Was müssen Medien berichten? Was zeigen? Und vor allem: Wie?
Beileibe nicht jeder US-Präsident bringt es zu einem ehrenvollen Eintrag in die Geschichtsbücher. Franklin D. Roosevelt, kurz FDR genannt, schon: Er gilt als einer der bedeutendsten Anführer der freien Welt. Weil er mit seinem berühmt gewordenen Programm „New Deal“ Massenelend, Rekordarbeitslosigkeit und Weltwirtschaftskrise bekämpfte. Weil er erst zögerte, nach dem Angriff auf Pearl Harbour aber doch in den Zweiten Weltkrieg eingriff. Eine prägender Präsident, der lang regierte, von 1933 bis 1945 – und dennoch wussten viele Entscheidendes über Roosevelt nicht: Er hatte Polio, war teils gelähmt, konnte nur wenige Schritte humpeln und saß im Rollstuhl.
Das Bemerkenswerte daran: Das blieb zu Roosevelts Lebzeiten weitgehend unbekannt. Bei öffentlichen Auftritten ging der Vorhang erst auf, wenn Roosevelt schon am Tisch saß. Es gibt kaum ein Foto, das seinen Rollstuhl, seine Beinschienen oder seine Helfer zeigt, die ihn aus dem Auto heben. Keine Zeitung, kein Radio- oder Fernsehsender schrieb oder berichtete darüber – erst nach Roosevelts Tod wurde bekannt, wie stark beeinträchtigt er gewesen war.
Klingt wie eine Nachricht von vorvorvorgestern, ist es auch. Heute wäre völlig unvorstellbar, dass ein wesentliches Detail über einen Spitzenpolitiker zu dessen Lebzeiten unberichtet bleibt. Die Medienlogik hat sich komplett gewandelt, derart noble Zurückhaltung – oder: devote Selbstzensur? – ist längst passé. Die Frage „Rollstuhl zeigen oder nicht?“ würde sich heute keine Zeitung und kein Fernsehsender stellen (und schon gar nicht mit Nein beantworten). So viel Schönfärberei geht nicht, so viel Instrumentalisierung auch nicht. So weit, so einfach.
Ist Verschweigen die hehrere Lösung?
Die Fragen, vor denen Medien heute stehen, sind viel kniffeliger und weniger eindeutig beantwortbar: Welche moralische Grenzen gibt es für die Berichtspflicht? Soll das alte „Spiegel“-Motto „Sagen, was ist“ für alle gelten – auch für (Rechts)-Extremisten? Wem können oder müssen Medien Bühnen für Auftritte bieten? Ab wann machen sich Medien zu Komplizen oder Verstärkern von Wirrköpfen, Radikalen oder Terroristen? Ist Verschweigen die hehrere Lösung? Oder werden dadurch bloß Verschwörungstheorien befeuert? Darf man ein Interview mit Osama bin Laden führen? Mit Identitären-Chef Martin Sellner?
Sollen Medien über das monströse Manifest des Attentäters von Christchurch berichten? Wenn ja, wie ausführlich? Sollen sie es Manifest nennen – oder Pamphlet? Kurz: Inwieweit und wann sind Journalisten nützliche Idioten, die instrumentalisiert werden?
Debatten über diese heiklen Fragen gibt es in jeder Redaktion dieses Landes – und sie sind seit den Anfangsjahren von Jörg Haider nicht einfacher geworden, im Gegenteil. Schon damals klebte an kritischen Medien, auch an profil, der ewige Vorwurf, sie seien die wahren Haider-Macher. Seit damals kam das Internet als Massenverwirrungswaffe dazu, weidlich ausgenutzt von Dauertwitteranten wie Donald Trump oder Gruppen wie den Identitären, die ihre Botschaften via YouTube und Co. verbreiten. Damit stellt sich die alte Frage neu, wie und was Medien verantwortungsvoll berichten – und was nicht. „Das wird immer ein Zwiespalt sein, den man nicht prinzipiell klären kann“, seufzt Walter Ötsch, der seit Jahrzehnten über das Thema Demagogie forscht. Der Versuch einer Annäherung in drei Etappen.
1. Identitäre: Nichtberichterstattung ist auch keine Lösung
An einem Juninachmittag im Jahr 2016 stürmten Identitäre eine Vorlesung an der Universität Klagenfurt. Rektor Oliver Vitouch erinnert sich bis heute daran, dass er damals mit der Presse-Abteilung der Uni den festen Vorsatz fasste, „damit nicht an die Medien zu gehen, um den Identitären keine Publizität zu geben“. Der Plan hielt nur wenige Stunden. Spätabends meldete sich die Austria Presse Agentur bei Vitouch, ob von der Polizei oder sonst wem informiert, weiß er bis heute nicht. Seither ist Vitouch klar: „Geheimhalten ist unmöglich.“ Das gilt auch für klassische Medien: „Sie können gar nicht anders als berichten.“ Auch wenn damit das erste Ziel der Identitären erreicht ist, wie Vitouch analysiert: „Gerade sehr kleine Grüppchen wie die Identitären versuchen in der Aufmerksamkeitsökonomie mit geringen Mitteln die maximale Wirkung zu erzielen.“
Das Dilemma ist offensichtlich: Jede Schlagzeile, jede Sendeminute, jede Zeile Bericht ist ein kleiner Propagandaerfolg für die Identitären – die von der deutschen Wochenzeitung „Die Zeit“ einmal zugespitzt eine „medial vollkommen überwertete Gurkentruppe“ genannt wurden. „Den Identitären konnte nichts Besseres passieren als die Aufregung über die Spende des Christchurch-Attentäters“, sagt Wissenschafter Ötsch. Jetzt kennt sie jeder. Mission Marketing completed.
Darf man so jemanden abbilden?
Aber: Über die neuen Rechtsextremisten nicht zu berichten ist auch keine Lösung – außer man verwechselt Medien mit Aktivismus, was ein recht grundsätzliches Missverständnis wäre. Journalisten, die sich nur dem Guten, Wahren und Schönen widmen, haben ihren Job verfehlt. Wenn Medien nicht über Identitäre und Co berichten, wenn sie das Phänomen des neuen Hipster-Rechtsextremismus nicht analysieren und kritisch beleuchten, dann kommen die einzigen Informationen über die Identitären von ihnen selbst – auf YouTube, auf Twitter und Co. So gestrig die Ideologie der Rechten ist, ihre Nutzung neuer Medien ist State of the Art. Oder, wie es die Politologin Natascha Strobl, Autorin des Buches „Die Identitären“, ausdrückt: „Wer sich die volle Ladung Rechtsextremismus reinhauen will, kann das in vier Sekunden im Internet finden.“ Propaganda pur, ohne Einordnung, auch keine Alternative.
In Österreich kommt ein schwerwiegendes Zusatzargument für Berichterstattung dazu: Die engen Verflechtungen – inhaltlich und personell – der Identitären mit der Regierungspartei FPÖ. Spätestens damit ist der Verein endgültig über den Status „Gurkentruppe“ hinaus – und damit Pflichtthema, für den Bundespräsidenten, den Bundeskanzler, der nicht mehr bass erstaunt sein kann, wes Geistes Kind sein Koalitionspartner ist, für Medien. Aus guten Gründen widmete profil den Rechtsextremisten und ihren ziemlich besten Freunden in der FPÖ in der Vorwoche eine Titelstory, mit Identitären-Chef Martin Sellner am Cover, was hitzig diskutiert wurde, unter dem Motto: Darf man so jemanden abbilden und damit legitimitieren und normalisieren?
„Gladiatorenkampf und kein Diskurs“
Gegenargument: Personen sind nicht am Titelbild, weil sie bewundernswert oder sympathisch sind, in der profil-Covergalerie finden sich Terroristen, Straftäter und ausgeprägte Ungustln, von Udo Proksch über Briefbomber Franz Fuchs bis Osama bin Laden. Und ein „Bilderverbot“ – siehe Punkt zwei – hat sich auch nur als untaugliche Scheinlösung erwiesen. Nicht jedes alte Sprichwort ist falsch, der Kalauer „ein Bild sagt mehr als tausend Worte“ stimmt. „Ästhetik und Bildebene sind essentiell“, analysiert Expertin Strobl. Aktionen der Identitären sind Inszenierungen, sorgfältig ausgesucht auf ihre Bildwirkung. Sie appelliert, keinesfalls Bilder der Identitären zu übernehmen – und ihnen auch keine Fernseh-Showbühne zu bieten. Wenn Sender wie ServusTV Rechtsaktivisten wie Götz Kubitschek zu Debatten einladen, sei das ein „Gladiatorenkampf und kein Diskurs“. Sie nimmt an solchen Diskussionen nicht teil, um sie nicht zu legitimieren. Martin Sellner war schon früh, im Oktober 2016, Gast bei ServusTV – und bejubelte das als „medialen Durchbruch“.
Keine Frage: Medien machen Fehler. Der Umgang mit Personen und Positionen am Rand (oder außerhalb) des Verfassungsbogens ist stets ein Lernprozess. Österreich hat damit seit Jörg Haider Erfahrung.
2. Der erste Popstar der Rechten: Waren Medien Haider-Macher?
Eine bresthafte Große Koalition, ein erstickend-gemütliches sozialpartnerschaftliches Konsensparadies: Das war der Nährboden, auf dem das Phänomen Jörg Haider gedeihen konnte. Österreich war ein Geburtsland des Rechtspopulismus, Haider dessen erster massentauglicher und dämonischer Popstar. Die Medien reagierten mit einer Mischung aus Abscheu und Faszination: „Er stellt sich wie schönes Freiwild an die Wand“ lautete der schmachtende Bildtext in der „Wienerin“ zu Haider-Fotos mit nacktem Oberkörper im November 1986. In der „Kronen-Zeitung“ wurden Haiders Lieblingsthemen -BonzenPrivilegienBösesBrüsselAusländer – lautstark rapportiert. Andere Medien kritisierten Haider und dessen Tabubrüche scharf und ausführlich.
War das kontraproduktiv? Forscher Walter Ötsch, Autor des Standardwerks „Haider light“, sagt im Nachhinein: „Der schlimmste Effekt ist ein Perpetuum mobile. Eine bewusst kalkulierte Provokation, ein Sager, der empörte Aufschrei der anderen, das Dementi vom Dementi – und die Medien stürzen sich darauf.“
Die Faszination des Bösen war unstrittig
Hubertus Czernin, profil-Herausgeber in den 1990er-Jahren, vertrat in einem Buch über Franz Vranitzky die These, dass Haiders Kritiker ihn erst groß gemacht hätten. Die Faszination des Bösen war unstrittig, auch bei Konsumenten, Haider garantierte Verkaufserfolge. profil, selbst immer wieder mit der Behauptung konfrontiert, Haider durch Berichterstattung unfreiwillig zu fördern, ließ im März 2002 gar eine Studie über die Wechselwirkung von Medienpräsenz und Popularität anfertigen. Das damalige Ergebnis: Nach einer Welle kritischer Berichterstattung verliert die FPÖ in Umfragen.
Abgesehen von taktischen Finessen: Hätte es eine Alternative gegeben? Immerhin war Haider Landeshauptmann, Chef einer Parlaments- und später Regierungspartei. „Standard“-Kolumnist Haus Rauscher beantwortete die Frage im Jahr 2002 so: „Haider leistet sich Dinge, die sich seit 50 Jahren niemand geleistet hat. Und dazu sollen wir schweigen?“ Armin Thurnher, Chefredakteur des „Falter“, diagnostizierte bei Haider und dessen Buberlpartie „Feschismus“ und verhängte im Jahr 1992 mit Gedöns ein „Bilderverbot“ über Haider. Ein Boykott-Versuch, um die Propaganda-Spirale zu durchbrechen – und nicht zuletzt zur Eigenpropaganda. 1996 wurde das Bilderverbot „sistiert“. Zwei Jahrzehnte später, im März 2016, konstatierte Thurnher in der deutschen Wochenzeitung „Die Zeit“ ernüchtert die Lehren aus dem Fall Haider: „Niemals in guter Absicht dämonisieren, etwa um zu warnen oder abzuschrecken. Das funktioniert genauso wenig wie die Idee, mit der Unterdrückung von Bildern oder Sachverhalten könne man etwas erreichen.“
Derzeit quält sich Deutschland mit der Frage, wie Medien mit der AfD umgehen sollen. Klar ist nur eines: Für demokratisch gewählte Politiker und Parteien gelten andere Spielregeln als für Splittergruppen und Extremisten. Für Haider andere als für Sellner. Oder gar für Terroristen.
3. Terror im Bild: Wann beginnt Attentatspornografie?
50 Tote live: Der Attentäter von Christchurch montierte eine Kamera auf seinen Helm und filmte seine Schießerei, die deutsche „Bild-Zeitung“ zeigte online Ausschnitte aus dem Morden. Es hagelte Beschwerden beim Deutschen Presserat, dessen Entscheidung wird ein Maßstab für Berichterstattung sein. Bernhard Pörksen, der derzeitige Superstar unter den Medienwissenschaftern, hat sein Urteil schon gefällt: „Attentatspornografie“.
Nicht immer ist die Entscheidung derart leicht, Terrorismus lebt auch von Bildern, Sondersendungen und Schlagzeilen. Die Aufnahmen der Flugzeuge, die sich in die Türme des World Trade Center bohren, haben sich ins kollektive Gedächtnis einer Generation eingegraben. Der amerikanische Terrorist Timothy McVeigh, der 1995 ein Gebäude in Oklahoma sprengte und 168 Menschen tötete, sagte selbst, er habe das Haus auch „wegen des guten Kamerawinkels“ ausgewählt.
Wo verläuft die Grenze zwischen Pietät und Aufklärung?
Welche Horrorszenen dürfen Medien zeigen? Wo verläuft die Grenze zwischen Pietät und Aufklärung? Wo jene zwischen Weichzeichnen und Voyeurismus? Hat die Öffentlichkeit ein Anrecht darauf, Nahaufnahmen von Attentaten zu sehen? Dürfen Medien Propagandabilder des IS zeigen?
Ein ewiges Dilemma.
Der Schriftsteller Franz Schuh hat es einmal so beantwortet: „Wer – wie der Terrorismus – mit Angst und Schrecken kalkuliert, kalkuliert mit der Berichterstattung. Deshalb die Berichte abzustellen, würde das Wissen über die Vorgänge zerstören. Die Kunst ist es, in diesem Widerspruch kein Erfüllungsgehilfe zu sein, indem man weder Informationen unterschlägt noch dadurch zum Dodel wird, dass man für den Gegenstand der Berichte Reklame macht.“