Wendejahr 1989: Reporter Andreas Förster über die Nacht, in der er den Mauerfall verschlief
Natürlich könnte ich erzählen, wie uns Freunde am späten Abend des 9. November 1989 aus der Wohnung klingelten. Wie wir zusammen zur Mauer zogen, euphorisch und trunken vor Glück und Aufregung. Wie wir die verwirrten DDR-Grenzsoldaten angrinsten, als wir an ihnen vorbei den hochgezogenen Schlagbaum an der Bornholmer Brücke passierten. Wie wir uns in dieser Nacht der Nächte mit wildfremden Menschen in den Armen lagen und auf dem Kurfürstendamm Champagner tranken.
Das könnte ich alles erzählen.
Nur - es würde nicht stimmen.
Die Wahrheit ist: Ich habe den Fall der Berliner Mauer verschlafen.
Meine Frau und ich sind Journalisten. Sie arbeitete damals beim "Guten Rat, einem bei den Ostdeutschen sehr begehrten Verbraucher-und Lifestyle-Magazin. Ich war Lokalredakteur bei der "Berliner Zeitung, dem hauptstädtischen SED-Organ, das seinerzeit von allen drögen Parteiblättern des Landes noch das lesenswerteste war.
In diesen verrückten, atemlosen Revolutionstagen vom Herbst 1989, in dem alles möglich schien und vieles auch möglich wurde, rasten wir durch die Zeit. Nahezu täglich gab es Demonstrationen und Protestkundgebungen im ganzen Land, an "Runden Tischen stellten die Bürger furchtlos und selbstbewusst schwitzende Parteifunktionäre, Kommunalpolitiker und Betriebschefs zur Rede. Basisdemokratische Parteien und unabhängige Bürgerinitiativen schossen aus dem Boden, erstmals berichteten DDR-Medien über Korruption und Machtmissbrauch von SED-Kadern. Es wurde nicht mehr getuschelt, sondern laut gelacht, geschrien, geredet.
Jeden Tag war ich in diesen Wochen unterwegs, um von den oft stundenlangen Diskussionsrunden auf Marktplätzen, in Rathäusern und Betriebskantinen zu berichten. Die SED hatte den "Dialog mit der Bevölkerung ausgerufen, der sich aber, anders als geplant, zu einer gnadenlosen Abrechnung der Regierten mit ihren Regierenden entwickelte. "Es ist, als habe einer die Fenster aufgestoßen nach all den Jahren von Dumpfheit und Mief, rief der Schriftsteller Stefan Heym einer Million Menschen zu, die sich am 4. November 1989 zur größten Freiheitsdemonstration der DDR-Geschichte auf dem Berliner Alexanderplatz versammelt hatten. So war es. Das Land brodelte und brach auf, friedlich, hoffnungsvoll, fröhlich.
Nur das letzte SED-Aufgebot um Egon Krenz glaubte immer noch daran, dieses aufrührerische Land mit ein paar demokratischen Schönheitskorrekturen wieder in den Griff zu bekommen. Dabei waren sie längst die Getriebenen, die tagtäglich in Verlautbarungen und Pressekonferenzen ein Zugeständnis nach dem nächsten an den Bürgerwillen machen mussten. Wir hingen damals an den Fernsehern und Radios, um ja keine neue Wendung, keine neue Enthüllung zu verpassen.
So auch am 9. November 1989. Es war kurz nach sechs Uhr abends, ich war gerade aus der Redaktion nach Hause gekommen. Das DDR-Fernsehen übertrug eine Pressekonferenz, auf der das SED-Politbüromitglied Günter Schabowski ein wenig lustlos über die jüngste Tagung des Zentralkomitees der Partei referierte. Nebenbei deckten wir den Abendbrottisch, unsere Kinder - die Tochter war in der ersten Klasse, der Sohn noch im Kindergarten - sollten pünktlich ins Bett. Kurz vor 19 Uhr stellte ein Journalist die Frage nach dem neuen Reisegesetz, das die SED-Spitze versprochen hatte. Wir setzten uns hin, hörten nun genau zu. Schabowski sprach davon, dass künftig keine bestimmten Voraussetzungen mehr für einen Visumsantrag vorliegen müssen und jedermann in den Westen reisen dürfe. Auf die Nachfrage, ab wann diese Regelung gelte, kam die inzwischen berühmte Szene, in der Schabowski einen zerknitterten Zettel aus der Tasche zieht und losstammelt: "Das trifft nach meiner Kenntnis ist das sofort, unverzüglich.
Wir machten den Fernseher aus. "Dann kann ich ja das nächste Mal mitkommen, wenn du zu deinen Tanten fährst, sagte ich noch zu meiner Frau. Sie hatte in den Jahren zuvor zwei Mal nach Westberlin zu ihrer Familie reisen können, allerdings ohne mich und unsere Kinder.
Damit war das Thema Schabowski und Reisegesetz beendet. Wir aßen mit unseren Kindern Abendbrot, brachten sie ins Bett und gingen dann selbst bald schlafen. Manchmal gibt es Wichtigeres als Politik.
Wir schliefen gut und fest. Am nächsten Morgen - es war der 10. November - wachte ich kurz nach sechs Uhr auf. Ich schlurfte ins Bad und machte automatisch das Radio an. Es war auf den Westberliner Sender SFB 2 eingestellt, den wir immer hörten. Statt wie erwartet Musik hörte ich jedoch einen Reporter reden. Er sprach mit einem DDR-Grenzer und fragte ihn, was er dabei empfinde, dass hier schon die ganze Nacht hindurch die Menschen in den Westen strömten.
Mit einem Schlag war ich hellwach. Ich stürzte in das Schlafzimmer und rief meiner Frau zu: "Die Mauer ist auf. Wir liefen in das Wohnzimmer, machten den Fernseher an. Bilder von singenden, lachenden, weinenden Menschen waren da zu sehen, von offenen Schlagbäumen und Grenzsoldaten mit Blumen in den Knopflöchern. Sprachlos saßen wir da, bis meine Frau, die schon immer einen sicheren Instinkt in Entscheidungssituationen bewiesen hatte, sagte: "Das ist das Ende der DDR.
Natürlich sind wir wenige Stunden später rüber nach Westberlin. Vorher ließen wir uns auf dem Polizeirevier, weil wir dem Frieden noch nicht so recht trauten, vorsichtshalber ein Visum in den Ausweis stempeln. Unsere Kinder hatte wir zur Schule und in den Kindergarten geschafft, dann kamen wir um 9.35 Uhr an der zugemauerten Oberbaumbrücke an, die den Ostberliner Friedrichshain vom Westberliner Kreuzberg trennt. Eine Eisentür stand offen, dahinter ein paar Grenzer. Unseren Ausweis wollte niemand sehen, müde winkten uns die Uniformierten durch. "Kommen wir auch ganz sicher wieder zurück?, fragte meine Frau. "Ja, ja, keine Bange, war die Antwort.
Am 10. November 1989, um 9.36 Uhr, betrat ich das erste Mal Westberlin. Eigentlich müssten jetzt Feuerwerksraketen in den Himmel fliegen und ein Orchester spielen, dachte ich noch. 30 Jahre hatte ich hinter der Mauer gelebt, und natürlich hatte ich gedacht, dass es auch den Rest meines Lebens so sein würde. Und jetzt ging ich durch ein offenes Eisentor, an verschlafenen Grenzern vorbei über eine heruntergekommene Brücke und war nach 100 Schritten im Westen. So einfach.
Ein wenig ziellos streiften wir danach durch Kreuzberg. Wir hatten nur ein paar Stunden Zeit - ich musste gegen Mittag in der Redaktion erscheinen, und meine Frau wollte zu Hause sein, wenn die Tochter aus der Schule kam. Wir konnten doch nicht sicher sein, dass nicht doch noch irgendwas passierte.
Als ich in der Redaktion eintraf und euphorisch von meinem Trip in den Westen berichtete, reagierten einige Kollegen pikiert. In den Wochen davor hatte es auch in der "Berliner Zeitung Aussprachen gegeben. Heftig wurde darüber gestritten, wie das Blatt künftig aussehen solle, wie wir endlich einen anderen, ehrlichen Journalismus machen und uns aus der SED-Hörigkeit befreien könnten. Die Diskussion spaltete die Redaktion in zaghafte Reformer und radikale Erneuerer.
Das wurde auch an jenem 10. November deutlich spürbar. Eine seltsam zerrissene Stimmung herrschte im Verlagshaus. Da waren die einen, die begeistert von der Entwicklung der vergangenen Stunden und von ihren nächtlichen Ausflügen nach Westberlin sprachen; und die anderen, die verkniffen zuhörten und meinten, dass man in diesen komplizierten Zeiten der SED nicht in den Rücken fallen dürfe.
So sah es auch mein damaliger Ressortchef, ein strammer und humorloser Parteisoldat. An jenem Freitag nach dem Mauerfall aber traf auch er erst am Nachmittag in der Redaktion ein. Den ganzen Tag über hatte man vergeblich versucht, ihn zu erreichen. Als er kam, entschuldigte er sich mit der abenteuerlichen Geschichte, er habe von seinem Wohnort am Rande Berlins zum Verlagsgebäude am Alexanderplatz stundenlang im Stau gestanden, weil so viele Menschen zur Mauer unterwegs waren. Dabei holte er eine offensichtlich neu gekaufte Schachtel Westzigaretten aus der Tasche, die er bis dahin noch nie geraucht hatte.
Die Zerrissenheit der Redaktion spiegelte sich an diesem Tag auch in der Diskussion darüber wider, wie man die Ereignisse der vergangenen 24 Stunden ins Blatt bringen sollte. Die Westberliner Zeitungen hatten schon den ganzen Tag über kostenlose Sonderausgaben verteilt, mit Fotos von jubelnden Menschen auf der Titelseite. In der Freitag-Ausgabe der "Berliner Zeitung war der Mauerfall am späten Donnerstagabend hingegen mit keiner Zeile erwähnt worden. Aber noch einen Tag länger konnte man nicht mehr schweigen. Es war nur die Frage, wie wir mit dem Thema umgehen sollten.
Letztlich setzte sich die alte Garde noch einmal durch. Am 11. November, dem Samstag nach dem Mauerfall, erschien die "Berliner Zeitung mit der Schlagzeile "150.000 Berliner: Ja zum Aktionsprogramm der SED. In dem dazugehörigen Artikel ging es um die Reformen, mit denen sich die SED einen demokratischeren Anstrich geben wollte. Ein daneben stehender, deutlich kleinerer Artikel berichtete von dem Besucherstrom nach Westberlin. Im Inneren des Blattes setzte sich dieses Größenverhältnis fort: Während über drei Seiten das Reformprogramm der Einheitspartei ausgebreitet wurde, blieb für die Reportage über ostdeutsche Kudamm-Bummler gerade mal eine Seite Platz.
Am Wochenende nach dem Mauerfall sind wir mit unseren Kindern nach Westberlin gefahren. Von dem Begrüßungsgeld kauften wir ein paar Spielsachen, Obst und Kaffee. Und ich holte mir das Nachrichtenmagazin "Der Spiegel. Mein erster "Spiegel! Es war die Ausgabe vom 6. November 1989. Das Titelblatt zeigte ein auseinanderbrechendes Staatswappen und die Schlagzeile "Ist die DDR noch zu retten?. Die Antwort darauf war in dieser Woche gefallen.
Einen Wunsch habe ich mir damals allerdings nicht erfüllen können. Am 15. November, nicht einmal eine Woche nach dem Mauerfall, trat die DDR-Nationalmannschaft in Wien zum entscheidenden Qualifikationsspiel zur Fußball-WM 1990 an. Österreich stellte der DDR 4000 Eintrittskarten zur Verfügung und hob für die anreisenden Fans den Visumzwang auf. Wie gern wäre ich dabei gewesen, bekam aber keinen Urlaub.
Gewonnen hat damals übrigens Österreich, dank dreier Tore von Toni Polster. Die DDR-Mannschaft hatte ihre letzte Chance verpasst, sich für eine WM-Endrunde zu qualifizieren. Alles war damals eben doch nicht möglich, selbst im Revolutionsherbst 1989.