Krieg im Park
Von Natalia Anders und Clara Peterlik
Schriftgröße
Vier junge Männer stehen vor einer türkischen Bäckerei am Vorplatz der Wiener U-Bahn-Station „Bahnhof Meidling“, direkt bei den Bussen. Ihr Gesprächsthema: die Schlägerei vom Vorabend. „Ich hole Kuchen für meinen Cousin, er liegt im Krankenhaus – wegen gestern“, sagt einer der vier. Und: „Die Terroristen, die Tschetschenen, sind gekommen, mit Masken und haben einfach am Platz attackiert“, erzählt er: „Aus dem Nichts. Sie haben alle angegriffen, auch Kinder. Österreich weiß gar nicht, was sich da alles abspielt.“
Gesichert ist: Am Sonntag der vergangenen Woche trafen hier vor der U-Bahn-Station Tschetschenen, Syrer und Afghanen aufeinander. Die Männer gingen mit Messern, Stöcken und Stangen aufeinander los. Vier Afghanen mussten mit Stich- und Schlagverletzungen ins Krankenhaus gebracht werden. Wohl weil die tschetschenischen Angreifer sie mit Syrern verwechselt hatten, vermutet die Polizei.
Seit Monaten spitzt sich die Situation zwischen jungen Syrern und Tschetschenen in Wien immer weiter zu. Anfang Juli eskalierte die Gewalt: Binnen 48 Stunden kam es in den Bezirken Meidling und Brigittenau zu drei bewaffneten Auseinandersetzungen zwischen den verfeindeten Gruppen mit zahlreichen Verletzten. „Das ist eine neue Dimension“, klagt die Bezirksvorsteherin der Brigittenau, die SPÖ-Politikerin Christine Dubravac-Widholm.
Was ist da los?
Hiebe, Stiche und Schüsse
Die Welle der Gewalt beginnt am Freitag, 5. Juli, um exakt 21.40 Uhr im Anton-Kummerer-Park in Wien-Brigittenau. Mit Holzlatten, Pfeffersprays, Messern und Schusswaffen gehen syrische und tschetschenische Jugendliche aufeinander los. Es wird geprügelt, gestochen und geschossen. Zwei junge Syrer erleiden Schussverletzungen, ein Tschetschene eine Schnittwunde. Über einen 29-jährigen Projektmanager, der mehrere Tschetschenen zum Tatort gebracht haben soll, wird tags darauf wegen des Verdachts der Beteiligung an versuchtem Mord die U-Haft verhängt.
Spuren der Schlacht
Die Schlägereien am vergangenen Wochenende sorgten für mehrere Spitalsaufenthalte.
Seine Mitstreiter lassen sich davon nicht abschrecken. Noch in der Nacht auf Sonntag sind sie wieder in der Brigittenau unterwegs, auch die Polizei rückt erneut aus, um die mit Messern und Pfefferspray bewaffneten Jugendlichen aufzuhalten. Am Sonntag kommen die Einsatzkräfte zu spät, vor dem Bahnhof Wien-Meidling eskaliert die Gewalt erneut.
Laut Polizei hängen alle drei Vorfälle zusammen: Syrische und tschetschenische Gruppen kämpfen schon länger um die Vorherrschaft auf bestimmten Wiener Plätzen und Parks. Im vergangenen Jahr wurden dabei immer wieder Messer gezückt. Anfang Juni wird ein 30-jähriger Tschetschene im Arthaberpark in Wien-Favoriten in Hals, Bauch und Beine geschnitten und gestochen, schwebt danach tagelang in Lebensgefahr.
Der Täter flüchtet, doch für viele Tschetschenen ist damals klar: Die mysteriöse syrische Gruppe „505“ ist verantwortlich. Denn eigentlich hatten sich die beiden Gruppen zu einem Friedensgespräch im Park getroffen. Doch der Plan scheiterte.
Was steckt hinter dem Konflikt zwischen Tschetschenen und Syrern?
Die Social-Media-Accounts der syrischen Jugendlichen enden mit der Zahl 505, ihr Symbol ist der Löwe, sie benutzen den Namen ihres Clans „Al-aqidat“ als Hashtag. Die Jugendlichen preisen sich für ihren Mut, ihre Kraft und ihren Zusammenhalt. Andere User posten unterstützende Videos, in denen meist die syrische Fahne weht.
Am Reumannplatz in Wien-Favoriten ist allen die Chiffre „505“ ein Begriff. Doch, so hört man: „505, die sind nicht von hier, die sind in Meidling. Das sind Kinder. Sie sprayen das einfach überall hin.“
505 im Favoritner Sonnwendviertel
Die Chiffre "505" wird von Jugendlichen mittlerweile in ganz Wien, wie hier im Sonnwendviertel, hingesprayt.
Die 505-„Bahnhofskinder“
Die jungen Syrer seien „Bahnhofskinder“, sagt Ahmad, der seinen Namen nicht in Medien lesen will. Der knapp 40-jährige Familienvater mit schwarzen Locken und akkurat getrimmtem Bart gehört selbst dem „Al-Aqidat“-Clan an und kommt aus derselben Gegend im Nordosten Syriens. Seit zweieinhalb Jahren wohnt er in Österreich, sein Sohn spielt in einem bekannten Wiener Fußballverein, die Familie konnte er vor einigen Monaten nach Österreich nachholen.
Den Begriff „Bahnhofskinder“ verwenden Syrer in Österreich und Deutschland, um sich von den Neuzuwanderern, den „schlechten“ Syrern, abzugrenzen. „Viele haben lange ohne Eltern in der Türkei gelebt, sich durchgeschlagen, haben jetzt keine Familie und keinen Halt und machen eben nur Probleme“, erklärt Ahmad.
Der Hintergrund des Erkennungszeichens 505 ist kompliziert. Historisch gesehen spielten Clans vor allem in den entlegenen Gebieten Syriens eine wichtige Rolle. Machthaber schmiedeten Allianzen, um auch dort ihren Einflussbereich zu sichern, und gaben den Clans Nummern – etwa 505 und 515. Manche der Ethnien schlugen sich im syrischen Bürgerkrieg, der seit 2011 tobt, auf die Seite des Diktators Bashar Al-Assad, andere nicht, und manche wechselten auch wieder die Seiten. Der Anführer der Al-Aqidat lebt genauso wie Ahmad im Exil, allerdings in Qatar.
Die Chiffren tauchen nicht nur in Wien, sondern auch in Deutschland, Schweden und der Türkei auf. 505 oder 515 wird auf Wände und Autos gesprüht. In türkischen Medien wird die offenbar lose Gruppierung beschuldigt, an Drogen- und Menschenhandel beteiligt zu sein. Auch deshalb verschärft sich vor allem in der Türkei die antisyrische Stimmung. Im Präsidentschaftswahlkampf im Vorjahr wetterten Präsident Recep Erdoğan und sein Herausforderer Kemal Kılıçdaroğlu gegen die Syrer.
Viele der Jugendlichen, die jetzt in Wien Probleme machen, lebten jahrelang in der Türkei und machten sich dann auf den Weg nach Norden. „Die Syrer, die seit 2019 nach Österreich kommen, haben den Großteil ihres Lebens in Flüchtlingslagern verbracht und oft gar keine Schulbildung. Viele von ihnen sind Analphabeten“, sagt Tarafa Baghajati. Der 62-jährige gebürtige Syrer ist Obmann der Initiative muslimischer ÖsterreicherInnen (kurz: IMÖ). Im Gegensatz zu den Geflüchteten, die während der Flüchtlingswelle 2015 nach Europa gekommen sind, meist aus der Mittelklasse stammen und bereits eine Schulbildung abgeschlossen haben, sei es diesmal besonders schwer, diese Flüchtlinge zu integrieren.
Die Syrer, die seit 2019 nach Österreich kommen, haben den Großteil ihres Lebens in Flüchtlingslagern verbracht und oft gar keine Schulbildung. Viele von ihnen sind Analphabeten.
Dazu treffen sie auch hier auf die Vorurteile, die in türkischen Medien verbreitet werden. In österreichischen Telegramgruppen schreiben junge Männer mit tschetschenischen und türkischen Wurzeln: „Wir alle wissen, Wien hat zurzeit schwierige Zeit mit diesen Flüchtlingen. aber bleibt stark wir schaffen das mit denen. (sic)“ Sie tauschen Bilder aus, von jungen Syrern, die für Angriffe verantwortlich sein sollen, beschimpfen sie und schwören Rache. Fotos von Verletzten werden bejubelt. Die Jugendlichen sehen sich als Verteidiger Wiens gegen neue Flüchtlinge und schreiben in seltsamem Deutsch auf Telegram: „Wir halten zusammen denn wir sind die meisten in Wien aufgewachsen unsere Kindheit ist hier Österreich-Wien ist unsere Heimat!! Wir lassen es nicht zu das irgendwelche Inzucht Geburten unsere Heimat zerstört.“ (sic)
Als ein Kurde in eine Gruppe schreibt, wird kurz politisch diskutiert, dann wird er beschimpft. Wenig später wird ein Artikel des „Heimatkurier“ gepostet und der Bericht gelobt. Schnell warnt einer: „Das ist eine FPÖ-nahe Zeitung, also bitte mit Vorsicht genießen!“
Überhaupt wirken Teile der Chat-Gruppen professionell organisiert. Administratoren geben detaillierte Anweisungen und machen darauf aufmerksam, dass Polizei, Verfassungsschutz und Medien mitlesen: „Hier sind mindestens 10 Polizisten drinnen, die das alles lesen vertraute.“ (sic)
Sie haben recht: Als am Donnerstag ein Syrer wegen versuchten Mordes in Wien vor Gericht stand, wurde in tschetschenischen Chatgruppen aufgerufen, zum Prozess zu kommen. Das Wiener Landesgericht verlegte die Verhandlung daraufhin in den Großen Schwurgerichtssaal und verbot Film- und Tonaufnahmen. Acht Polizisten behielten das Publikum im Auge. Viel Aufwand. Doch Störenfriede blieben fern.
Sandkasten, Fußballkäfig, Einschusslöcher
Zurück in die Brigittenau. Der Anton-Kummerer-Park ist ein Grätzlpark wie jeder andere. Man gelangt von dort direkt ins Brigittenauer Hallenbad, es gibt einen Fußball- und Basketballkäfig, der in den Sommerferien besonders gut besucht ist. Am Spielplatz im Sandkasten tollt eine Kindergartengruppe umher, junge, verschwitzte Männer nutzen bei fast 35 Grad im Schatten die öffentlichen Fitnessgeräte für ihr Krafttraining.
Im Fußballkäfig spricht profil mit drei Burschen. Sie alle haben syrischen Background, zwei von ihnen sprechen kein Deutsch, der neunjährige Anis (Name von der Redaktion geändert) fungiert deshalb als Übersetzer. Er wohnt in einem der benachbarten Gemeindebauten und verbringt hier im Park seine Sommerferien.
Die Schießerei am vergangenen Wochenende ist auch unter den Kindern Gesprächsthema Nummer eins. Anis möchte profil die letzten noch übrig gebliebenen Polizei-Spuren zeigen. Sie befinden sich auf dem Betonboden bei einem der Eingänge in den Park; dabei handelt es sich um gesprayte Kreise, die Spuren umkringeln.
Genau an der Stelle ist mit weißer Straßenkreide auf den Boden gemalt: „Nein zu Gewalt! In diesem Park spielen Kinder.“ Anis und seine beiden Freunde erzählen, dass bei ihnen im Gemeindebau jeder die Gruppe 505 kennt. Was genau sie machen, wissen sie nicht. Damit sind die Volksschulkinder nicht allein.
Neue Welle an Gewalt
Die Wiener Polizei beobachtet die 505-Gruppe seit Längerem. In der Nacht auf Mittwoch führte sie eine Schwerpunktaktion am Leipziger Platz durch, unweit des Anton-Kummerer-Parks. Es ist genau der Ort, an dem ein Algerier vor einem Jahr mit einer Machete ermordet wurde. „Wir beobachten eine neue Welle an Gewalt“, berichtet Oberstleutnant Dietmar Berger, stellvertretender Leiter des Ermittlungsdienstes im Landeskriminalamt Wien. Und sagt: Die Wiener Polizei rüste in Zusammenarbeit mit Kollegen und Kolleginnen aus den Bundesländern auf. Beamte, auch von den Sondereinheiten Cobra und Wega, sind derzeit verstärkt in den Hotspots unterwegs. Bei den Eskalationen zwischen Syrern und Tschetschenen geht es jedoch nicht um Clan-Kriminalität, wie man sie aus Deutschland kennt. „Das ist ein loser Zusammenschluss von Menschen“, so Berger. Den jungen Männern gehe es hauptsächlich um das, was sie unter Ehre verstehen, und darum, die Straße zurückzuerobern.
So dürften die Konflikte heuer recht banal begonnen haben. Eine größere Gruppe syrischer junger Männer soll versucht haben, vier tschetschenische Jugendliche vom Wiener Handelskai zu vertreiben, erzählt Ahmad Mitaev. Der Streetworker, ein 24 Jahre alter Tschetschene, ist durch seinen TikTok-Kanal „Cop und Che“ mit dem Polizisten Uwe Schaffer auch zu einem Vorbild in der tschetschenischen Community geworden. Er redet mit vielen Jugendlichen und gibt ihnen Tipps, wie man nicht in die Kriminalität abrutscht.
„Bleibt einfach daheim, geht Fußball spielen im Park oder schwimmen, was weiß ich. Es ist gutes Wetter. Aber geht einfach zu keinen Schlägereien, ja?“
Mitaev erzählt: Den Kampf am Handelskai hätten die tschetschenischen Teenager für sich entschieden. Seitdem schaukeln sich die gegenseitigen Racheaktionen auf. Teile der tschetschenischen Community behaupten, sie seien von Mitgliedern der „505“-Bande angegriffen worden, tschetschenische Frauen sollen belästigt worden sein.
Wie durchbricht man diesen Teufelskreis am besten? Mitaev sagt: Einerseits mit einem verstärkten Einsatz der Polizei, andererseits braucht es ein Friedensgespräch innerhalb der Szene – Gespräche mit älteren, in den Communities anerkannten Persönlichkeiten seien bereits am Laufen.
Bis dahin empfiehlt Streetworker Mitaev den Jugendlichen: „Bleibt einfach daheim, geht Fußball spielen im Park oder schwimmen, was weiß ich. Es ist gutes Wetter. Aber geht einfach zu keinen Schlägereien, ja?“
Mitarbeit: Max Miller
Natalia Anders
ist Teil des Online-Ressorts und für Social Media zuständig.
Clara Peterlik
ist seit Juni 2022 in der profil-Wirtschaftsredaktion. Davor war sie bei Bloomberg und Ö1.