Vom Touristen zum Häftling der Taliban: Die Reisen des Herbert F.
Der 84-jährige Herbert Fritz saß neun Monate in einem Taliban-Gefängnis in Kabul. Zurück in seinem Wiener Stammcafé erzählt der Mann mit einschlägiger Vergangenheit die ganze Geschichte.
Wie beginnt man ein Gespräch mit einem 84-Jährigen, der neun Monate bei den radikal-islamistischen Taliban im Gefängnis saß? Der Ende Februar freikam und nun wieder auf seinem Stammplatz in einem Wiener Kaffeehaus im 15. Gemeindebezirk Platz nimmt? Der in den 1960er-Jahren Mitbegründer der Nationaldemokratischen Partei (NDP) war, die 1988 wegen NS-Wiederbetätigung verboten wurde?
Nach neun Monaten Taliban-Kerker scheint eine Frage über seine körperliche und psychische Verfasstheit angebracht. Sie erübrigt sich. Herbert Fritz legt Fotos, Zeitungsartikel, eigene Bücher auf den Tisch. Er richtet sich Hörapparat und Brille: „Bitte, stellen Sie Ihre Fragen.“ Er ist begierig, von seinen beiden Taliban-Reisen zu erzählen. 2022 war er schon einmal dort. Am Ende des dreieinhalbstündigen Gesprächs bleibt nur noch eine Frage: „Würden Sie wieder hinfahren?“ Der 84-Jährige erklärt: „Na, selbstverständlich.“ Es wäre insgesamt seine fünfte Afghanistan-Reise und die dritte zu den Taliban. Nur aus Rücksicht auf seine Familie verzichte er darauf.
Was führte den rüstigen Pensionisten ausgerechnet zu den Taliban? Darüber wurde in den Medien bisher nur spekuliert. Eine Version lautete: Fritz wollte aufzeigen, dass Afghanistan sicher und eine Abschiebung von Flüchtlingen deshalb weiterhin möglich sei. Es würde zu seiner Gesinnung passen, war aber nicht das Motiv. Die Geschichte geht ganz anders – und fügt sich doch in sein völkisches Weltbild.
Als die ersten Berichte über die Gefangenschaft des Herbert Fritz erscheinen, ahnt niemand, dass es bereits seine vierte Afghanistan-Reise ist – und die zweite zu den Taliban. 2022 war er schon einmal dort. Für drei Wochen. Ohne weitere Vorkommnisse.
Seine Beziehung zu dem Land reicht bis ins Jahr 1987 zurück.
In St. Pölten hatte er damals einen afghanischen Widerstandskämpfer gegen die sowjetische Besatzung kennengelernt und reiste mit ihm über Pakistan nach Afghanistan. 1989, nach dem Abzug der Russen, zieht es ihn über diesen Weg ein zweites Mal ins umkämpfte Land am Hindukusch. Als Lehrer an einer Wiener Handelsakademie nutzt Fritz die langen Ferien für seine Reisen. Sie führen ihn auch nach Kurdistan und Palästina.
Der "Völker"-Reisende
Ein eingefleischter Rechter als Weltreisender? Nicht ganz. Fritz ist „Völker“-Reisender. Seine Reiseziele haben mit der Ideologie des Deutschnationalen zu tun, wie er sich auch selbst bezeichnet. In seinem Denken sollen „Völker“ entlang ethnischer, kultureller und sprachlicher Grenzen leben. Mit möglichst wenig Vermischung untereinander und Einmischung von außen. Deswegen ziehen Fritz „Völker“, die gegen „fremde Mächte“ kämpfen, fast schon magisch an – seien es Kurden gegen Türken, Palästinenser gegen Israelis oder eben Afghanen gegen Sowjets und später dann Amerikaner. Am Tisch hat er seine eigenen Bücher „Kampf um Kurdistan“ und „Kampf um Palästina“ drapiert. Einen passenden Titel fürs Afghanistan-Buch sucht er noch.
Bei seinen Reisen traf Fritz 1990 den kommunistischen Gründer der kurdischen Terrororganisation PKK, Abdullah Öcalan, und 2012 den Chef der palästinensischen Terrororganisation Hamas, Ismail Haniyeh. Warum sollte er dann Berührungsängste mit den Taliban haben?
Alle wollen raus, Fritz will rein
Im Sommer 2021 verlassen die Amerikaner und ihre NATO-Verbündeten Afghanistan, die Taliban haben den jahrzehntelangen Kampf um die Vorherrschaft im Land gewonnen. Ein Volk hat die Fremdherrschaft abgeschüttelt – so sieht es Fritz, und das will er mit eigenen Augen sehen. Er schickt ein Mail ans Außenministerium mit Bitte um ein Visum. Eine Beamtin ruft zurück und ist ungehalten: „Was wollen Sie dort? Das geht nicht!“ Also besorgt er sich ein Visum für Pakistan, über das er schon in den 1980er-Jahren nach Afghanistan gereist ist. Bei einer afghanischen Moschee in Wien hat er einen „ehrenwerten“ Afghanen kennengelernt. Der vermittelt ihm seinen Neffen in Kabul als Reiseführer. Im Mai 2022 steht Herbert Fritz an der Grenze zur Terra incognita: Taliban-Afghanistan. Die Menschen wollen raus. Fritz will rein. Der pakistanische Grenzbeamte denkt zuerst, er habe sich in der Richtung geirrt. Dann schickt er ihn weiter zum afghanischen Kollegen, laut Fritz „ein freundlicher Geselle“, der den Pass abstempelt.
Der in Österreich vermittelte Reiseführer wartet schon. Sie fahren nach Kabul, besorgen eine landestypische Tracht, checken Fritz im „Blue Star Guest House“ ein. Einen Bart hat er sich vorsorglich wachsen lassen. Der ist Pflicht für Männer.
Freie Fahrt durchs Land
In den Tagen darauf schlendert Fritz durch die Hauptstadt, kaum als Europäer zu erkennen und gefühlt doch der einzige Ausländer. Fritz spricht mit Geschäftsleuten, die Englisch können. Manche beklagen sich über fehlende Umsätze seit dem Abzug der westlichen Truppen. Fritz wundert sich über den gefährlich hektischen Straßenverkehr. Die streng verhüllten Frauen sind ihm keine Erwähnung wert.
Mit dem jungen Afghanen fährt er ins Naturparadies Bamiyan-Tal, wo die Taliban die 50 Meter hohen Buddha-Statuen gesprengt haben. Immer wieder werden sie auf dem Weg von Taliban kontrolliert, aber stets durchgelassen. Nach Masar-e Scharif zur Blauen Moschee und in die zweitgrößte Stadt, Herat, fliegen die beiden. In Kabul trifft Fritz einen Berater des Energieministers. Er hätte gerne mehr wichtige Menschen getroffen und auch Kandahar gesehen. Er beschließt, wieder zu kommen.
Afghanistan, Land der Träume
In Österreich hält er Foto-Vorträge, schreibt Artikel über „Gefahr und Chance“ der Taliban-Herrschaft, wirbt im privaten Kreis für Reisen nach Afghanistan. Ein Bekannter beschließt, ihn beim nächsten Mal zu begleiten. Er ist Mitte 50 und Büroangestellter. Kein Burschenschafter oder Parteikamerad. Mehr will Fritz über den Mann nicht verraten.
Im Frühjahr 2023 besorgen sich die beiden ihr Visum. Dieses Mal klappt es direkt an der afghanischen Botschaft in Wien. Sie wurde noch vom alten Regime eingerichtet und wird von den Taliban nicht anerkannt. Die beiden gelangen über Dubai nach Kabul. In der Hauptstadt treffen sie wieder den Neffen des afghanischen Kontaktmannes aus Wien. Einchecken im selben Guest House, afghanische Kleidung für den Bekannten besorgen (Fritz hat sie noch vom letzten Mal im Gepäck), ab ins Bamiyan-Tal. Das Spiel beginnt von vorn. Findet dann aber ein jähes Ende.
Vor die Flinte gelaufen
Als sich sein Bekannter nach der Rückkehr in Kabul ausruht, will der umtriebige 84-Jährige noch ein abgesperrtes Stadtschloss für seine Buchrecherchen besichtigen. Dieses Mal ist er in westlicher Kleidung unterwegs. „In Zivil“, wie er es ausdrückt. „In der Stadt habe ich mich sicher gefühlt.“ Zu sicher. Plötzlich herrscht ihn ein junger Mann mit Gewehr an und verlangt seinen Pass. Fritz bezweifelt, dass es sich um ein offizielles Sicherheitsorgan handelt und weigert sich. Er geht weg und überquert die Straße. Der Mann läuft ihm nach, überholt ihn und stellt sich mit Kalaschnikow im Anschlag vor ihn. Jetzt händigt Fritz den Pass aus. Kurz darauf springen drei Männer aus einem Auto, fesseln Fritz’ Hände und ziehen ihm einen Sack über den Kopf. Seine Gleitsichtbrillen gehen dabei kaputt. Erst nach ein paar Wochen wird er im Gefängnis eine neue Brille bekommen. Er trägt sie beim Gespräch im Wiener Kaffeehaus. Typ: afghanische Krankenkassenbrille.
Die Nacht verbringt Fritz irgendwo in einer Gefängniszelle. Sein Handy wird einkassiert. In der Früh kommt ein Gefängnisaufseher und sagt: „Sie sind frei und können gehen. Aber kommen Sie gesicherten Anlagen nicht mehr zu nahe.“ Fritz packt seine Sachen zusammen. Dann kommt derselbe Mann mit einem Foto in der Hand zurück und hält ihn auf. Er hat das Bild vom Handy des Österreichers heruntergesaugt. Darauf ist Fritz mit Ahmad Massoud zu sehen, Sohn von Ahmad Schah Massoud, dem früheren Anführer des afghanischen Widerstandes gegen die Taliban. Fritz hatte Massoud Junior bei einem Vortrag in Wien gesehen und danach um ein gemeinsames Foto gebeten. Für sein Buch, und ohne politischen Hintergedanken. Doch die Taliban sehen jetzt ihren Gefangenen, freundlich vereint mit einem Erzfeind.
Das verhängnisvolle Foto
Das Foto befördert ihn zurück in die Zelle. Eine Art Büroraum mit zusätzlich vergitterter Tür im Keller des Geheimdienstgebäudes. Am Abend wird Fritz verhört. In der Zwischenzeit wird auch sein Bekannter im Guesthouse festgenommen, kommt aber wenige Tage später frei. Beim nächsten Verhör ist ein neuer Aufseher mit dabei, der Deutsch und Englisch spricht. Mit ihm wird die Stimmung frostig. Er hasse Deutschland und Österreich, faucht er. Später erfährt Fritz, dass der Afghane in Deutschland aus religiösem Fanatismus auf mehrere Menschen eingestochen haben soll. Nach mehreren Jahren Haft sei er abgeschoben worden.
Nach diesem Verhör landet Fritz in Einzelhaft. Ein Raum mit sieben mal acht Metern und Matratze am Boden. Drei Mal am Tag gibt es Reis. Der alte Mann geht täglich zehn Kilometer und zählt per Schrittmaß mit. Seine Variante der „Schachnovelle“. Täglich denkt er sich aufs Neue: „Sie werden bald draufkommen, dass ich kein Gegner bin.“ Nach zwei Wochen Einzelhaft wird er in eine Zelle mit zwei Engländern und zwei Amerikanern verlegt. Ein Mediziner, ein Hotelmanager, ein Entwicklungshelfer, ein Mitarbeiter einer Fluglinie. Vor allem mit den Amerikanern tauscht sich Fritz rege aus. In der Zelle wird er zum Deutschlehrer, ein Amerikaner spricht die Sprache der Taliban und gibt Paschtu-Stunden. Einer der Briten, der vor Fritz freigelassen wird, erzählt später von Folterlauten und Todesschreien, die aus den Zellen afghanischer Gefangener gedrungen seien. Fritz hat davon nichts mitbekommen. Er ist fast taub.
Keine Lebenszeichen mehr
Was Fritz in der Zeit die größten Sorgen macht, ist seine Gesundheit. Die Blutverdünnungsmittel, die er seit einem Lungeninfarkt in Österreich nimmt, sind längst ausgegangen. Er fürchtet einen Rückfall. Und ohne Batterie im Hörgerät droht er, komplett taub zu werden. Sein Gleichgewichtssinn leidet. Die beiden Töchter wissen inzwischen, dass er sitzt – aber nicht, wie es ihm geht. Sie schicken Medikamente, doch die werden abgefangen. Das erste Lebenszeichen des Vaters dringt erst durch eine EU-Diplomatin durch, die Fritz im Juli besuchen kann. Die Medikamente erhält er erst bei ihrem zweiten Besuch im November.
Eine Tochter setzt alles für seine Freilassung in Bewegung, bekniet das Außenministerium, startet Petitionen, wendet sich an Medien. Sie tickt politisch ganz anders als ihr Vater, nimmt aber in Kauf, dass in den Nachrichten auch die einschlägige Vergangenheit des Vaters beleuchtet wird.
Nächstes Ziel: Russland
Fritz’ Kamerad aus der rechtsextremen Burschenschaft Olympia, der Nationalratsabgeordnete Martin Graf, setzt sich für ihn ein. FPÖ-Urgestein Andreas Mölzer, der im September 2023 auf „Fact-Finding-Mission“ nach Afghanistan geht, drängt bei einem Treffen mit den Taliban auf die Freilassung des Österreichers. Er hat einen Reisebericht im Gepäck, in dem sich Fritz positiv über das Taliban-Afghanistan äußert. Doch den Durchbruch bringen erst Interventionen des Bundeskanzleramts und die Vermittlung des Emirats Qatar, auf das die Taliban hören.
Am 25. Februar wird Fritz aus dem Gefängnis entlassen und nach Doha ausgeflogen. Dort war er noch nicht. Er spaziert gleich los, um sich alles anzuschauen.
Bei der Ankunft in Wien macht sein Bart den Taliban Konkurrenz. Er ist inzwischen wieder abrasiert. Für sein nächstes Ziel braucht er ihn nicht: Russland. „Auch nicht leicht, dorthin zu kommen“, wende ich ein. „Da gibt es Wege“, hat er sich offenbar schon informiert.
Seit 2015 Allrounder in der profil-Innenpolitik. Davor Wiener Zeitung, Migrantenmagazin biber, Kurier-Wirtschaft. Leidenschaftliches Interesse am Einwanderungsland Österreich.