Nur fünf Kilometer von der Hauptstadt entfernt hat er fünf Schafe gerissen. Kommt er wieder? Ist ein „Stadtwolf“ vorstellbar, als Teil des wilden Wiens neben Fuchs, Reh, Wildschwein?
Kaltenleutgeben ist eine beschauliche Gemeinde an der südwestlichen Grenze Wiens, zwischen den beiden Rathäusern liegen nur 35 Autominuten. Ein Naherholungsgebiet mit Wanderwegen, Aussichtswarten, Wiesen und ganz viel Wald.
Die Hektik der Großstadt scheint weit weg, die Lebenszufriedenheit ist hoch. Zumindest lässt die Facebook-Gruppe „Treffpunkt Kaltenleutgeben“ darauf schließen. Mehr als die Hälfte der 3300 Einwohner ist hier vertreten. Hier werden malerische Waldfotos geteilt, Einladungen zu Harfenkonzerten und „Hundeseelenreisen“ ausgesprochen, Seifen oder Wichtel für den Weihnachtsmarkt beworben.
„Wir sind eine Wohlfühlgemeinde mit einer sehr vitalen Facebook-Gruppe“, sagt der Host und grüne Vizebürgermeister Daniel Steinbach. Doch plötzlich musste er untergriffige Postings löschen. Erstmals seit Jahren. Schuld am Hochkochen der Emotionen war ein Wolf. Anfang November hatte er fünf Schafe auf einer Wiese am Ortsrand gerissen. Die blutigen Szenen trugen sich fünf Kilometer von der Wiener Stadtgrenze entfernt zu.
Der Wolf im Wiener Wald. So nahe an der Zivilisation. So nahe an der Hauptstadt.
An Grenzen hält sich der Wolf nicht. Für ihn liegt Wien in Niederösterreich. Bisher blieb Wien das einzige Bundesland, in dem er noch nicht nachgewiesen wurde. Wie lange noch? Rehe, Hirsche, Wildschweine, Dachse oder Füchse sind schon hier. Ist bald auch ein „Stadtwolf“ im Revier? Und wie würden Wienerinnen und Wiener reagieren?
„Wir heißen den Wolf willkommen“
Stimmungstest in Kaltenleutgeben: „Wir heißen den Wolf willkommen“, sagt Steinbach und spricht damit nicht nur für sich und seine Öko-Partei. Der überwiegende Teil der Kommentare in der Facebook-Gruppe sei „pro Wolf“.
Auch Jäger stehen bei vielen Ortsbewohnern in der Sympathiehierarchie unter dem Wolf. Die Freude über die Rückkehr der Artenvielfalt überwiegt offenbar über die archaische Angst vor Isegrim. Und Schafe züchtet kaum jemand.
Steinbach hat fünf Kinder und lässt sie unbekümmert in den Wald. Er verstehe aber, wenn vereinzelt Eltern ihre Kinder nicht allein gehen lassen. Auf der Gemeinde-Website stehen neben den Kinderchor-News „Informationen zum Umgang mit Wölfen“: „Bewahren Sie Ruhe und halten Sie Abstand. Wölfe sind in der Regel scheu und meiden Menschen.“ Weitere Tipps: Schafe einzäunen, Hunde anleinen.
Vor 100 Jahren ausgerottet, wanderte der Wolf ab 2009 wieder in Österreich ein. Das erste Rudel entstand 2016 am Truppenübungsplatz Allentsteig im niederösterreichischen Waldviertel. Aktuell gibt es fünf Rudel auf dem gesamten Staatsgebiet. 2023 wurden über 100 Wölfe nachgewiesen. Der Hauptstadt am nächsten kam der Wolf im Jahr 2018, mit einem toten Schaf in Mauerbach, 20 Kilometer entfernt. Dieses Mal riss er die Schafe fünf Kilometer außerhalb Wiens.
Doch Wolf heißt nicht gleich Rudel. Junge Tiere ziehen auch weiter auf der Suche nach neuen Territorien. Dabei können sie bis zu 60 Kilometer pro Tag zurücklegen. „Das Tier, welches in Kaltenleutgeben nachgewiesen wurde, ist höchstwahrscheinlich ein Abwanderer oder Durchzügler“, sagt der österreichische Wolfs-Beauftragte Aldin Selimović von der Veterinärmedizinischen Universität Wien. Das Ursprungs-rudel verortet er in den Alpen.
Solche Streuner seien auch in der Nähe von Städten möglich. Dass sich ein Wienerwald-Rudel etabliert, hält Selimović aber für „nicht sehr wahrscheinlich“, auf beiden Seiten der Stadtgrenze. Wegen der „sehr intensiven Freizeitaktivitäten des Menschen“ würde das scheue Tier unbesiedelte Gebiete bevorzugen.
Geschossen wird die Sau, nicht der Wolf
In Wien selbst hat die MA 49, Abteilung Wildtiere, ganz andere Sorgen. Sie muss die Wildschweine in Schach halten. Pro Jahr werden in 33 Jagdgebieten vom Wienerwald über Stammersdorf, die Donaustadt bis in die Lobau (13 von der Gemeinde) bis zu 700 Tiere geschossen. Sie fühlen sich sauwohl in der Stadt und suhlen sich in ihrem Boden. Das kann Schäden verursachen. Mit ihrer undezenten Art können Wildschweine nicht nur Verkehrsteilnehmern zu nahe kommen. Sie haben auch schon Spaziergänger im Prater verschreckt, wenn sie selbstbewusst ihre Wege kreuzten und keine Anstalten machten, zu weichen. Die noch größere Herausforderung: die unter Schweinen hoch ansteckende afrikanische Schweinepest. Wenn sie sich von Wildschweinen auf Nutztiere überträgt, kann das für Fleischbetriebe existenzbedrohend sein. Für den Menschen ist das Virus ungefährlich.
„Der Wolf ist ein Teil der Biodiversität“
„Wir beobachten die Wildschweinsituation in Wien sehr genau, damit es nicht zu Problemen wie in anderen großen europäischen Städten kommt“, sagt Günther Annerl, Wildtier-Experte der MA 49. Und beim Wolf?
„Ja. Ein Stadtwolf ist möglich“, sagt er und legt eine dramaturgische Pause ein: „Im Tiergarten Schönbrunn.“
Im Gleichklang mit dem Wolfs-Beauftragten sieht auch Annerl das Stadtgebiet nicht als passenden Lebensraum für den Wolf. „Wölfe wollen ihre Ruhe haben und nicht ständig vom Menschen gestört werden.“
Sein Büro liegt am Fuße des Wienerbergs. Von hier aus sieht man in Richtung Wienerwald und Kaltenleutgeben. Dass sich der Wolf von dort kommend auch mal auf das Stadtgebiet verirrt, kann niemand ausschließen - sofern das Tier nicht vorher überfahren wird.
Wie nahe er Anfang November der Stadt kam, überrascht den Wildtier-Experten Annerl nicht, werde der Wolf doch immer wieder im Schneeberg-Gebiet gesichtet. Und den Berg sieht man bei klarer Sicht von Wien aus. Annerl plädiert dafür, die „Kirche im Dorf zu lassen“. Für ihn ist der Wolf „ein Teil der Biodiversität“.
Wieder. Dafür sorgte auch die EU mit Schutzgebieten und „Tötungsverboten“ im Sinne der Artenvielfalt. Menschen, die selbst zurück zur Natur wollen, begrüßen die Rückkehr des Wolfs. Menschen, die wie Jäger oder Nutztierhalter die Kontrolle über den Tierbestand bevorzugen, eher nicht.
Wobei die Grenzen zwischen reiner Natur und Zivilisation auch für den Wolf fließend verlaufen. „Der Wolf kann sich gut an die Kulturlandschaft anpassen, vor allem wenn genug Nahrung vorhanden ist“, sagt der Wolfs-Beauftragte Selimović. Es gebe aber noch genügend unbesiedelte Gebiete in Österreich.
Der Fuchs vor dem Steffl
Sein scheues Wesen hält den Wolf außerdem davon ab, wie ein Fuchs zu sein. Denn der ist längst ein treuer Stadtbewohner. Der Fuchs zieht den Wienerinnen und Wienern regelrecht nach, wegen der vielen Nahrung, die sie ihm in Form von Katzenfutter, Hundefutter und essbarem Müll servieren. Er spaziert, wie zuletzt mehrfach dokumentiert, ganz selbstverständlich durch U-Bahn-Stationen und ist sich beim Streunen nicht einmal für den 1. Bezirk zu fein. Am liebsten aber fuchsbaut er in die vielen Privatgärten der Stadt.
Ohne natürlichen Feind kann der Stadtfuchs richtig übermütig werden und macht einen auf Haustier. Die Jungfüchse kennen dann, domestiziert von Gartenbesitzern, die sie füttern, nichts mehr anderes.
Füchse bleiben aber auch, wenn sie nerven. „Wir haben fast jährlich eine Familie Fuchs zu Gast. Eine unserer Lagerhütten ist quasi die Standardaufzucht-Unterkunft für Fuchs, Dachs und was weiß man schon noch alles. Sämtliche Versuche, die Hütte rundherum ‚fuchssicher‘ zu machen, sind gescheitert. Irgendwo, irgendwie finden sie immer eine Möglichkeit, sich unter die Hütte zu graben“, sagt Heidi Böpple von der Tschauner-Bühne. Nun erfreue man sich eben am „drolligen Spiel der Jungfüchse“.
Das urige Stegreiftheater mit Garten liegt nicht im Wienerwald, sondern an einer stark befahrenen Straße, einen Steinwurf von der Klinik Ottakring entfernt.
Gejagte Jäger
Ungemütlicher wird es für den Fuchs in den Jagdgebieten der Stadt. Denn er steht nicht unter EU-Schutz wie der Wolf und kann ganz normal geschossen werden.
Doch auch der Schutz des Wolfs ist löchrig geworden. Die österreichischen Bundesländer legen das Tötungsverbot der EU flexibel aus. Über 20 Tiere wurden bereits „entnommen“, wie es im Jägerlatein heißt. Unter dem Protest von Tierschützern.
„Die lokale Jägerschaft strebt derzeit keinen Abschuss an“, sagt Wolfgang Kastenhofer. Er ist Jäger in Kaltenleutgeben und blauer Gemeinderat. Solange die Bevölkerung den Wolf willkommen heiße, werde er sich weiter ausbreiten, ist der Jäger überzeugt. Nutztierhalter müssten ihre Herden dann selbst schützen. Dazu kämen die „enormen bürokratischen Hürden aus Brüssel“ für einen Wolf-Abschuss. Die wolle man sich nicht antun, sagt Kastenhofer. Ebenso wenig wie „mögliche Anfeindungen von Wolfsbefürwortern“.
Vorbei ist die Geschichte aus seiner Warte nicht. „Ein erwachsener Wolf braucht mehrere Kilo Fleisch pro Tag und hat sich bei uns gut genährt. Warum sollte er nicht wiederkommen?“
Seit 2015 Allrounder in der profil-Innenpolitik. Davor Wiener Zeitung, Migrantenmagazin biber, Kurier-Wirtschaft. Leidenschaftliches Interesse am Einwanderungsland Österreich.