Wenn ein Gefängnis für Jugendliche zum Ort der Geborgenheit wird
Gewaltdelikte von Jugendlichen haben eine Debatte über die Senkung der Strafmündigkeit auf zwölf Jahre entfacht. Was bringt die Verschärfung des Jugendstrafgesetzes außer Schaden bei Menschen, die noch nicht vollständig ausgereift sind? Ein Besuch in der Gefängnisschule in Graz.
Vielen von ihnen fehlt die Sehnsucht nach Freiheit. Weil sie sich drinnen wohler fühlen als draußen. Das macht Cornelia Dornhofer manchmal Angst. Sie ist Lehrerin in der Gefängnisklasse der Justizanstalt Graz-Jakomini, kurz: JA Jakomini. Dort bleiben die jugendlichen Häftlinge auch nach ihrer Verurteilung und kommen nicht wie üblich ins Jugendgefängnis Gerasdorf, weil der dortige Jugendstrafvollzug nach Wien-Simmering übersiedelt und keine Jugendlichen mehr aufnimmt. Das neue Jugendgefängnis Münnichplatz soll im Oktober eröffnen.
In der JA Jakomini unterrichtet Dornhofer 40 Insassen pro Jahr. In den meisten Fällen sind es Burschen und junge Männer mit Migrationshintergrund. Manche nur für ein paar Monate, andere sind so lange da oder kommen immer wieder, dass sie in den Jahren ihrer Haft den gesamten Pflichtschulabschluss schaffen. Ein Teil der Häftlinge ist noch schulpflichtig, der andere holt drinnen den verpassten Abschluss freiwillig nach. Für sie ist Dornhofer jeden Vormittag da, so wie an diesem Morgen. Auf den ersten Eindruck lässt das Klassenzimmer nichts Ungewöhnliches erkennen. Eine große Landkarte hängt an der Wand, Plakate von Biologie-Referaten kleben daneben, darunter stapeln sich Wörterbücher, rechts davon stehen Computer und ein Flipchart – es könnte eine beliebige Klasse in einer beliebigen Schule sein. Bis ein Rauschen durchs Zimmer hallt und dem Raum jegliche Unschuld nimmt. Es ist Dornhofers Funkgerät. Am anderen Ende hört man die Stimme eines Justizwachebeamten. Die 44-Jährige tauscht jeden Morgen vor Unterrichtsbeginn an der schweren Eingangstür zur JA ihren Ausweis gegen einen Schlüsselbund und bahnt sich damit den Weg durch jede Menge Türen. Tür auf. Tür zu. Bis zum Klassenzimmer. Dazwischen holt sie das Funkgerät aus einem Metallkasten am Gang und befestigt es an ihrem Hosenbund: „Das muss ich jeden Tag mittragen, es ist Vorschrift“, sagt die Lehrerin, die sich vor fünf Jahren auf eigenen Wunsch ins Gefängnis versetzen ließ.
Der toughen Frau im schwarzen Hoodie mit dem Undercut über dem gepiercten Ohr ist bewusst: „Man muss der Typ für diesen Job sein.“ Wer nur eine Rolle spiele und nicht von Anfang an authentisch sei, gehe unter, „so etwas merken die Schüler sehr schnell“. Trotzdem kann Dornhofer die Sorge in ihrem Gesicht nicht verbergen, wenn sie anfängt, über ihren Alltag zu sprechen: „Wir merken schon, dass die Jugendlichen immer jünger werden. Das gab es so noch nie. Und noch mehr Angst macht mir, wie wohl sie sich in diesem System fühlen.“ Heuer saßen bereits 27 Schüler in ihrer Klasse, der eine oder andere zum wiederholten Mal.
Problematische Biografien
Einer von ihnen ist Lukas (Name von der Redaktion geändert). Er ist vor wenigen Wochen 15 Jahre alt geworden und wartet noch auf seine Verhandlung. Wann er wieder raus darf, weiß er nicht. Im April 2024 wurde er zum fünften Mal festgenommen. Lukas ist der kleinste Insasse in der Strafanstalt. Sein Körper wirkt verletzlich, seine Stimme klingt fern der Pubertät. Neben Gleichaltrigen sieht er aus wie ein Kind. „Ich habe Spielzeug gestohlen, E-Scooter und jetzt eine Drohne“, antwortet er auf die Frage, warum er hier ist. Näher begründen kann er seine Taten aber nicht. Die Schule besucht der Bub gern. Mathematik ist sein Lieblingsfach, und bei Gelegenheit zeichnet er hin und wieder in seinem Heft.
Ihm gegenüber sitzt Abbas (Name von der Redaktion geändert). Der gebürtige Tschetschene ist zum zweiten Mal im Gefängnis und möchte diesmal seinen Hauptschulabschluss nachholen. „Wenn ich die Chance dazu habe, warum nicht“, sagt der 17-Jährige. Abbas ist groß, hat eine tiefe Stimme und einen unergründlichen Blick, der den Eindruck erweckt, er hätte dahinter Teile seines Lebens weggeschlossen. Mit 14 Jahren ist er von der Schule geflogen, „weil ich schlimme Sachen gemacht habe“, darauf folgten Schlägereien und andere Delikte, über die Abbas nicht reden möchte. In der Klasse nennen sie ihn Shem-Shem-Chan. Der Begriff taucht in einem Song des deutschen Rappers Capital Bra auf. Darin singt Bra: „Der Bratan hat Hunger auf Shem-Shem.“ Als er in einem Interview in der „Late Night Berlin“-Show nach der Bedeutung des Wortes gefragt wird, sagt er, Shem-Shem sei eine andere Bezeichnung für Kokain.
Beide Burschen eint eine problematische Biografie. „Das ist immer so“, sagt Wolfang Zirkl. Seit 20 Jahren arbeitet er als Justizwachebeamter, ist Abteilungskommandant der Jugendabteilung und überwacht auf dem Bildschirm in seinem Büro den gesamten Trakt: „Es gibt Unterschiede zwischen migrantischen und österreichischen Häftlingen. Erstere wachsen vernachlässigt auf und sind in den Familien völlig auf sich allein gestellt, Letztere haben erst gar keine Familie, weil die Eltern drogen- oder alkoholabhängig sind.“ Beides beschreibt die Leben von Abbas und Lukas. Der 17-Jährige bekommt hin und wieder Besuch von seinen Eltern, noch seltener von seinen Geschwistern. Er hat drei Brüder und zwei Schwestern: „Die finden es nicht gut, dass ich da bin, aber was sollen sie machen.“ Der 15-jährige Lukas, der einzige Bursche ohne Migrationshintergrund im Trakt, ist allein. Seine Eltern leben getrennt, die Mutter ist stark suchtkrank. Lukas’ Zwillingsbruder war vor ein paar Monaten selbst noch in Haft. Einmal in der Woche schläft er in einer Jugendnotschlafstelle der Caritas.
Debatte über Strafmündigkeit
Junge Menschen wie Abbas und Lukas haben in den vergangenen Wochen eine Debatte quer durch Österreich ausgelöst. Es wurde viel diskutiert über Jugendkriminalität und die große Frage: Ab welchem Alter sollte man Jugendliche ins Gefängnis stecken? Hilft es ihnen oder verursacht das nur Schaden bei Menschen, die noch nicht vollständig ausgereift sind? Angestoßen hat die Diskussion das brutale Verbrechen an einem zwölfjährigen Mädchen im März in Wien-Favoriten, das von 17 Jugendlichen wiederholt missbraucht worden sein soll. Die Gewalteskalationen am Reumannplatz befeuerten das Problem. Innerhalb weniger Tage wurden drei junge Männer bei einer Messerattacke zum Teil schwer verletzt. Einer von ihnen war ein Grundwehrdiener, der Frauen zu Hilfe gekommen war, die von einer Gruppe Jugendlicher belästigt wurden. Die ÖVP forderte daraufhin eine Verschärfung des Jugendstrafrechts und damit die Senkung der Strafmündigkeit von 14 auf zwölf Jahre. Auch eine Haftung der Eltern wurde angedacht. Davor betonte Innenminister Gerhard Karner, nichts überstürzen zu wollen, man müsse zuerst prüfen, wie sinnvoll eine Gefängnisstrafe für ein Kind unter 14 Jahren sei. Gleichzeitig führte er die Schweiz als Beispiel an, wo Kinder ab dem vollendeten zehnten Lebensjahr strafmündig sind, „auch das wäre eine Möglichkeit“.
In der Gefängnisklasse der JA Jakomini hält man von diesem Vorschlag wenig. Zumal dabei aus dem Blick geraten würde, dass Straftaten und Gewalt immer eine Ursache haben, wie Cornelia Dornhofer erklärt: „Für viele ist es häufig ein Schrei nach Aufmerksamkeit. Draußen haben sie niemanden, der sich wirklich um sie kümmert, ihnen zuhört, mit ihnen spricht oder sie wahrnimmt. Es ist die traurige Realität, aber im Gefängnis bekommen die Jugendlichen zwischenmenschlich viel mehr mit. Deswegen landen sie immer wieder hier drinnen.“ Laut Dornhofer sei auch eine Reizüberflutung durch Gewaltvideos in den sozialen Medien mitunter ein Grund für die psychische Überforderung der Jugendlichen, das führe wiederum zu Konzentrationsschwierigkeiten und Wutanfällen. 127 minderjährige Insassen sitzen österreichweit derzeit in Haft. 39 Prozent der Verurteilungen von Jugendlichen im Alter von 14 bis unter 18 Jahren betreffen nichtösterreichische Staatsbürger, bei den Anzeigen sind es 33,6 Prozent. Aus einer Statistik des Innenministeriums geht hervor, dass die Zahl der jugendlichen Tatverdächtigen in den vergangenen zehn Jahren stark gestiegen ist. Die Anzeigen gegen Zehn- bis 14-Jährige haben sich seit 2013 auf über 9500 beinah verdoppelt. Davon allein könne man aber nicht auf eine Zunahme der Jugendkriminalität schließen, es würde auch mit einem verstärkten Anzeigeverhalten zusammenhängen, heißt es. Etwa durch Sensibilisierungsmaßnahmen bei Lehrkräften.
PK VOR NATIONALEM SICHERHEITSRAT MIT INNENMINISTER GERHARD KARNER
Gerhard Karner
Innenminister Gerhard Karner (ÖVP) wolle zuerst prüfen, wie sinnvoll es sei, Kinder unter 14 Jahren ins Gefängnis zu stecken. Gleichzeitig führte er die Schweiz als Beispiel an, wo Kinder ab dem vollendeten zehnten Lebensjahr strafmündig sind und schließt es als "Möglichkeit" für Österreich nicht aus. 127 minderjährige Insassen sitzen österreichweit derzeit in Haft.
Ort der Geborgenheit
Viele straffällige Jugendliche betrachten die Gefängnismauern als „ein Bild der steinernen Mutter“, beschreibt es Dornhofer. Sie fühlen sich hier drinnen sicherer als in Freiheit „und wenn ein Gefängnis für Jugendliche zum Ort der Geborgenheit wird, haben wir ein Problem.“ Außerdem findet sie, sei es unrealistisch, zu glauben, man könne jemanden aus der Gesellschaft nehmen, ihn an einem Ort einsperren, wo alles fremdbestimmt ist, und dann erwarten, dass er dort lernt, wie man selbstbestimmt lebt. „Eine Haftstrafe ist und bleibt eine Stigmatisierung, besonders bei Kindern.“ Gerichtspsychiaterin Heidi Kastner findet im Gegensatz dazu eine Senkung der Strafmündigkeit für angebracht, sagte sie in einem „Standard“-Interview. Kastner sieht nicht ein, warum jungen Menschen in vielen Belangen eine frühere Reife bescheinigt wird, aber sich „diese Entwicklung nicht im Strafrecht widerspiegeln sollte“. Laut der Psychiaterin wissen junge Menschen „schon vor dem 14. Lebensjahr, was sie tun“. Jugendorganisationen und NGOs sprechen stattdessen von einem Vorhaben, „das reinem Populismus“ geschuldet ist, und sprechen sich klar gegen eine Herabsetzung der Strafmündigkeit aus. Am Dienstag forderten 14 Organisationen und Vereine, darunter die Sozialistische Jugend, die Grüne Jugend und die Junos, in einem offenen Brief ans Innenministerium ein umfangreiches Maßnahmenbündel, von Sozialarbeit, Bubenarbeit bis hin zur Wiedereinführung des Jugendgerichtshofs. Mit einer Haftstrafe würde für Kinder und Jugendliche nur eine „lebenslange Karriere in der Kriminalität“ besiegelt werden.
Lukas ist der einzige Häftling, den Wolfgang Zirkl mit Vornamen anspricht, „weil er noch so ist wie ein Kind“. Der abgebrühte Justizwachebeamte mit den starken Oberarmen und dem kantigen Gesicht hat schon „alles gesehen“, erzählt er. „Aber natürlich macht das was mit dir, wenn du die Tür zur Zelle zusperrst und ihn drinnen weinen hörst.“ Cornelia Dornhofer versucht mit jedem Tag, den Jugendlichen die Hoffnung zu geben, dass ein geordnetes Leben in Freiheit immer noch möglich ist. Dafür braucht es Struktur und vor allem einen Plan, was man später einmal machen möchte, wenn man endlich draußen ist. „Die meisten von ihnen haben so etwas nie gelernt.“ Abbas steht kurz vor seinem Schulabschluss, drei Module hat er im Gefängnis absolviert, drei fehlen ihm noch, die will er in einer Schule in Graz fertig machen, „dann hat er das nachgeholt, was er damals verpasst hat, und kann neu anfangen“, sagt Dornhofer. Seit seinem Schulabbruch in der zehnten Schulstufe hat Abbas keine Schule mehr besucht. Jetzt hofft er, dass er nach seinem Schulabschluss eine Lehre als Kfz-Mechaniker beginnen kann und nicht für immer für sein bisheriges Leben abgestempelt wird. Sein anderes, neues liegt noch ausgebreitet vor ihm.