Sonntagsdemonstration für ein menschlicheres Fremden- und Asylrecht in Hohenems am 25. November 2018

Vorarlberg: Aufstand gegen Asylpolitik der Regierung

Vorarlberg probt den Aufstand gegen die Asylpolitik der Bundesregierung. Eine Reise zu den ganz normalen Rebellen im Westen.

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"Darbilgeri" sei da, raunt es in der Menge. Reinhold Bilgeri war früher als "Rockprofessor" weit über die Grenzen Vorarlbergs hinaus bekannt; heute dreht er Filme. Bilgeri, 68, silbergraue Mähne, getönte Brille, steht mit verschränkten Armen vor der Synagoge in Hohenems und lauscht den Reden. Große orangefarbene Lettern schlängeln sich um einen Stahlkubus in der Mitte des Platzes: "Einen Fremden sollst du nicht unterdrücken, denn ihr seid selbst Fremde in Ägypten gewesen." Wo sonst das beliebte Wintergrillen stattfindet und Gospelchöre singen, wird heute protestiert.

Ein nebelverhangener Vormittag, Kommunalpolitiker haben zur "Sonntagsdemonstration" aufgerufen. Zeitgleich versammeln sich in Hohenems und Rankweil einige Hundert Menschen, um gegen die "menschenverachtende Asylpolitik dieser Bundesregierung ein Zeichen" zu setzen, wie die Initiatoren auf dem improvisierten Podium mit dem "Ägypten"-Schriftzug rufen.

Bilgeri lässt es sich nicht nehmen, das Wort zu ergreifen. "Man kann alle Leute eine Zeit lang an der Nase herumführen und einige Leute die ganze Zeit, aber nicht alle Leute die ganze Zeit", liest er von einem Spickzettel. Applaus, ein "Bravo"-Ruf. "Ich bin ein alter Emser", hallt Bilgeris Stimme über den Platz: "Dass gerade in unserer Stadt dieser berechtigte Aufstand losbricht, macht mich unglaublich stolz. Wir alle müssen die Partei der Menschlichkeit gründen."

Kampf für Menschlichkeit

"Miteinander", "Menschenwürde", "Barmherzigkeit", "Nächstenliebe" hört man in Hohenems in diesen Tagen oft. Seit Mitte November herrscht hier Vorweihnachtszeit. Vor Jahrzehnten brachten jüdische Textilunternehmer der Stadt im Schatten des Schlossbergs Reichtum und Renommee. Heute ist Hohenems ein Gewirr verwinkelter Straßen mit hineingewürfelten Häusern; dazu ein Kreisverkehr mit angeschlossenen Einkaufsmärkten, Tankstelle und Kinocenter. Seit einiger Zeit ist es mit der Sonntagsruhe vorbei.

Man trifft sich stattdessen zur Kundgebung unter freiem Himmel mit Tee und Thermomatte - am Ende setzen sich die Teilnehmer auf das Straßenpflaster. Menschlichkeit am Boden. Die parteipolitischen Koordinaten haben sich verschoben. Eine ehemalige Großunternehmerin, die als Parteifreie auf einem FPÖ-Ticket im Hohenemser Stadtrat sitzt, kämpft für Ausgegrenzte und Arme. Ein langjähriger ÖVP-Politiker wendet sich gegen seine Partei, weil er sich fragt, wie christlich und sozial Türkis noch ist.

Der Aufstand hat etwas Altmodisches jenseits von Twitter-Unwettern und Facebook-Tiraden. Ein postgelber Briefkasten mit der Aufschrift "An S. Kurz - Lehre und Asyl" sammelt Protestnoten -für ein dauerhaftes Bleiberecht und den Zugang zu Lehrstellen für Flüchtlinge, gegen Abschiebungen in der Nacht und Verbringungen in Länder mit prekärer Sicherheitslage. 1000 Briefe sollen bereits an Sebastian Kurz verschickt worden sein.

Der Bundeskanzler ist der große Abwesende. Seit Kurz vor gut drei Wochen beim "Bürgerdialog" im Bregenzer Landhaus sich den Fragen der Anwesenden erst nach tumultartigen Szenen stellte, gärt es im Ländle. "Wir gehen lieber auf die Straße demonstrieren, wenn Sie hier nicht reden wollen", rief einer der Zuhörer Kurz damals zornig entgegen.

"Das Wunder von Hohenems"

Hanno Loewy ist ebenfalls auf dem Salomon-Sulzer-Platz unterwegs. "Das Wunder von Hohenems", sagt er lachend, als die Sonne ein Loch in die Nebelwand reißt. In seiner neongelben Warnweste sieht er aus wie der Mitarbeiter einer Security-Firma. Er ist als Ordner im Einsatz und sorgt dafür, dass die Autos, die durch die verkehrsberuhigte Zone schleichen, von Kundgebungsteilnehmern nicht behindert werden. Demonstrieren, aber richtig. Loewy, 57, leitet seit 2004 das Jüdische Museum Hohenems.

Später wird Loewy, ein streitbarer Zeitgenosse, sagen: "Das Thema Migration, das Leben und Arbeiten mit Flüchtlingen, hat in Vorarlberg eine gesellschaftliche Breite erreicht, die anderswo nicht zu finden ist. Es sind Beziehungen entstanden. Flüchtlinge sind hier keine Horrormeldungen in Boulevardblättern, sondern Menschen, die man kennt." Loewy erinnert an das Beispiel Sulzberg, das landesweit für Schlagzeilen sorgte: "Eine christliche Familie, die im Kirchenchor singt, deren dreijähriges Kind im Ort geboren wurde und Vorarlberger Dialekt spricht, wird um fünf Uhr früh brutal von der Polizei abgeholt.

Die Mutter erleidet einen Nervenzusammenbruch, das Kind wird mit dem Vater nach Wien verschleppt. Das muss jeden, der über einen Rest an anständigen Regungen verfügt, auf die Palme bringen. Die perfekte Provokation jeder Menschlichkeit." Und Hanno Loewy stellt unmissverständlich klar: "Schwarz ist in Vorarlberg immer noch schwarz - und nicht türkis. Selbst gestandenen ÖVPlern ist der Kurz-Kurs offensichtlich zuwider."

"Wir werden sicher nicht klein beigeben"

Sigrid Brändle ist eines der Gesichter der Bewegung. Seit sie sich Kanzler Kurz beim "Bürgerforum" in den Weg gestellt hat, klingelt ihr Handy pausenlos. Brändle, 57, stammt aus einer Hohenemser Großunternehmerfamilie. In der Stadtvertretung unterstützt sie als Parteifreie die FPÖ-Fraktion. "Dem Junge gehörte endlich die Meinung gesagt!", liest sie eine WhatsApp-Nachricht über ihr Zusammentreffen mit Kurz vor. "Es gibt nur mehr wenige, die nicht davon überzeugt wären, dass der Weg, den die Politik derzeit einschlägt, nur mehr unmenschlich ist", sagt sie in ihrer penibel aufgeräumten Küche: "Wir werden unseren Protest bis ins Parlament nach Wien tragen. Wir werden sicher nicht klein beigeben."

PROTEST-BRIEFKASTEN: Auf dem Hohenemser Salomon-Sulzer-Platz

Besuch in der Praxis für Psychiatrie und Psychotherapie von Klaus Begle, letzte Station auf der Tour durch ein Land, in dem Politik nicht mehr Privatsache ist. Begle, 54, ist langjähriger ÖVP-Politiker in Hohenems, seit geraumer Zeit fremdelt er mit seiner Partei. "Man fährt über uns drüber", sagt er im Raum mit der orangen Steinmauer. "1984 protestierten wir in der Hainburger Au gegen den Kraftwerksbau, den der damalige Bundeskanzler Sinowatz mithilfe von Polizisten und Baggern durchsetzen wollte."

Antworten gefordert

Begle ist einer der "Sonntagsdemonstration"-Initiatoren. Man sieht ihm den alten Kämpfer an. "Kurz hat mit dem Migrationsthema Wahlerfolge eingefahren - mit den Kollateralschäden setzt er sich nicht auseinander. Er soll gefälligst Antwort geben auf die drängenden Fragen: Warum wird unser bestens integrierter Mitarbeiter in ein unsicheres Drittland zurückgeschickt? Weshalb muss unsere Freundin, die Deutsch spricht und die im Dorf jeder schätzt, nach Afghanistan zurück?"

Vor mehr als 30 Jahren wurde Begle von der Polizei in Hainburg an den Haaren über Äcker gezogen. Aufgeben gilt für ihn auch dieses Mal nicht. "Es köchelt und lodert", sagt er. "Das Feuer kann leicht übergreifen."

Wolfgang Paterno

Wolfgang Paterno

ist seit 2005 profil-Redakteur.