Wahl 2013: Fünf Deutsche vergleichen die zwei Wahlsonntage
Die Gesichter werden immer länger, bei der blauen Säule frieren sie ein. Der Beamer hat die erste Hochrechnung auf die Leinwand geworfen. Am Tisch drängt sich Leergebinde. Der Rockmusiker muss vor die Tür, um zu rauchen. Als er zurückkommt, lässt er die aus seiner Sicht einzige gute Nachricht des Abends fallen: "St. Pauli hat gewonnen." Er meint den deutschen Fußballklub.
Das kriegt Österreich nie hin!
Ach, Deutschland! Seit Mitte der 1990er-Jahre gäbe es dort Mehrheiten links der Mitte, die allerdings nicht immer regierungsfähig seien. "Das kriegt Österreich nie hin!", klagt der Kommunikationsexperte. Der Beamer projiziert inzwischen die ersten Analysen. Der Schauspieler verdreht die Augen, als der ÖVP-Generalsekretär die Stimmenverluste umdeutet: "Diese Dialektik werde ich nie begreifen. Wir haben gewonnen, weil wir weniger verloren haben." Im Wiener Lokal "Hafenjunge", das untertags ein Grafikbüro ist und am Abend Hamburger Bier ausschenkt, haben sich ein Schauspieler, ein musizierender Bauarbeiter, ein Agenturchef und zwei Philosophinnen eingefunden. Was die Runde eint, sind ein deutscher Pass, ein österreichischer Meldezettel und ein paar Absonderlichkeiten, die sich aus dieser Kombination ergeben.
Mark Blume, Daniel Große Boymann, Georg Brockmeyer, Sandra Lehmann und Andrea Roedig leben und arbeiten seit vielen Jahren in Österreich. Sie zahlen hier Steuern, haben Familie und Freunde und erhitzen sich über die politischen Verhältnisse im Land - an diesem Wahlsonntag mehr denn je. Wählen aber dürfen sie nur in Deutschland, wo sie selten sind. Vor einer Woche wurde dort der Bundestag neu gewählt.
Der gebürtige Münchner Daniel Große Boymann, dessen Stück "Spatz und Engel" eben im Burgtheater gespielt wird, kam 1997 nach Wien, um Schauspiel und Gesang zu studieren. Seither hat er hier auf zahlreichen Bühnen gemimt und musiziert, Stücke geschrieben und inszeniert, ein Theater geleitet und Musicals übersetzt.
Am Magistrat holte er sich eine Abfuhr
Im Frühjahr befragte Wien das Volk, also auch ihn, was es über eine Privatisierung des Wassers denke. Als einer, der gerne in den Bergen herumsteigt, fühlte Große Boymann sich aufgerufen, Nein anzukreuzen. Doch am Magistrat holte er sich eine Abfuhr: An der Volksbefragung dürften nur Österreicher teilnehmen. "Da ist mir erst richtig klar geworden, dass ich nicht einmal dann mitreden darf, wenn es mich unmittelbar betrifft."
157.800 Deutsche in Österreich
Über 150.000 deutsche Zuwanderer leben in Österreich, doppelt so viele wie vor zehn Jahren. Fast 30.000 davon sind an heimischen Hochschulen inskribiert. Georg Brockmeyer war 1998 einer der Ersten: "Leute wie ich waren damals an der Uni noch Exoten." Er zog von Freiburg im Breisgau nach Wien, um Geschichte und Literaturwissenschaften zu studieren, wollte alles über das Jahr 1934 wissen, den "ersten bewaffneten Widerstand" gegen den Faschismus in Europa.
Wie dankt es mir die Republik?
Ein, zwei Semester hatte er eingeplant. Doch er war über den VSStÖ -zuerst als Sprecher, bald darauf als Bundessekretär - flugs in der Politik gelandet. 2002 mischte er im Wahlkampfteam von Alfred Gusenbauer mit. Es folgten ein Intermezzo im Bundestag in Berlin, Studienabschluss und - 2006 - Rückkehr nach Wien, wo er sich als Kommunikationsstratege einen Namen machte. Vor zwei Jahren stieg er als Partner bei trummer +team ein. Mit seiner Agentur schuf er zwei Arbeitsplätze: "Wie dankt es mir die Republik?" Mit einem Stimmrecht jedenfalls nicht.
Leuchttürme
Mark Blume stammt aus dem hohen Norden. An der Uni seiner Heimatstadt Vechta traf der gelernte Bauarbeiter und Rockmusiker eine Österreicherin, die eine Diplomarbeit über Leuchttürme schrieb. Sie wurden ein Paar und lebten in Deutschland, bis ihr Sohn Leander eineinhalb war. Dann zog die Familie ins niederösterreichische St. Andrä-Wördern. Tochter Silja kam hier auf die Welt. Die Namen der Kinder ließ Mark Blume sich in den Arm tätowieren. In Deutschland hatte er 1998 Rot gewählt. Doch als Gerhard Schröder als Kanzler "alle Prinzipien über Bord warf", kehrte er der Sozialdemokratie den Rücken und wählte Grün. In Österreich wüsste er nicht, was er ankreuzen würde: "Hier kümmern sie sich zu wenig um die großen Themen."
Das politische Klima ist vergiftet
Überhaupt laufe hier einiges anders. Daniel Große Boymann hat -naturgemäß -ein Faible fürs Theatralische. Doch selbst nach fast zwei Jahrzehnten in der rot-weiß-roten Diaspora könne er sich nicht daran gewöhnen, dass man im Hohen Haus einander kräftig gegen das Schienbein trete, "aber keiner hat etwas gegen einen Dritten Nationalratspräsidenten Martin Graf unternommen". Kommunikationsexperte Brockmeyer vermisst harte, sachliche Debatten, wie er sie aus Deutschland kennt: "Man kann sich hier nicht gepflegt streiten. Das politische Klima ist vergiftet."
Verfilzte Sozialdemokratie
Dieses zweifelhafte Verdienst gebühre Jörg Haider. Auseinandersetzungen kratzten bloß an der Oberfläche, so Philosophin Sandra Lehmann: "Auf der persönlichen Ebene wird umso heftiger geklüngelt." Dafür habe sie einen im Ruhrpott geschulten Blick. In Dortmund geboren, war sie bald abgestoßen von der mit allem und jedem verfilzten Sozialdemokratie. Sie studierte Philosophie in Berlin und lernte hier nebenbei, dass sie "wohl zu den wenigen Menschen gehört, die diese Stadt nicht aushalten".
Richtig gelöst
Als Lehmann 1996 nach Wien kam, um am Institut für die Wissenschaften vom Menschen zu arbeiten, habe sie sich "richtig erlöst" gefühlt. Sie schrieb eine Doktorarbeit über den Phänomenologen Jan Patočka, forschte und lehrte in Prag und Jerusalem, und ließ sich in Wien nieder, während ihre Stimme bei jeder wichtigen Wahl weiter nach Deutschland ging. Schwarz-Blau markierte eine Wende, für ihre neue Heimat ebenso wie für sie persönlich: "Wo man lebt, will man teilhaben. Ich habe damals die Straße als Mittel entdeckt, um mich abseits von Wahlen auszudrücken."
"Deutsch-Ausländer"
Ihre Freundin, die aus Düsseldorf stammende Philosophin und freie Publizistin Andrea Roedig, lebt seit sieben Jahren in Wien. Vor wenigen Wochen schrieb sie in einem Kommentar in der Tageszeitung "Der Standard" über "Deutsch-Ausländer" wie sie selbst: "Die Identifikation mit der neuen Heimat ist schon ziemlich groß, aber doch nicht groß genug, um in Österreich die Staatsbürgerschaft beantragen zu wollen." 113 Deutsche ließen sich im Vorjahr einbürgern. Georg Brockmeyer gehörte nicht dazu. Er habe öfter mit dem Gedanken gespielt: "Aber solange hier im Parlament mehr als 20 Prozent Nazis sitzen, gebe ich meinen deutschen Pass nicht zurück." Ein paar Fragezeichen bleiben über der Runde hängen: Warum fuhr eine alles andere als charismatische deutsche Kanzlerin, die in der Krise auf sozialpartnerschaftlichen Ausgleich und Konjunkturbelebung gesetzt hat, vor einer Woche Gewinne ein? Warum gelang das ihrem österreichischen Kollegen nicht? Und warum kommen die Freiheitlichen der Post-Haider-Ära immer noch auf mehr als ein Fünftel der Wählerstimmen?"In Deutschland hätte eine Rattenfängerpartei niemals diesen Erfolg."
Notwendige "Konsolidierung des bürgerlichen Lagers"
Andrea Roedig hält von einer Großen Koalition in Deutschland wenig. In Österreich hingegen betrachte sie Rot-Schwarz als notwendige "Konsolidierung des bürgerlichen Lagers". Eine Neuauflage von Schwarz-Blau -mit Frank Stronachs Hilfe -ließe sie an ihrer Wahlheimat zweifeln. Doch der Einzige, der an diesem Wahlsonntag konkrete Umzugspläne hegt, ist Markus Handl, Besitzer des Lokals "Hafenjunge" (www.hafenjunge.com). Die nächsten Wahlen wird er, wenn alles nach Plan geht, in Hamburg miterleben. Dort wird der gebürtige Waldviertler -zumindest bei Bundeswahlen -auch nur eine Stimme aus dem Off sein.
Foto: Kurt Göthans für profil
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