Höflicher Applaus wie nach einem komplexen Zwölftonmusikvortrag: Christian Kerns Rede in Wels
Wasserprediger: Redekunst hat in Österreich wenig Tradition

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Die Rede, die zu einer Sternstunde der Rhetorik werden sollte, begann reichlich bleiern. Es war heiß damals, am 28. August 1963 in Washington, aber daran lag es eigentlich nicht. Eher daran, dass Prediger und Bürgerrechtler Martin Luther King alles zu perfekt machen wollte. So dringend war ihm die Botschaft, dass jede Formulierung seiner ausgetüftelten Ansprache sitzen soll. Die Sätze sind geschliffen – allein die Rede zündet nicht. Mehr als wohlwollende Apathie kam nicht auf, der Funke zum Publikum wollte und wollte nicht überspringen.Bis, nach zehn Minuten und 30 Sekunden, die Gospelsängerin Mahalia Jackson ihm leise zurief: „Martin, erzähl ihnen von deinem Traum.“ In Minute elf löste sich King von seinem Manuskript und donnerte in die Menge: „I have a dream.“ Der Rest ist Geschichte.

Manch Zuhörer wünschte sich vergangenen Mittwoch in Wels wohl klammheimlich, auch Bundeskanzler und SPÖ-Chef Christian Kern hätte seine Mahalia Jackson gehabt. Spätestens ab Minute 37, als Kern bereits über die Energiewende, Mondlandungen, Lisa aus Simmering, Vollbeschäftigung und Regulierungen beim Brandschutz parliert und sein fünftes Glas Wasser verbraucht hatte, zeigte das Publikum erste veritable Ermattungserscheinungen. Es sollten aber noch etliche Gläser Wasser, ein breites Potpourri an Themen und erkleckliche eine Stunde acht Minuten Rede folgen. Meist detailistisch, fast immer ohne Verhaspler oder Ähm-sozusagen-wie-gesagt-Wortmüll, stets frei und herumwandernd vorgetragen. Garniert mit einer Fülle konkreter Vorschläge, vom Recht auf einen Kindergartenplatz für Einjährige bis zur Zuwanderungsbremse. Perfekt inszeniert, ohne Firlefanz wie Videoschnipsel, ganz auf die Kraft des Redners vertrauend, auf einer roten Drehbühne, gut ausgeleuchtet. Und dennoch: Großteils zu überladen und kopflastig, um das Publikum mitreißen zu können. Dementsprechend geriet der Applaus höflich und emphatisch, aber nicht enthusiasmiert – eher wie nach einem komplexen Zwölftonmusikvortrag statt wie nach einem elektrisierenden Popstarauftritt.

Die verbalen Visitenkarten der Bundeskanzler gemahnten eher an Pflichtübungen im Bürokratendeutsch als an rhetorische Glanzstücke.

Dafür fiel die Rede mit einer Stunde 45 Minuten zu ausladend aus. Selbst die Präsidenten der Weltmacht USA halten sich kürzer: Deren „State of the Union“-Ansprachen dauern, je nach Naturell, im Schnitt minimalistische 40 (Ronald Reagan) bis 52 Minuten (George W. Bush), sogar rhetorische Schwergewichte wie Barack Obama dehnten ihre Reden zur Lage der Nation nie über eine Stunde und fünf Minuten aus.

Hierzulande hat die hohe Kunst der politischen Rede keine Tradition, mehr als Biertisch- und Wahlkampfgebrülle begab sich selten. Die verbalen Visitenkarten der Bundeskanzler – die Regierungserklärungen – gemahnten eher an Pflichtübungen im Bürokratendeutsch als an rhetorische Glanzstücke. Maximilian Gottschlich, der Altmeister der Kommunikationswissenschaft, sezierte einst im Buch „Wie die Kanzler redeten“ die Regierungserklärungen so luzide wie unbarmherzig und kam zu dem Befund: Selbst wortgewaltige Politiker wie Bruno Kreisky sonderten „lapidare Sätze im kategorischen Tonfall amtlicher Verordnungen“ ab, den Erklärungen von Nach-Nachfolger Franz Vranitzky attestierte Gottschlich überhaupt nur, „Spiegel einer raschen Abfassung“ gewesen zu sein. Aus dem Wissenschaftersprech übersetzt: hingenudelt. Immerhin gebührt Vranitzky das Verdienst, eine der bedeutsamsten Reden eines Kanzlers gehalten zu haben – als er in den 1990er-Jahren verbal mit der „Opferrolle“ Österreichs aufräumte und die „Mitschuld“ an Nazi-Gräueln einräumte.

Eine der wenigen Reden österreichischer Politiker, die ins Geschichtsbuch eingingen. Dabei hatte sich gerade die ÖVP redlich bemüht, pompöse Grundsatzreden in feierlichem Rahmen als Stilform zu etablieren. Begonnen hat damit Alois Mock 1983 im geschichtsträchtigen Wiener Belvedere, dem Ort der Unterzeichnung des Staatsvertrages, später wechselte die Rede in die Hofburg und auf das Datum der Unterzeichnung des Staatsvertrages. Manche legten es verspielt an wie Wolfgang Schüssel, der von „Ichlingen“ sprach, manche pastoral wie Wilhelm Molterer, der über „die Gnade der Geburt“ elaborierte, manchen gelang es – wie Josef Pröll, mit der „Transparenzdatenbank“ –, ein Thema zu setzen, das wochenlang die Schlagzeilen dominierte. Die Inszenierung als pathetischer Staatsevent, getragen vom Bedürfnis, zumindest für einen Tag Nummer 1 zu sein, wirkte für Vizekanzler stets etwas aufgesetzt. Politische Unglücksraben wie Michael Spindelegger halsten sich das Zusatzdilemma auf, dass ihnen der zum Aufwärmen des Publikums engagierte Vorredner, der damalige Staatssekretär Sebastian Kurz, komplett die Show stahl.

FPÖ und Grüne zelebieren ihre rhetorischen Spezialgebiete: Die Freiheitlichen üben sich gerne in der angriffigen Büttenrede, oft vorgetragen im Bierzelt, die Grünen sind Filibuster-Meister im Nationalrat. Madeleine Petrovic schaffte es, zehn Stunden und 35 Minuten über das Tropenholzgesetz zu sprechen, ihr Parteifreund Werner Kogler übertrumpfte sie mit zwölf Stunden und 42 Minuten Redezeit über das Budget, lapidar beendet mit: „Das ist eigentlich schon alles, was ich sagen wollte.“

Unvorstellbar in Österreich, dass Kaliber wie Daniel Kehlmann oder Friederike Mayröcker Politikeransprachen durchleuchten.

Hauptsache lang, Inhalt Nebensache – von der in der Antike geborenen Redekunst ist das so weit entfernt wie Wien von Athen. Die Geschichte der deutschsprachigen Rhetorik ist auch eine Geschichte der Angst vor Demagogie: Zwar ist Rhetorik bis ins 18. Jahrhundert Schulfach, doch Philosophen wie Immanuel Kant warnen vor ihr als „hinterlistige Kunst“. Endgültig ruiniert wird der Ruf der Rede durch die NS-Zeit, wo primitive Brüllpropagandareden à la „Wollt ihr den totalen Krieg“ den Einsatz rhetorischer Mittel diskreditierten. Wenig Wunder, dass Kanzlerin Angela Merkel in ihren Reden die absolute Nüchternheit hochhält: Extradry, als einzige Körpersprache die Merkel-Raute.

US-Kollegen sind von vergiftetem NS-Ballast frei, aus ihren Reden ist Pathos und Emotion nicht wegzudenken. Die längere demokratische Tradition hilft: Schon vor 200 Jahren durften dort freie Bürger das Wort ergreifen, während österreichische und deutsche Untertanen schwiegen, gehorchten und Zensur fürchteten. Seit George Washington und dem Jahr 1790 wird die „State of the Union“ zelebriert, John F. Kennedy bereitete sich auf seine zwei Monate lang vor und schaffte es, sich mit einem Satz ins kollektive Gedächtnis einzugraben: „Fragt nicht, was euer Land für euch tun kann; fragt, was ihr für euer Land tun könnt.“ Bis heute hallt dieser Satz nach, übertroffen nur von der – streng genommen sinnfreien – Kennedy-Aussage „Ich bin ein Berliner“. Kalkulierte Emotion in Reinkultur.

In diesem Fach glänzte auch Barack Obama. Dem scheidenden US-Präsidenten gelang das seltene Kunststück, dass selbst Meister des Wortes wie der Schriftsteller Michael Chabon in Intellektuellenzeitungen wie der „New York Review of Books“ seine Reden analysierten. Unvorstellbar in Österreich, dass Kaliber wie Daniel Kehlmann oder Friederike Mayröcker Politikeransprachen auf Stil, Spannungsaufbau und rhetorische Mittel durchleuchten. Kommenden Montag böte sich die nächste Gelegenheit: Da tritt Finanzminister Hans Jörg Schelling zum Fernredewettbewerb mit Kern und seiner großen Rede an. Trockener Arbeitstitel: „2017, das Jahr der Reformen.“

Eva   Linsinger

Eva Linsinger

Innenpolitik-Ressortleitung, stellvertretende Chefredakteurin