Was geschah, nachdem Wolfgang R. seine Frau misshandelte
Ein unscheinbares Einfamilienhaus mit Garage am Rand einer kleinen steirischen Gemeinde, rundum Wiese, dahinter beginnt der Wald. Es ist ein sonniger Herbsttag im November 2021.
Wolfgang öffnet die Tür. Blaue Adidas-Kapuzenjacke, die Haare kurz geschoren, Dreitagebart. Wolfgang R. wohnt hier, aber es ist nicht sein Zuhause. Mit 45 Jahren ist er wieder zu seiner Mutter gezogen, in das Haus, in dem er aufgewachsen ist. Die alte Frau grüßt im Vorbeigehen und verschwindet. Wolfgang stellt in der Küche Teewasser auf und fängt an, ein wenig über sich zu erzählen.
Er ist gelernter Elektriker, arbeitet als Monteur und ist im Job viel unterwegs, in Österreich und im Ausland. Seit zehn Jahren ist er verheiratet. Seine Frau Karin* hat er bei der Weihnachtsfeier eines Arbeitskollegen kennengelernt. Sie ist 51 und arbeitet seit 30 Jahren als Pflegerin in einem Altenheim. Das Ehepaar hat zwei Kinder, Buben, neun und elf Jahre alt.
Wolfgang hält die Teetasse, die vor ihm auf dem Tisch steht, zwischen beiden Händen. Es ist still. Wolfgang ist nicht freiwillig bei seiner Mutter eingezogen. Er darf nicht nach Hause. Ausschlaggebend dafür sei dieser „gewisse Tag“, sagt er gequält. Der 18. September 2021, ein Samstag. Wolfgang schildert, was damals passiert ist.
Die Tat
Nicht weit von Wolfgang und Karins Wohnung veranstaltet der Verein der örtlichen Bergrettung ein Fest. Wolfgang geht mit den beiden Söhnen schon am Nachmittag hin. Er trifft Bekannte, trinkt ein Bier nach dem anderen, die Buben spielen auf einem Kletterturm. Karin hat an diesem Tag Dienst. Die Stunden vergehen, es wird Abend, und als Wolfgang beschließt, endlich nach Hause zu gehen, ist er stockbetrunken. Auf dem Heimweg ärgert ihn Timmy*, der Jüngere seiner Söhne. Wolfgang weiß nicht mehr genau, was die Ursache des Streits gewesen ist, jedenfalls habe Timmy nicht mehr weitergehen wollen. Wolfgang wird wütend. Das weiß er noch, doch wie diese Auseinandersetzung weiterging, kann er nicht mehr sagen, der Alkohol hat große Lücken in der Erinnerung an diesen Abend hinterlassen. Vielleicht will er sich gar nicht mehr daran erinnern?
Als die drei zu Hause angelangt sind, setzt sich der Streit fort. Timmy läuft zu seiner Mutter und klagt, dass Wolfgang ihn in den Schwitzkasten genommen hätte. Karin will Wolfgang deshalb zur Rede stellen. Der wiederum streitet ab, Timmy gegenüber grob gewesen zu sein, und torkelt in die Richtung von Timmys Zimmer. Karin will ihn aufhalten. Schließlich steht er vor Timmys Zimmer und versucht, die Tür aufzudrücken, während Karin sie von innen zuhält. Beide wenden all ihre Kräfte auf, Wolfgang ist stärker. Die Tür fällt aus den Angeln, Karin geht zu Boden, die Tür fällt auf sie. Wolfgang geht auf sie los.
Er sagt, er könne sich nur noch daran erinnern, dass seine Frau irgendwann gerufen habe: „Der Timmy ist weg!“ Daraufhin sei er rausgelaufen, zurück zum Fest. Dort fand er Timmy und brachte ihn nach Hause.
So richtig zu sich kommt Wolfgang später auf der Polizeiwache. Erik*, der elfjährige Sohn, ist zu den Nachbarn gelaufen, die haben den Notruf gewählt. Die Beamten konfrontieren Wolfgang mit dem, was er getan hat.
Die Polizisten zeigen ihm Fotos von den Verletzungen seiner Frau, von blauen Flecken und Abschürfungen. Zwei Stunden lang dauert die Amtshandlung, inklusive eines deutlich positiven Alko-Tests. Am Ende informieren die Beamten Wolfgang, dass er noch einmal nach Hause dürfe, um seine Sachen zu holen. Sie sprechen, wie vom Gesetz vorgesehen, ein Betretungs- und Annäherungsverbot aus. Wolfgang darf die gemeinsame Wohnung nicht mehr betreten und sich seiner Frau und den Kindern nicht nähern. Er wird wegen des Verdachts der Körperverletzung angezeigt.
Die erste Nacht
Die Polizeibeamten begleiten Wolfgang zur Wohnung. Sie ist leer, seine Frau und die Kinder sind weg. Wolfgang packt drei Koffer. Ab sofort muss er von seiner Frau und der ehemals gemeinsamen Wohnung mindestens 100 Meter Abstand halten. Er hat keine Ahnung, wie lange er tatsächlich nicht mehr hierher zurückkommen wird.
Die Polizisten nehmen ihm die Wohnungsschlüssel ab. Dann lassen sie ihn gehen.
Es ist gerade einmal 22 Uhr. Wolfgang beschließt, die Nacht im Klubraum zu verbringen, den er mit ein paar Freunden gemietet hat, die regelmäßig gemeinsam angeln. Dort lagert jede Menge Fischereiausrüstung, darunter ein Feldbett.
Wolfgang legt sich hin. Er schläft nicht. Noch ist er nicht ausgenüchtert, aber er ist klar genug im Kopf, um langsam zu verstehen, was los ist.
Er ist ein Gewalttäter. Er hat seine Frau verletzt. Vor den Augen der Kinder. In der Anzeige steht der Paragraf: § 83, Körperverletzung.
Die Beratung
Wolfgang dreht seine Teetasse hin und her. Er sagt, so einen Ausraster habe er bis dahin nie gehabt, und schwört, dass er sich das alles nicht erklären könne. „Das war nicht ich, das bin nicht ich.“ Aber der Familienvater weiß, dass seine Beteuerungen seit dem 18. September 2021 hohl klingen.
Was Wolfgang getan hat, geschieht in ähnlicher Form in Österreich statistisch beinahe jede Stunde. So oft wird wegen häuslicher Gewalt ein Betretungsund Annäherungsverbot verhängt. Dieses gilt zunächst zwei Wochen und kann auf vier Wochen verlängert werden. Aber was geschieht dann? Was macht ein Paar, wenn der eine – in 90 Prozent der Fälle ist dies der Mann – den anderen misshandelt? Wie gut und wie lange wird das Opfer von den Behörden geschützt? Was passiert mit dem Täter?
Als es am Sonntag langsam hell wird, steht Wolfgang auf und geht nach draußen. Er möchte mit jemandem sprechen, aber es ist noch zu früh, also zwingt er sich zu einem Spaziergang im Wald, um sich zu beruhigen. Um acht Uhr ruft er bei einer befreundeten Familie an. Er hat ein mulmiges Gefühl, er vermutet, dass sie bereits über den Vorfall Bescheid wissen. Wolfgang entschuldigt sich bei der Frau, die eine gute Freundin von Karin ist. Sie sagt ihm, dass Karin und die Kinder bei ihnen übernachtet haben.
Am Nachmittag muss Wolfgang noch einmal zur Polizei. Er wird informiert, dass er sich innerhalb von fünf Tagen bei einem Verein namens Neustart melden müsse, um eine sechsstündige Gewaltpräventionsberatung zu machen. Diese Maßnahme wurde durch das Gewaltschutzgesetz 2019 verpflichtend eingeführt und gilt seit September 2021. Wolfgang gehört zu den ersten Gewalttätern, die sich dieser Beratung unterziehen müssen. Er kann sich darunter wenig vorstellen.
Er zieht ins Haus seiner Mutter. Er möchte unbedingt mit Karin sprechen, doch er hat das Annäherungsverbot missverstanden und wagt es deshalb nicht, sie anzurufen. Er fürchtet – grundlos –, von der Polizei abgehört zu werden. Karin wohnt mit den Kindern unterdessen wieder zu Hause.
Wolfgang fährt zum vereinbarten Termin zum Verein Neustart nach Graz. Er hat Angst, dass er zusammen mit anderen Gewalttätern in einer Gruppe von sich erzählen muss. Tatsächlich empfängt ihn eine Mitarbeiterin zu einem Einzelgespräch. Insgesamt wird er wie vorgesehen an drei Terminen insgesamt sechs Stunden mit ihr über die Tat, sich selbst und seine Situation sprechen. Die Mitarbeiterin klärt ihn darüber auf, dass sie zur Verschwiegenheit verpflichtet sei. Wolfgang ist erleichtert. Er absolviert die geforderten sechs Stunden an drei Terminen.
Über diese Erfahrung spricht Wolfgang gern. „Da hast du eine fremde Person, mit der du reden kannst und die dir zuhört“, erzählt er. Dass er diese Verpflichtung, die ihm von der Polizei aufgetragen wurde, erfüllt hat, gibt ihm das Gefühl, dass er auf dem richtigen Weg ist.
Thomas Marecek ist Sprecher des Vereins Neustart, der in fünf Bundesländern für die Gewaltpräventionsberatung zuständig ist. Seit September 2021 wurden in den Zweigstellen von Neustart 9700 Personen vorstellig, und Marecek bestätigt, dass viele von ihnen davor noch nie beraten worden waren. Die größte Gruppe sind Männer zwischen 31 und 40 Jahren, und obwohl es diese verpflichtende Beratung erst seit einem Jahr gibt, wurden einige Personen bereits mehrfach zugewiesen.
Marecek zählt die vier Elemente der Gewaltprävention auf, die in den sechs Stunden abgearbeitet werden sollen: eine Risikoeinschätzung (Besteht unmittelbare Selbst- oder Fremdgefährdung?); eine Rechtsaufklärung (Welche Pflichten folgen aus dem Betretungs- und Annäherungsverbot?); das Bewusstmachen, dass der Klient oder die Klientin gegen Normen des Zusammenlebens verstoßen hat (Wie kam es dazu?) und schließlich der Versuch, die Bereitschaft zu einer Veränderung zu fördern (Welche weiteren Therapien oder Hilfen gibt es?).
Sechs Stunden sind nicht viel, nach Meinung von Kritikern weitaus zu wenig, um etwas bewirken zu können. Ob ein Gewalttäter sich danach einer weiteren Therapie unterzieht, bleibt ihm überlassen. Wolfgang sagt, er hat Fragen gestellt bekommen, und die stellt er sich jetzt selbst. Etwa die: Wie wurde ich gewalttätig?
Die Kindheit
Die Kindheit verbrachte Wolfgang bei seiner Oma. Die Eltern waren in Wien berufstätig und kamen nur am Wochenende nach Hause. Geblieben sind ihm aus dieser Zeit fast ausschließlich gute Erinnerungen. Kühe, Schweine, Traktor fahren, Fußball spielen. Vom Vater habe er die eine oder andere Ohrfeige bekommen, sagt Wolfgang, „aber zu Recht“. Einmal, als er sieben oder acht Jahre alt war, stand er daneben, als der Vater Mörtel mischte, für das Haus, das er für die Familie baute. Wolfgang warf Lehmkügelchen nach ihm, bis der Vater ihm nachrannte. Der sei jähzornig gewesen, aber nach ein paar Minuten war die Sache wieder vergessen, und „genauso bin ich im Prinzip auch“, sagt Wolfgang.
Die Beziehung seiner Eltern sei nicht glücklich gewesen, sie hätten viel gestritten. Ob der Vater gegenüber der Mutter gewalttätig geworden sei? „Das weiß ich nicht. Häferl sind sicher geflogen.“ Mit 16 zog Wolfgang aus.
Eifersucht
Mit 21 wurde er das erste Mal Vater. Er wohnte mit seiner damaligen Freundin im ausgebauten Dachboden seines Elternhauses. Schon zu dieser Zeit war er immer unterwegs auf Montage. An einem Freitag kam er nach Hause und legte sich auf die Couch. Neben ihm piepste das Handy seiner Freundin. Eine SMS erschien auf dem Display. Die Nachricht eines fremden Mannes. Sie hatte ihn betrogen. Er trennte sich von ihr.
„Die Eifersucht steckt in mir“, sagt Wolfgang. Aber sie brauche einen Auslöser. Etwa, wenn Karin nach der Arbeit nicht nach Hause komme und auch nicht ans Telefon gehe. Es sei kein Problem, wenn Karin nach dem Feierabend etwas trinken gehe, aber sie könne ja kurz Bescheid geben, sagt Wolfgang, denn dann habe er keinen Grund, eifersüchtig zu sein. „Aber du kommst auch nie heim, und ich weiß auch nicht, wo du bist“, habe seine Frau darauf manchmal geantwortet. Gab es dann Streit? Nein, sagt Wolfgang, aber er habe gestichelt.
Die Ehe
Es ist November, und Wolfgang war nun schon seit Wochen nicht mehr zu Hause. Er sagt, er sei ein Familienmensch, „aber wie es früher einmal war, ist es schon länger nicht mehr“. Die Beziehung mit Karin klappte gut, dann kamen die Kinder, und vor allem mit Timmy, dem Jüngeren, hatten sie Schwierigkeiten. Karin musste oft den ganzen Nachmittag neben ihm sitzen, weil er seine Hausaufgaben nicht machen wollte. Das verursachte ihr Stress, mit dem sie ganz allein zurande kommen musste. Wenn Wolfgang nach Hause kam, wollte er seine Ruhe und nicht etwa Probleme und schlechte Stimmung.
Er blieb immer länger weg und traf sich nach der Arbeit mit Freunden, die alle dieselbe Leidenschaft teilten: das Angeln. Nach Feierabend tranken sie Bier und schmiedeten Pläne für den nächsten Ausflug. Einmal pro Jahr fuhren sie gemeinsam eine Woche zum Angeln, campierten an einem abgelegenen Ort und vergaßen alle Sorgen. Währenddessen saß Karin mit den Kindern allein zu Hause. Sie übernahm im Job Wochenenddienste, um unter der Woche nachmittags mit Timmy lernen zu können. Wolfgang und Karin sahen einander immer weniger.
„Wir haben uns auseinandergelebt“, sagt Wolfgang, „wir haben nicht mehr miteinander geredet.“ An der Tat vom 18. September trage allein er die Schuld, „aber nicht an der ganzen Situation“.
Der Alkohol
Wolfgang geht in der Küche seiner Mutter zum Kühlschrank, holt eine Flasche Kracherl heraus und stellt sie stolz auf den Tisch. Seit dem „gewissen Tag“ habe er keinen Tropfen Alkohol mehr getrunken. Das war davor anders. Wolfgang kam oft angetrunken nach Hause. Er weiß, dass ihn Alkohol aggressiv macht. Seine Frau sei ihm dann meist aus dem Weg gegangen. Es sei gar nicht leicht, kein Bier mehr zu trinken, erzählt Wolfgang. „Du wirst gar nicht gefragt, du bekommst es einfach hingestellt.“
Wolfgang kam oft angetrunken nach Hause. Er weiß, dass ihn Alkohol aggressiv macht. Seine Frau sei ihm dann meist aus dem Weg gegangen.
Bei der Gewaltpräventionsberatung sei es auch um Alkohol gegangen, die Beraterin habe ihm vorgeschlagen, das Thema auch bei einer Psychotherapie anzusprechen. Wolfgang kann sich nicht vorstellen, was ein Psychotherapeut macht, aber er sei extrem neugierig, denn vielleicht könne ihm der Tipps geben. Allerdings habe er gehört, dass die pro Stunde zwischen 80 und 100 Euro verlangen. Er wolle über seine Kindheit sprechen, über Eifersucht und über Alkohol. „Da will ich vorher wissen, wie oft ich da hingehen muss“, sagt Wolfgang.
Das erste Treffen
Der Kontakt beginnt zunächst zögerlich auf Whats-App. Kurze Nachrichten gehen zwischen Wolfgang und Karin hin und her. Wolfgang entschuldigt sich immer wieder. Bald wechseln die beiden auf die Videofunktion. Sie weinen oft. Wolfgang findet, dass die Beziehung bereits wieder viel besser geworden sei und drängt auf ein erstes Wiedersehen. Er versteht nicht, warum es so lange dauert.
Schließlich kommt es an einem Freitag im November zu einem Treffen. Es ist Wolfgangs 45. Geburtstag. Wolfgang wurde im Vorhinein informiert, dass Karin und die Kindern nicht allein kommen werden. Eine Mitarbeiterin der „Flexiblen Hilfe“, die Karin seit der Gewalttat im Auftrag der Bezirkshauptmannschaft betreut, begleitet sie. Um eine möglichst angenehme Atmosphäre zu schaffen, findet das Treffen draußen in der Natur statt.
Wolfgang hat Hamburger und Pommes frites von McDonald’s mitgebracht, es gibt auch Kuchen. Ihm wurde vorab gesagt, dass er nicht auf die Kinder zulaufen soll. Er hält sich daran und wartet ab. Die Kinder freuen sich, ihren Vater zu sehen. Sie haben für ihn etwas gebastelt. Aber Wolfgang spürt, dass sie innerlich ein wenig Abstand zu ihm halten. Karin schenkt ihm ein Aftershave.
Das Treffen dauert zwei Stunden. Karin und Wolfgang bekommen auch die Gelegenheit, sich kurz allein zu unterhalten. Das Gespräch verläuft verhalten.
Wolfgang wird ungeduldig
Karin und Wolfgang treffen sich nun regelmäßig am Freitag. Karin erzählt ihm, dass Timmy Alpträume hat; Einbrecher kämen durchs Fenster. Außerdem hat der Sohn seine Mutter gefragt, was gewesen wäre, wenn der Vater sie umgebracht hätte. Wolfgang erfährt, dass jedes der Kinder von einer Mitarbeiterin des Kinderschutzzentrums betreut wird. Das habe er lange nicht gewusst. Er erfährt, dass die Betreuerinnen der Meinung sind, die Kinder seien durch den Vorfall traumatisiert. „Mein Gefühl sagt mir was anderes“, meint Wolfgang, aber er möchte nicht widersprechen, denn „sonst komme ich aus all dem nicht raus“.
Es ärgert ihn, dass er nicht darüber informiert wurde, wie lange das Betretungsverbot gilt. „Ich fühle mich verarscht“, sagt er.
Bei einem der freitäglichen Treffen fragt Wolfgang seine Frau, ob er wieder nach Hause kommen könne. Sie antwortet, sie brauche noch Zeit.
„Ich frage mich: Warum soll das zu früh sein? Nur, weil die das sagen?“
Wolfgang vermutet, dass die Bezirkshauptmannschaft hinter der Verzögerung stecke. Karins Betreuerin habe gesagt, es sei noch zu früh. „Ich frage mich: Warum soll das zu früh sein? Nur, weil die das sagen?“, begehrt Wolfgang auf. Er schmiedet bereits einen Plan, Weihnachten mit der Familie zu feiern.
Medien berichten, dass in der burgenländischen Gemeinde Sieggraben ein Mann verdächtigt wird, das Wohnhaus seiner Ehefrau angezündet zu haben, weil sie sich von ihm scheiden lassen wollte. Ein Betretungsverbot sei von der Bezirkshauptmannschaft zurückgezogen worden. Die Frau hätte bei Gericht eine einstweilige Verfügung gegen ihren Mann beantragen können, erklärt der Bezirkshauptmann.
Wolfgang hat diese Nachricht gelesen. Sie gibt ihm zu denken. „Mir ist dieser Vorfall passiert. Was wäre als Nächstes geschehen?“, fragt er. Aber er kommt rasch zu dem Schluss, dass er längst keine Gefahr mehr darstelle, weil er schließlich ja zu trinken aufgehört habe. „Der Vorfall“ ist für ihn längst abgeschlossen.
Wie lange muss Wolfgang wegbleiben?
Das Betretungsverbot seiner Wohnung und das Annäherungsverbot gegenüber seiner Ehefrau und den Kindern, die Wolfgang von der Polizei auferlegt wurden, gelten lediglich zwei Wochen. Die Frau kann während dieser zwei Wochen bei Gericht eine einstweilige Verfügung beantragen. Gibt das Gericht dem statt, muss der Gefährder sechs Monate von der Wohnung fernbleiben. Karin hat das gemacht, was Wolfgang allerdings lange Zeit nicht klar ist. Im November rechnet er noch damit, am 2. Februar wieder zu Hause einzuziehen. Am 31. Dezember, dem Silvestertag, hat er einen ersten Termin bei einem Psychotherapeuten vereinbart. Es ist ihm wichtig, dass er damit möglichst rasch beginnt. Er will beim nächsten Treffen, bei dem vielleicht schon über seine Heimkehr entscheiden wird, „etwas vorzeigen“, sagt er, und: „Das Warten wird mühsam.“
Weihnachten
Karin und die Kinder verbringen den Heiligen Abend zu Hause, Wolfgang hat weiterhin keinen Zutritt. Doch zwei Tage nach dem Weihnachtsabend besuchen sie ihn im Haus seiner Mutter und feiern ein zweites Weihnachtsfest. Die Begleitperson, die sonst bei den Treffen darüber wacht, dass nichts geschieht, ist im Urlaub, und ausnahmsweise darf eine von Wolfgangs Schwestern sie vertreten. Die Schwester hat den Auftrag, mit den Kindern den Raum zu verlassen, falls es zu Aggressionen kommt.
Die Familie isst gemeinsam zu Mittag, danach folgt die Bescherung. Timmy bekommt einen Metalldetektor, Erik eine Skiausrüstung. Karin schenkt Wolfgang einen Brustgurt mit Pulsmesser, er schenkt ihr eine Laufuhr.
Während der Feiertage treffen Karin und Wolfgang einander drei Mal. Sie machen einen Spaziergang, gehen ins Kaffeehaus. Wolfgang sagt, er verspüre keine Eifersucht, obwohl er weit weg sei. Seine Frau vermittle ihm Nähe.
Der Termin beim Psychotherapeuten bleibt der einzige. Weil Wolfgang glaubhaft erklärt, nichts mehr zu trinken, entfällt der Grund für eine Suchtberatung. Zu Silvester ist Wolfgang allein. Karin und die Kinder sind bei Freunden eingeladen, essen Raclette und zünden ein Feuerwerk. Wolfgang geht in den Wald und macht Brennholz.
Wolfgang kommt nach Hause
Am 29. März dieses Jahres bekommt Wolfgang die Verständigung der Staatsanwaltschaft, dass das Verfahren wegen des Verdachts der Körperverletzung gegen ihn mit einem außergerichtlichen Tatausgleich beendet wird. Karin hat zugestimmt. Die einstweilige Verfügung endet zur selben Zeit. Wolfgang kehrt nach Hause zurück.
Und jetzt?
Ist nun alles wieder gut? Haben die Behörden gute Arbeit geleistet? Sind die Gesetze, die erlassen wurden, um der grassierenden häuslichen Gewalt und ihrer schlimmsten Ausformung – den Femiziden – beizukommen, ausreichend?
Das lässt sich an einem Einzelfall nicht ablesen. Wolfgang, ein zufällig ausgewählter Gewalttäter, der bereit war, über seine Tat und alles, was danach folgte, zu sprechen, ist ebenso wenig repräsentativ wie irgendein anderer es wäre.
Eine Evaluierung des Gewaltschutzgesetzes im Auftrag des Innenministeriums kommt zu dem Ergebnis, dass die Gewaltpräventionsberatung von beinahe allen Befragten der beteiligten Institutionen als „sehr geeignetes“ oder „geeignetes“ Instrument angesehen wird. Als wesentlichen Verbesserungsvorschlag nannten sie eine flexible Ausweitung der Stundenanzahl.
Steht aber bei all dem nicht zu sehr der Täter im Mittelpunkt? Wird alles getan, um ihm zu helfen, ganz so, als wäre er der Geschädigte? Wo ist die Frau in dieser Geschichte?
Karin
Ein Teich in der Oststeiermark. Es ist ein heißer Tag im August. Doch hierher kommt man nicht, um zu baden. Rund um das Wasser sind kleine Plätze angelegt, die Anglern als Stützpunkte dienen. An einer dieser schattigen Buchten stehen ein Kleintransporter, zwei Zelte – eines zum Schlafen, eines zur Aufbewahrung der Angelausrüstung – und Campingstühle. Vorn am Wasser ragen an drei Rutenauflagen drei Angeln übers Wasser. Hier machen Wolfgang, Karin, Timmy und Erik Urlaub. Timmy hatte sich das bei einem der Gespräche im Kinderschutzzentrum gewünscht. Er und sein Bruder sind ein wenig missmutig, weil erst ein Fisch angebissen hat, aber sie beschließen, zum nächsten Angelplatz zu spazieren, um zu sehen, was dort so läuft.
Karin sitzt auf einem der Campingstühle. Sie ist eine resolute, ruhige Frau. Fünf Jahre älter als Wolfgang, macht sie einen ausgeglicheneren Eindruck.
Sie erzählt, wie sie das vergangene Jahr erlebt hat. Den Abend der Tat. Der Tag hatte bereits schwierig begonnen. Im Pensionistenheim, in dem sie arbeitet, gab es einen Notfall. Als sie endlich zu Hause war, rief sie Wolfgang an. Der lallte ins Telefon. Später, als er gewalttätig wurde, hatte sie das Gefühl, „als hätte man bei ihm einen Schalter umgelegt“. So etwas hatte sie nicht kommen sehen, auch wenn er früher schon öfter getrunken hatte. Timmy hat schließlich die Situation gerettet, sagt Karin. Er habe geschrien: „Ich springe jetzt vom vierten Stock!“ Da habe Wolfgang von Karin abgelassen und sei Timmy hinterhergelaufen.
Die Behörden informierten Karin, dass Wolfgang nach Ablaufg des zweiwöchigen Betretungsverbots wieder in die gemeinsame Wohnung dürfe, wenn sie nicht eine einstweilige Verfügung beantrage. Das tat sie: „Für mich war klar, dass sich in 14 Tagen nichts ändern würde.“
Karin sagt, sie habe sich schon vor der Tat über die Beziehung Gedanken gemacht. So wie es lief, wollte sie nicht weitermachen. Sie hatte bei der Betreuung der Kinder kaum Unterstützung von Wolfgang, im Haushalt auch nicht, dazu der Alkohol, die schlechte Stimmung.
Nach dem 18. September rieten ihr alle in der Familie, sich scheiden zu lassen. Karin entschied sich anders: „Ich hab auf mein Herz gehört.“ Deshalb wollte sie sich ein halbes Jahr Zeit nehmen, um herauszufinden, ob die Beziehung noch Sinn ergebe.
Sie ist dankbar für die Hilfe, die sie von den Behörden bekommen hat. Der Verein Neustart, bei dem Wolfgang die Gewaltpräventionsberatung absolvierte, informierte Karin über die rechtlichen Aspekte; die „Flexible Hilfe“ organisierte das Besuchsprogramm mit Wolfgang; das Kinderschutzzentrum betreute anfangs beide Buben und Timmy bis heute. Das hilft Karin, mit den Erziehungsproblemen klarzukommen. Und sie ist froh, dass Wolfgang das vom Gesetz auferlegte Programm absolvieren musste.
Sich auf Wolfgang wieder einzulassen, habe sehr, sehr lange gedauert, sagt Karin. Am Anfang seien keine Gefühle mehr da gewesen. Sie wollte wissen, ob er sich ändern würde. Ob alles nur Gerede sei oder ob er um seine Familie kämpfen wolle. Karin sagt sehr ruhig und sehr überzeugt: „Und er hat gekämpft.“
Der 18. September 2022
Es ist genau ein Jahr her, dass Wolfgang seine Frau misshandelt hat. Karin ist in der Arbeit, Wolfgang erwähnt den Vorfall nicht. Doch die Kinder erinnern ihn daran. Wolfgang entschuldigt sich noch einmal bei ihnen. „Damit ist es jetzt vorbei“, sagt er.