Hälfte reduzieren. Die Medikamente haben nur einen Haken: Sie müssen innerhalb der ersten Tage der Erkrankung gegeben werden, sonst helfen sie nicht mehr. Sie sind als gute Ergänzung zur Impfung zu sehen.
profil: Nach einer Maserninfektion kann eine Immunamnesie entstehen, es stellt das menschliche Immunsystem also auf null. Könnte das auch nach einer Covid-Infektion passieren?
Von Laer: Das Masernvirus vermindert die Zahl der Immunzellen. Das sehen wir beim Coronavirus nicht, im Gegenteil. Es aktiviert die Immunabwehr.