Warum eine Gelbwesten-Bewegung in Österreich unvorstellbar ist
Am 17. November 2018 demonstrierten in Frankreich 300.000 Menschen gegen die Erhöhung der Steuern auf Benzin; als Erkennungszeichen zogen sie gelbe Warnwesten ("gilets jaunes") über. Woche für Woche folgten weitere Proteste. Wie jede Graswurzel- Bewegung stehen die Gelbwesten nun vor einer existenziellen Frage: Sollen sie ihren Kampf von der Straße in die dafür vorgesehenen Arenen tragen? Das wäre Politik. Als eine der Anführerinnen der Bewegung folgerichtig ankündigte, mit einer eigenen Liste bei der EU-Wahl im Mai kandidieren zu wollen, warfen ihr Mitstreiter prompt Verrat vor. Die Europawahlen "seien Teil des Systems, das die Gelbwesten eigentlich bekämpfen wollen". So klingt Anarchie. Die Diskussionsverweigerung passt zur Gewaltbereitschaft eines Teils der Gelbwesten, die der Marianne-Statue am Pariser Arc de Triomphe den Schädel einschlugen und auch Polizisten und Reporter vorsätzlich verletzten. Der frühere deutsch-französische EU-Abgeordnete der Grünen, Daniel Cohn-Bendit, hielt den Gelbwesten "autoritäre Züge" vor. Sie seien nicht kompromissbereit.
Kann so etwas auch bei uns passieren? Nein, meinte Bundeskanzler Sebastian Kurz im Interview mit dem französischen Sender CNews kategorisch. Er sehe keine "Ansteckungsgefahr" für Österreich: "Wir machen eine andere Politik." Mit "wir" meint der Kanzler wohl seine eigene Regierung und mit "Politik" die jüngsten türkis-blauen Benefits (Familienbonus, reduzierte Sozialversicherungsbeiträge, Steuerkürzungen) für die Mittelschicht. Man kann den Begriff "andere Politik" aber auch weiter fassen. In der Tiefenstruktur unseres Landes wirken Kräfte, die Beben wie in Frankreich hemmen. Ironischerweise sind es gerade die tausendfach beschriebenen österreichischen Schwächen, die Stabilität garantieren.
Der Föderalismus
Die meisten Analysen deuten das Gelbwesten-Phänomen als Aufstand der vernachlässigten Provinz gegen die verhasste Hauptstadt Paris, als Revanche des Landes an einem zentralistischen System. Auch Österreich hat eine überdimensionierte Metropole, in der ein Viertel der Gesamtbevölkerung wohnt. Die Eliten, ob in Wien geboren oder zugezogen, neigen zur Verklärung des Einheits- und Verspottung des Bundesstaats. Erstaunlich am Föderalismus-Bashing ist, wie nonchalant die Entmachtung der Bundesländer gefordert und damit die Aufhebung des bundesstaatlichen Prinzips betrieben wird. Dieses bildet einen der Bausteine der Bundesverfassung und verdiente eigentlich ebenso viel Respekt wie die Rechtsstaatlichkeit oder die Menschenrechtskonvention.
Der Wert des Föderalismus besteht darin , dass die Verfassung einen Interessensausgleich zwischen Zentrale und Filialen regelt. Informell achten die viel gescholtenen Landeshauptmänner grimmig darauf, dass der Bund auch in ihrer Region eine Autobahn, einen Bahnhof oder eine Medizinfakultät finanziert; dass in den Tälern Postzustellungen und Handynetze funktionieren und das nächste Krankenhaus nicht zu weit entfernt ist. Selbst die SPÖ, die seit jeher eine zentralistische Haltung vertrat, sollte als Oppositionspartei über das Mitspracherecht der Länder froh sein. Gäbe es das bundesstaatliche Prinzip nicht, könnten Sebastian Kurz und Heinz-Christian Strache die Stadt Wien tatsächlich abräumen, und Michael Ludwig bliebe als einziger Ausweg, sich eine gelbe Weste zu besorgen. Schon unter Schwarz-Blau I, als ÖVP und SPÖ einander geradezu hasserfüllt begegneten, war es die Landeshauptleutekonferenz, in der eine Gesprächsbasis erhalten blieb.
Die Parteien
Im Gegensatz zu Italien und Frankreich ist die Erosion der Parteienlandschaft hierzulande ausgeblieben. An realen und digitalen Stammtischen mag noch so laut über sie gestänkert werden -dennoch genießen die Parteien Akzeptanz in der Bevölkerung. Bei der Nationalratswahl 2017 lag die Wahlbeteiligung bei immerhin 80 Prozent. Bei der Parlamentswahl in Frankreich im Juni 2017, die Präsident Macrons neue Partei (La République en Marche) gewann, betrug die Wahlbeteiligung nur 49 Prozent. Die Mehrheit der Österreicher vertraut offenbar darauf, dass Traditionsparteien wie die SPÖ (130 Jahre alt), ÖVP (73 Jahre) oder FPÖ (62 Jahre) ihr Leben verbessern. Auch neue (NEOS) oder derivative (Liste Pilz/Jetzt) politische Bewegungen setzten von Anbeginn auf eine Parteienstruktur. Eine außerparlamentarische Opposition, wie von den Gelbwesten in Frankreich vorgelebt, entwickelt in Österreich dagegen kaum politischen Druck.
In einer Demokratie sollte "die Willensbildung unter Bedachtnahme auf möglichst viele Betroffene und deren Interessen" (Alt-Bundespräsident Heinz Fischer) erfolgen. Unter dieser Prämisse sollten freilich alle Wähler damit rechnen dürfen, dass ihre Partei einmal an die Macht gelangt. So gesehen ist die Regierungsbeteiligung der FPÖ -bei aller inhaltlichen Kritik - ein demokratiepolitischer Fortschritt. Ohne Aussicht auf Machtteilhabe wird politische Energie zwangsläufig auf die Straße umgeleitet.
Die Sozialpartner
Wenn Daniel Cohn-Bendit den französischen Gelbwesten mangelnde Gesprächsbereitschaft vorhält, müsste er die österreichische Sozialpartnerschaft lieben. Ihr Ideal ist die Kooperation, nicht die Konfrontation - Ruhe statt Sturm. Wie beim Föderalismus macht auch bei der Sozialpartnerschaft die Dosis das Gift. Man kann den Aufstand der Gelbwesten nicht zuletzt als Misstrauensbeweis gegenüber den französischen Gewerkschaften interpretieren, die zu den Bürgern der unteren Mittelschicht nicht mehr durchdringen.
In Österreich funktioniert der Ausgleich zwischen Arbeitnehmern und Arbeitgebern auch dann, wenn in der Regierung eine sozialpartnerschaftsfeindliche Partei wie die FPÖ sitzt. Was in den Betrieben, der untersten Ebene der Sozialpartnerschaft, geschieht, kann die FPÖ nicht beeinflussen (ebensowenig die anderen Parteien). Auf der mittleren Sozialpartner-Ebene laufen die Lohnverhandlungen zwar zäher als früher, aber am Ende steht wie immer eine Einigung. Und ganz oben, an den Spitzen von ÖGB und Wirtschaft, scheinen sich die Irritationen nach dem wilden Streit um die Arbeitszeitflexibilisierung im vergangenen Jahr gelegt zu haben. Zudem dürfte der neue Wirtschaftskammerpräsident und Kurz- Vertraute Harald Mahrer erkannt haben, dass er Abstand zur Regierung halten muss. Und eines ist sicher: Von möglichen Plänen für eine drastische Steuererhöhung auf Benzin, die am Anfang der Gelbwestenbewegung stand, würde die Regierung von Arbeitgeber-und Arbeitnehmer-Vertretern in den eigenen Reihen rasch abgebracht werden.