Was kann die neue Regierung?
Guten Morgen!
"Fünf Jahre, sechs Regierungen" notierte mein Kollege Michael Nikbkakhsh in der Morgenpost von gestern Dienstag. Ich ergänze aus persönlicher Perspektive: zwölf Bundeskanzler in 24 Jahren als Herausgeber von profil (zwei Mal Sebastian Kurz in dieser Liste) und laut rezenter Zählung ebenso viele Vizekanzler. Und der „Kurier“ titelte gestern „Regierungsumbildung Nr. 14“, was sich – so habe ich es verstanden – auf Rücktritte und Wechselspiele von Ministern und Staatssekretäre bezieht, seit ÖVP und Grüne eine Koalition bilden.
Das sind nachgerade absurde Werte. Perfide Mathematiker würden spöttisch zugehörige Funktionen mit komplexen Zahlen vermuten (eine Quadratwurzel aus einer negativen Zahl?). Nicht nur Verfassungsrechtler dürfen darauf hinweisen, dass die Legislaturperiode in Österreich fünf Jahre dauert, und wir können uns angesichts der Realität darüber alterieren, dass diese Legislaturperiode 2007 von ursprünglich vier Jahren um eines verlängert wurde. Und schließlich: Der österreichische Botschafter in Rom würde zur Abmahnung ins dortige Außenamt einberufen, bezeichnete man die hiesigen Zustände als "italienische Verhältnisse".
Jedenfalls: Jedes Unternehmen schlitterte bei einer vergleichbaren Fluktuation des Spitzenmanagements seriell in die Insolvenz. Nur der Resilienz von Staaten samt der zugrundeliegenden Verfassung ist es zu verdanken, dass Österreich dieses Schicksal nicht erleidet. Oder aber böser gedacht: Die Republik geht deshalb nicht in Konkurs, weil die Zahlungsfähigkeit durch politisch oktroyierte Steuereinnahmen und scheinbar unbegrenzte Kreditwürdigkeit garantiert ist.
Die Halbwertszeit der Neuen
Wie aber würden wir die Entwicklungen des gestrigen Tages samt den Angelobungen heute ohne Kenntnis dieser Vergangenheit beurteilen, müssten wir also nicht mit der Erwartungshaltung in die Zukunft gehen, dass die Halbwertszeit der neuen Regierungsmitglieder und Staatssekretäre sehr begrenzt ist? Beginnen wir mit den Personen! (Und geben wir nicht der Versuchung nach, uns einen Auswahlprozess durch Executive Search und eine Personalabteilung vorzustellen! Da fielen die Neuen nämlich allesamt durch. Doch die Auswahl von Politikern und deren Anforderungsprofile gehorchen anderen Regeln als denen des Konzernmanagements – nicht nur in Österreich.)
Der neue Wirtschafts- und damit Superminister Martin Kocher wird allseits gelobt. Ich bin mir bis heute über seine Fähigkeiten nicht im Klaren, zumal er wegen des permanenten Ausnahmezustandes nur an seinem Auftreten (untadelig selbstbewusst), seine Expertise (praxisnaher Wissenschafter) und seinen Leumund (parteiunabhängig!) gemessen wurde – und die Prüfung folgerichtig mit Auszeichnung absolvierte. (Ein frühes Porträt können Sie hier nachlesen.)
Norbert Totschnig: Er beherrscht durch Lehrjahre bei Schierhuber/Spindelegger/Mitterlehner wohl das Handwerk und ist nach fünf Jahren als Bauernbunddirektor mit der Materie und den handelnden Personen vertraut.
Staatsekretärin Susanne Kraus-Winkler: Sie kennt den Tourismus wie ihre Westentasche, als Branchenlobbystin auch die Machtvektoren und die (provinziellen) Verhältnisse. Bei ihr darf man sich allenfalls fragen, warum sie sich das antut.
Florian Tursky, Staatssekretär für Digitales: Angesichts des Titels (Was heißt "für Digitales"? Ist das nicht klassische Querschnittsmaterie?) darf man skeptisch sein. Da fügt sich gut, dass er klassischer Parteisoldat ist und wohl aus parteistrategischen und geographischen (Tirol) Gründen in dieses Amt gehoben wurde. Der "Kurier" nennt das subtil "in der Wolle gefärbter Schwarz-Türkiser".
Wo ist die ÖVP ideologisch verortet?
Zusammenfassung: Die Auswahl entspricht den österreichischen Benchmarks und Gepflogenheiten. Das mag jeder nach eigenem Gusto interpretieren. Meine Bewertung: Die Superpersonalie ist nicht dabei. Es fehlt das, was der Volkspartei insgesamt fehlt: eine erkennbare inhaltliche Positionierung, die über den jeweiligen Lobbyismus-Auftrag hinausgeht (Bauern fördern, Tourismus fördern, Tiroler Digitales fördern).
Hier schließt sich der Kreis zu Sebastian Kurz, dessen Ära mit dem Abgang von Elisabeth Köstinger und Margarete Schramböck nun angeblich wirklich endet. Auch ihm fehlte abseits von "Sozi-Hass" und "Kleinfamilie" die ideologische Verortung. Schlusspunkt für Karl Nehammer: Durch die Neuordnung der Kompetenzen hat er mit der Kurz'schen Machtverteilung qua persönlicher Lehen an Vertrauensleute aufgeräumt. Immerhin!
Einen schönen Tag wünscht Ihnen
Christian Rainer
Herausgeber und Chefredakteur