Feindstaubalarm

Essay. Sven Gächter über ein Brechmittel namens Wahlkampf

Drucken

Schriftgröße

Wir haben fertig.

Lange, viel zu lange, waren wir gelassen, um nicht zu sagen: ­träge, fast phlegmatisch. Es gab nicht viel, das uns aus der Ruhe brachte, weil wir uns in dieser Ruhe behaglich eingerichtet und gegen alle gerade noch verschmerzbaren Zumutungen von oben immunisiert hatten. Wir schätzten den Komfort der schulterzuckenden Gewohnheit; er ersparte es uns, über das landläufige Missvergnügen und den fein dosierten Widerspruch hinaus Farbe zu bekennen.

Doch das Maß der friedseligen Indifferenz ist ausgereizt. Wir können dem passiv-aggressiven Republikanismus, den wir lange – viel zu lange! – leidenschaftslos praktizierten, nichts mehr abgewinnen. Wir sind verdrossen, genervt, ­empört, und wäre das Etikett „Wutbürger“ nicht schon so ­abgewetzt, wir würden es uns durchaus anheften.

Wir sind viele. Frauen und Männer. Rechte. Linke. Gutmenschen. Egoschweine. Heteros. Homos. Lesben. Beamte. Manager. Angestellte. Selbstständige. Teilzeit-, prekär oder gar nicht Beschäftigte. Karrieristen. Sozialhilfeempfänger. Eingeborene. Eingebürgerte. Stadtneurotiker. Landpomeranzen. Singles. Verheiratete. Verpartnerte. Geschiedene. Verwitwete. Auszubildende. Ruheständler. Jungwähler. Altwähler. ­Gewohnheitswähler. Gelegenheitswähler. Wechselwähler. Frustwähler. Und bald nur noch erbitterte Nichtwähler.

Kurz: Wir sind das Volk. Nicht das ganze Volk, zugegeben, aber jener still und machtvoll wachsende, durch keine ­repräsentativen Umfragen einzufangende Teil davon, der es unsagbar satt hat, sich fortgesetzt für so dumm verkaufen zu lassen, wie es der politischen Klasse in ihrer kruden Selbstgefälligkeit zielführend erscheint.

Wir sind all jene, die sich keiner eingetragenen Partei, keiner ausgewiesenen Interessenvertretung, keiner ökonomischen, spirituellen oder sonstwie sektiererischen Lobby in bedingungsloser Kadavertreue verbunden fühlen. Wir nehmen Anteil am gesellschaftlichen Diskurs; wir reflektieren die Welt, in der wir leben; wir sind offen für Inhalte, Argumente und Gegenargumente, und wir wünschten uns, dass die p. t. Repräsentanten der parlamentarischen Demokratie hin und wieder auf der Höhe dieser kundenfreundlichen ­Dialektik unterwegs wären, doch sie fertigen uns erbarmungslos mit monströs aufgeblähten Denk- und Sprechblasen ab, die keinen anderen Zweck erfüllen, als das ewig gleiche Sinnvakuum zu reproduzieren.

Man müsse, belehren uns die PR-Strategen, Botschaften maximal verkürzen und unablässig wiederholen. Die Monotonie sei gleichsam systemimmanent und diene vor allem der Mobilisierung von Kernzielgruppen. Zugleich aber lehrt uns die jüngere Demografie, dass Parteien immer weniger auf den Rückhalt unverdrossener Stammwähler vertrauen können. Trotzdem werden Politkampagnen mit alles niederwalzender Konsequenz auf genau diese angeblich ohnehin fromm Entschlossenen zugeschnitten – ein verstörender ­Widerspruch, den man wohl auch schlicht als systemimmanent hinzunehmen hat.
Und so sind wir, die hinreichend vielen für jeden Kern­klienteltest Ungeeigneten, die ohnmächtigen Adressaten ­eines Wahlkampfs, der in keiner relevanten Hinsicht mit uns zu tun hat und dafür umso lauter, platter und redundanter ausschließlich mit sich selbst beschäftigt ist.
Nichts von dem, was wir sehen, hören, lesen, appelliert an unsere staatsbürgerliche Intelligenz. Es stimuliert allenfalls die flüchtigen Instinkte jener, von denen die Parteien glauben, sie seien keiner anderen Geistesnahrung gewachsen als dem vollfetten Propagandamix aus Lügen und Banalitäten. Uns bleibt nur das Nachsehen der vorsätzlich Ignorierten und ein notdürftiger Selbstschutzmechanismus: Wir sind bestens, weil schmerzhaft geschult im Wegducken und Abschalten, wenn der Wahlkampfwanderzirkus wieder seine grindigen Popanze auffährt – die künstlichen Erregungen, die ­rituelle Niedertracht, die larmoyanten Heucheleien, die wechselseitigen Schuldzuweisungen, die dreisten Unzuständigkeitserklärungen, das ganze hohle Pathos der politischen Betriebsroutine. Wo ein Widerwille ist, ist auch ein Weg. Er führt direkt zum permanenten Brechreiz.

Was genau sehen wir denn, wenn wir so unversöhnlich schwarz sehen? Wir sehen Politik als immerwährendes Schauraufen in der Polterkammer: ein täglich neu, aber verlässlich grobschlächtig inszeniertes Heckmeck, wie ein aus dem Ruder gelaufener Kindergeburtstag. Mal hauen die einen hin, und die anderen schmollen, mal ist es umgekehrt. Allergiker unter sich: Es ist nie zu früh für einen Anfall.

Wir sehen die Mitglieder einer in Granit gemeißelten Rot-Schwarz-Regierung, die ihre Kabinettskollegen bei jeder ­Gelegenheit mit stumpfem Furor attackieren, als handle es sich um gemeingefährliche Zecken und nicht um Koalitionspartner, mit denen man sich um des schieren Machterhalts willen immer schon prächtig arrangiert hat.
Wir sehen einen Kanzler, dessen einzige klar und amtlich profilierte Vision darin besteht, Kanzler zu bleiben. Wir ­sehen einen Vizekanzler, der es unbedingt selbst werden möchte und dafür allerlei hüftsteife, im global konfektionierten Spin-Doctoring antrainierte Verrenkungen in Kauf nimmt (die ihm bisweilen immerhin rechtschaffen peinlich sind). Manchmal sehen wir die beiden Seite an Seite, und wenn wir die Augen lange genug zusammenkneifen, verschwimmen sie irgendwann zu einer diffusen, rundum eigenschaftslosen Einheit. Nie wirkten Regierungschefaspiranten austauschbarer als in der doppelgrau melierten Ära Faymann/Spindel­egger.
Wir erweitern den Blickradius und begraben die Sehnsucht nach vitalen Gegenentwürfen in schriller Trauer. Die Freiheitlichen stalken uns mit gleichbleibend dumpf variiertem Fremdenhass, der sich im Jahrgang 2013 nassforsch als Nächstenliebe tarnt. Das vierschrötige Haider-Einmaleins – Höhnen, Drohen, Geifern, Hetzen – wirkte schon zu späten Lebzeiten des Kärntners ermüdend. Der Wiener hat ihm in Wahrheit nichts hinzugefügt, auch wenn er sich noch so trotzig abstrampelt, sein prekäres Erbe zu verleugnen.

Die Grünen plakatieren (wenn sie nicht gerade damit ­beschäftigt sind, in chaostheoretischen Feldversuchen ­Autolenker, Radfahrer und Fußgänger aufeinanderzuhetzen) possierliche Tiersujets, um ihre Kernbotschaft unter die Leute zu bringen: Wir sind anders als die anderen! – Mehr nicht? Nicht nötig: In Österreich muss das heute als Heilsversprechen genügen.
Und schließlich der Alte. Daddy Gaga. Nach Trabrennbahnen und Fußballvereinen hat er die Politik als ultimativen Selbstverwirklichungstrip entdeckt und macht alle Anstalten, zumindest bis zum 29. September darauf hängen zu bleiben. Er ist reich genug, um sich jede mediale Beachtung zu kaufen, aber trotz seines fortgeschrittenen Alters nicht ­annähernd weise genug, um die Mechanismen einer nicht autokratisch verfassten Öffentlichkeit zu bedienen, geschweige denn zu verstehen. Seine Auftritte bieten aberwitzigen Unterhaltungswert, weil sie Politik als erratische Karikatur in progress vorführen. Ein begnadeter Kabarettist könnte mit der Fräänk-Revue volkspädagogisch wertvolle Dekonstruktionstriumphe feiern – er würde sich seine vielversprechende Karriere als Befremdungskünstler aber wohl kaum mit einer schnöden Kanzlerkandidatur ruinieren.

So weit die trostlose Praxis!

Wir wurden sozialisiert mit dem Leitgedanken, dass ­Demokratie eine erhabene, oft mühselige, auf jeden Fall aber ernsthafte Angelegenheit sei. Doch wie ernst können wir eine politische Kultur nehmen, deren kommunikatives Repertoire sich von jenem der Hunde durch nichts mehr unterscheidet: bellen, schnappen, beißen und an jeder Ecke möglichst ­penetrante Duftmarken hinterlassen? Die Marktwirtschaft wird durch das geschmeidige Wechselspiel von Angebot und Nachfrage gesteuert; die Angebote der österreichischen ­Politik blenden einen immer gewichtigeren Teil der Nachfrage so standhaft stur aus, dass sich der Verdacht konzertierter Verarschung aufdrängt. Die Kluft wird größer – und irgendwann wird sie unüberbrückbar.

2,8 Millionen Wahlberechtigte (43 Prozent!) sind laut den ­aktuellen Wasserstandsmeldungen der Demoskopie noch unentschlossen. Die Hälfte ­davon wiederum gibt an, weiß oder gar nicht wählen zu wollen. Eine alles andere als schmächtige Minderheit hat sich somit jetzt schon mit der Ultima Ratio der Verweigerung abgefunden. Wir gehören zu dieser rasant wachsenden Minderheit und legen Wert darauf, dass unser Motiv keinesfalls Desinter­esse oder Faulheit, sondern demonstrative Abscheu ist. Wir ­erkennen uns im Spektrum der vorgestanzten Meinungs­bildungen nirgendwo wieder und lehnen es ab, die Schuld dafür bei uns selbst zu suchen. Sie liegt vielmehr bei den Schaumschlägern, Rattenfängern und Knallchargen der Politik, die – sei es aus Prinzip, sei es aus Überforderung – chronisch unfähig sind, sich auf die Denk- und Lebenswirklichkeiten jener einzulassen, um ­deren Stimmen sie mit der aufsässigen Verzweiflung von Jahrmarktschreiern buhlen.

Wir kommen als Publikum leider nicht mehr in Frage und treffen bis auf Weiteres die freie Wahlentscheidung, uns ­Augen und Ohren zuzuhalten.

[email protected]

Sven   Gächter

Sven Gächter