Was der Kampf um die besten Listenplätze über die Parteien verrät
Von Moritz Ablinger und Iris Bonavida
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Viereinhalb Kilometer oder sieben Autominuten trennen die Rathäuser von Traiskirchen und Trumau in Niederösterreich. Weiter liegen die Büros der zwei Bürgermeister Andreas Babler (in Traiskirchen) und Andreas Kollross (in Trumau) nicht auseinander. Die beiden sind aber nicht nur Stadtchefs: Babler ist seit bald neun Monaten SPÖ-Vorsitzender, Kollross sitzt seit sieben Jahren im Nationalrat, aktuell ist er einer von sieben niederösterreichischen SPÖ-Abgeordneten. Aktuell sorgen ihre beiden Listenplätze im Bund und im Wahlkreis der kommenden Nationalratswahl für angeregte Diskussionen, an denen man erkennt, wie die SPÖ funktioniert und wo es parteiintern zwickt.
Sechs Monate vor dem geplanten Termin der Nationalratswahl ist das Ringen um die besten Listenplätze entbrannt – nicht nur in der SPÖ, sondern bei allen Parlamentsparteien. Intensiver laufen die Duelle traditionellerweise bei jenen Parteien an, die mit Verlusten rechnen müssen. So könnten die Grünen beispielsweise ein Drittel ihrer 26 Abgeordneten einbüßen, umso begehrter sind vermeintlich „sichere Listenplätze“. Doch nicht nur die Wahlarithmetik beeinflusst die Kandidaturen, der Kampf um die Plätze offenbart auch Blicke in die Feinheiten der Wahlordnung – und die Untiefen der Parteistatuten.
SPÖ: Keine Entspannung in der Thermenregion
Bleiben wir zunächst bei der SPÖ. Kollross war 2017 Spitzenkandidat im – damals neu geschaffenen – Wahlkreis „Thermenregion“ und zog anschließend mit Direktmandat ins Parlament ein. Die SPÖ-Wahlkreislisten werden in einem mehrstufigen Prozess erarbeitet. Zunächst einigen sich die einzelnen Bezirke auf ihre Listen, anschließend werden sie auf einer Wahlkreiskonferenz zusammengeführt. Die Spitzenkandidatur geht an jenen Bezirk, der aufgrund von Mitgliederzahlen und Wahlergebnissen als der stärkere gilt. Im Süden von Wien, in der „Thermenregion“, ist das die SPÖ Baden. Bezirksparteichef Kollross war 2017 und 2019 der logische Spitzenkandidat.
Auch für die kommende Nationalratswahl sollte er dort stehen. Schon im Herbst hielt die SPÖ in Niederösterreich ihre Wahlkreiskonferenzen ab, Kollross wurde als Spitzenkandidat nominiert. Final bestätigt werden diese Listen am Landesparteirat – einem verkleinerten Parteitag – am 8. April. Normalerweise ein Formalakt. Nur hat Kollross neuerdings ein Imageproblem. Ende Dezember schwadronierte er auf X – inspiriert vom Film „Braveheart –, ob man nicht auch für Bürgermeister das „ius primae noctis“, faktisch das Recht zur Vergewaltigung, einführen könnte. Kollross löschte das Posting und entschuldigte sich postwendend, aber der Fall schlug hohe Wellen. Auch Parteichef Babler übte heftige Kritik. Ob Kollross nun im Wahlkreis als Spitzenkandidat antreten will, muss er bis zum Landesparteirat entscheiden – aktuell überlegt er.
Auch die Landesliste wird am 8. April beschlossen – rein formell. Schon Anfang November präsentierte sie der Landesparteivorstand. Ein Name fehlt darauf allerdings: Andreas Babler. Anders als seine Vorgänger an der Parteispitze wird er in seinem Heimatbundesland nicht auf dem ersten Listenplatz kandidieren. Spitzenkandidat ist stattdessen Gewerkschafter Rudolf Silvan. Landesgeschäftsführer Wolfgang Zwander sagt auf Anfrage, dass Silvan in der letzten Legislaturperiode hervorragende Arbeit geleistet habe. Mag sein. Gewiss ist: Die niederösterreichische SPÖ ging in den letzten Monaten einige Male zu Babler auf Distanz.
Trotz der Querelen sagt Bundesparteigeschäftsführer Klaus Seltenheim, dass er sich die Listenerstellung intensiver vorgestellt habe. „Erst in der vergangenen Woche haben wir am Rande des Parteipräsidiums und im Parteivorstand darüber gesprochen, aber das ist alles im Rahmen.“ In den Gremien wird auch die Entscheidung über die Bundesliste getroffen werden, gemeinsam werden dann alle Wahlvorschläge beim Bundesparteirat am 27. April abgesegnet. Nur Babler steht dort nicht zur Wahl. Seine Erstreihung auf der Bundesliste wurde schon beim Parteitag im Juni beschlossen. Dort stimmten die Delegierten nicht nur über den Parteivorsitz, sondern auch über die Spitzenkandidatur bei der Nationalratswahl ab.
Geschäftsführer Seltenheim erwartet sich auf dem Bundesparteirat entsprechend keine gröberen Streitereien: „Die wesentlichen Beschlüsse werden vorher gefasst.“ Dazu gehört auch die Erreichung einer 40-prozentigen Frauenquote, die sich die SPÖ zwar ins Statut geschrieben, wegen der es aber schon öfter Diskussionen gegeben hat. Aktuell sind immerhin 48 Prozent der sozialdemokratischen Abgeordneten weiblich, die Vorsitzende der Frauenorganisation, Eva-Maria Holzleitner, ist erstmals Spitzenkandidatin auf der oberösterreichischen Landesliste.
ÖVP: Allmächtig am Papier
2017 war ein gutes Jahr für die ÖVP, aber zunächst ein schlechtes für ÖVP-Politiker. Sebastian Kurz hatte gerade die Partei übernommen und ihr mitgeteilt, dass er auf der Bundesliste der einzige Funktionär bleiben wird, der Rest sollten Quereinsteiger sein. Und weil Kurz nicht nur einmal etwas mitteilte, sondern scheibchenweise neu erzählte, präsentierte er einen Sommer lang neue Gesichter: zum Beispiel den Ex-Grünen Efgani Dönmez im Volksgartenpavillon, Ex-Opernball-Organisatorin Maria Großbauer in der Albertina, Ex-Stabhochspringerin Kira Grünberg im Sportzentrum Marswiese. Eine Ausnahme machte er am Ende nur für ÖVP-Kollegin Elisabeth Köstinger, auf Platz zwei. Kurz, damals beinah als Messias der Partei gehandelt, hatte sich den Segen dafür von der ÖVP geholt. Schriftlich, versteht sich: Seitdem steht im Parteistatut, dass der Bundesparteiobmann über die Bundesliste entscheidet. Bei Landeslisten verfügt er über ein Vetorecht.
Am Ende war 2017 im Parlament zwar nicht für alle, aber für viele Platz, 71 Abgeordnete sitzen für die ÖVP im Nationalrat. Nach der Wahl wird der Klub höchstwahrscheinlich empfindlich schrumpfen. Und das macht die Listenerstellung dieses Mal besonders heikel.
Am Papier hat der jetzige ÖVP-Chef, Karl Nehammer, zwar dieselbe Vollmacht wie Kurz. Aber das Machtvakuum nach dem Rücktritt und den Korruptionsvorwürfen haben wieder Bünde und Bundesländer gefüllt. „Ein beinhartes politisches Handwerk“ sei die Listenerstellung, sagt Generalsekretär Christian Stocker zu profil. Und: „Das Gansl wird immer erst am Schluss knusprig.“ Zuerst werden die Wahlkreis-Listen erstellt, dann kommen die Landeslisten dran. Zum Schluss setzt sich der Obmann mit Vertrauten zusammen und schaut, wer auf der Bundesliste abgesichert sein muss oder einen symbolisch wichtigen Platz erhält. Bei Nationalratspräsident Wolfgang Sobotka zum Beispiel ist nach wie vor unklar, auf welcher Liste und auf welchem Platz er gesetzt wird. Die Nummer eins gehört in Niederösterreich jedenfalls schon Gerhard Karner, Platz zwei ging an Klaudia Tanner. Offiziell werden die beiden als Doppelspitze verkauft, die Reihung sei alphabetisch erfolgt. Intern heißt es, dass der Bauernbund schon bei der EU-Wahl stark berücksichtigt wurde und nun dem ÖAAB Vorzug gegeben werden soll.
FPÖ: Sitze ohne Ende – nur wo?
Die ÖVP ist nicht die erste Partei, die durchwachsene Erfahrungen mit dem Modell Quereinstieg macht. Jörg Haider trieb das Modell in den 1990er-Jahren auf die Spitze. Bei den Nationalratswahlen 1994 kandidierten hinter Haider auf der Bundesliste die Richterin Liane Höbinger-Lehrer, Lucona-Aufdecker Hans Pretterebner und Unternehmer Wolfgang Nußbaumer auf den Plätzen zwei bis vier. 1999 war Abfahrts-Olympiasieger Patrick Ortlieb Listenzweiter, hinter ihm kandidierte Ex-ORF-Moderatorin Theresia Zierler. Politische Spuren hinterließ aus der Armada der freiheitlichen Quereinsteiger kaum jemand.
Zumindest für ihn sei das Thema gar nicht so groß gewesen, sagt Norbert Hofer, damals burgenländische FPÖ-Landesparteisekretär, heute Dritter Nationalratspräsident. So viele Quereinsteiger seien es ja im Verhältnis auch nicht gewesen. Jedenfalls spielt der Bundesparteiobmann bei der Erstellung der freiheitlichen Listen auch heute eine gewichtige Rolle. Zwar werden sie in den Ländern erstellt und beschlossen, das aber nur nach Rücksprache mit dem Vorsitzenden in Wien. „Das ist auch naheliegend“, sagt Hofer. „Die Erstgereihten werden ja dem Klub angehören.“
Haider mit Quereinsteigern Zierler, Ortlieb und Thomas Prinzhorn (v.l.n.r.), der 1996 zur FPÖ stieß.
Trotz der vorhergesagten Gewinne macht die Wahlordnung die Verteilung der Mandate in gewissem Maß zu einer Lotterie. 2006 erreichte die FPÖ beispielsweise elf Prozent – und sieben Mandate über die Bundesliste. Bei den letzten Nationalratswahlen bekam die FPÖ 16,2 Prozent der Stimmen – aber nur fünf Bundeslistenmandate. Grund ist die Wahlrechtsordnung. Die Mandatsverteilung beginnt auf der untersten Ebene, also bei den Wahlkreisen. Je mehr Grundmandate eine Partei dort erreicht, desto weniger bleiben oben, also auf den Landes- und Bundeslisten, übrig.
Bei einem FPÖ-Mandatar könnte es trotz des prognostizierten Triumphs eng werden: Martin Graf, mit Unterbrechungen seit 1994 im Parlament, bräuchte wieder den ersten Listenplatz in seinem Wahlkreis oder einen aussichtsreichen auf der Landesliste. Aus FPÖ-Kreisen hört man, dass der 63-Jährige nicht mehr kandidieren werde. Eine Anfrage von profil ließ Graf unbeantwortet.
Grüne: In Wien wird es eng
Auch bei den Grünen wird es Abschiede geben. Die Abgeordneten Sibylle Hamann, Astrid Rössler, Michel Reimon und Ewa Ernst-Dziedzic haben ihren Rückzug schon angekündigt. Das kommt der Parteiführung beim prognostizierten Stimmenverlust entgegen. Klubobfrau Sigrid Maurer hört sich schon seit einem Jahr um, wer im Klub bleiben und wer lieber aufhören möchte.
Bei den Grünen bestimmt zwar nach wie vor nicht die Parteispitze über Plätze auf der (Bundes-)Liste, sondern der Bundeskongress nach einem komplexen Wahlsystem mit Vorstellungsreden, Abstimmungen und einer Frauenquote. Das birgt Potenzial für Konflikte und Kränkungen, zum Beispiel 2017. Den Platz, den Peter Pilz bekommen wollte, erhielt damals Julian Schmid. Pilz zog sich beleidigt zurück und gründete seine eigene Partei. Heute versuchen die Grünen, den Prozess gesichtswahrend zu gestalten. Auch in den Bundesländern: „Es ist nicht mehr so, dass die Listenwahl ein als Basisdemokratie zelebriertes Gemetzel ist“, sagt Klubobfrau Maurer. „Jetzt gibt es in den Bundesländern zum Beispiel Konvente mit Vorwahlbesprechungen.“ In Oberösterreich wurde die Listenerste, Agnes Sirkka Prammer, zum Beispiel schon gewählt. Ein Konvent segnete die Bewerberinnen und Bewerber für die nächsten drei realistischen Plätze ab. Die Reihung wird dann von den Delegierten bestimmt.
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Zadić ist als Listenerste in Wien vorgesehen, um die folgenden Listenplätze gibt es eine Vielzahl an Bewerberinnen und Bewerbern.
Zadić ist als Listenerste in Wien vorgesehen, um die folgenden Listenplätze gibt es eine Vielzahl an Bewerberinnen und Bewerbern.
Am heikelsten wird die Wahl in Wien. Als Listenerste ist Justizministerin Alma Zadić vorgesehen, auf den nächsten Plätzen wird es sehr eng. Auch hier rechnen die Grünen, wie 2019, mit drei weiteren realistischen Mandaten. Um die könnten sich Lukas Hammer, Markus Koza, Georg Bürstmayr, Meri Disoski, Eva Blimlinger und Faika El-Nagashi bewerben. Gerade in der Bundeshauptstadt gilt ein besonders komplexes internes Wahlsystem, bei dem nicht nur Delegierte abstimmen können. Das macht den internen Vorwahlkampf in den eigenen Communities noch härter.
Manche setzen im Vorfeld alles auf eine Karte. El-Nagashi sagt zu profil, nur für einen Platz auf der Wiener Landesliste kandidieren zu wollen, auf der Bundesliste nicht. Dort sind die Ausweichmöglichkeiten ohnehin begrenzt: Sigrid Maurer wird nur auf der Bundesliste kandidieren, auch Olga Voglauer aus Kärnten soll dort abgesichert werden.
Als Voglauer 2011 gerade die elterliche Milchwirtschaft im Kärntner Ludmannsdorf übernommen hatte, trieb Veit Dengler ganz anderes um. Gemeinsam mit Matthias Strolz war er dabei, die NEOS zu gründen. Jetzt will sich der Manager um ein Nationalratsmandat bewerben. Dabei hätte er es auch einfacher haben können – zumindest was die Formalitäten betrifft. Vor zwei Jahren fragte ihn die NEOS-Spitze, ob er bei der Bundespräsidentschaftswahl kandidieren wolle. Dengler sagte ab. Womöglich, weil seine Chancen aussichtslos waren. Aber intern, unter den NEOS-Mitgliedern, hätte er sich keinem ausgefeilten internen Wahlkampf stellen müssen.
NEOS: Auch Gründer müssen sich vorstellen
Jetzt aber schon. Dengler muss tun, was jeder und jede andere tun muss: Lebenslauf ausfüllen, Motivationsschreiben verfassen, Strafregisterauszug hochladen und im Self-Assessment-Formular Sätzen wie diesen zustimmen: „Ich bin bereit, eigenverantwortlich, ohne Zuruf, Wahlkampfaktionen vorzubereiten, Arbeitspakete selbst zu planen und diese gemeinsam im Team umzusetzen.“
Denn mit den NEOS erschufen Dengler, Strolz und andere auch das Vorwahlsystem mit einem dreistufigen Punktesystem: Nach der Anmeldung und Zulassung erhalten die Kandidaten Punkte: Zuerst von registrierten Vorwählern (auch Nichtmitglieder dürfen abstimmen), dann vom Erweiterten Vorstand und zum Schluss von der Mitgliederversammlung, einer Art Parteitag. Diese Punkte werden gewichtet und die Bundes- und Landeslisten erstellt. „Trocken und anstrengend“ könne der Prozess schon sein, sagt Generalsekretär Douglas Hoyos. Immerhin bleibt ihnen erspart, größere strategische Überlegungen in die Wahlkreise einfließen zu lassen. Sie spielen für die NEOS, regional schwach, kaum eine Rolle.
Moritz Ablinger
war bis April 2024 Redakteur im Österreich-Ressort. Schreibt gerne über Abgründe, spielt gerne Schach und schaut gerne Fußball. Davor beim ballesterer.
Iris Bonavida
ist seit September 2022 als Innenpolitik-Redakteurin bei profil. Davor war sie bei der Tageszeitung "Die Presse" tätig.