Wendeorte Teil 6

Vöcklabruck: Keine Arbeiter, wo andere urlauben

In Vöcklabruck herrscht auch in wirtschaftlich schwierigen Zeiten beinahe Vollbeschäftigung. Wie ein Industriebezirk zwischen Bergen und Seen dem Arbeitskräftemangel gegensteuert.

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Wer Vöcklabruck hört, versteht meist nur Bahnhof. Die Hauptstadt des gleichnamigen Bezirks in Oberösterreich kennen viele nur vom Durchfahren – sei es auf der Westautobahn oder auf den Schienen der Westbahnstrecke. In 45 Minuten ist man mit dem Zug in Linz oder Salzburg, nach Wien oder München fährt man zweieinhalb Stunden. Was Vöcklabruck von vielen kleineren Bahnhöfen unterscheidet: Die Züge bleiben hier auch stehen.

Industrieregion

Der Bezirk Vöcklabruck in Oberösterreich zählt rund 140.000 Einwohner und enthält die zweitmeisten Gemeinden aller Bezirke in Österreich. Das im Bezirk liegende Tal zwischen den Flüssen Vöckla und Ager ist eines der wichtigsten Industriegebiete des Landes. Mondsee und Attersee locken Touristen. 

Das lohnt sich. Unter den rund 140.000 Einwohnern des Bezirks waren Ende Juni nur 174 langzeitarbeitslos. Im Bezirk Vöcklabruck ist also im Schnitt eine von 1000 Personen schon lange ohne Arbeit. Im Österreich-Schnitt sind es fast neun von 1000. Und obwohl die Arbeitslosigkeit steigt, gibt es im Bezirk fast so viele offene Stellen wie Arbeitslose. Neben internationalen Riesen wie dem Faser-Hersteller „Lenzing AG“ steht der Bezirk für wirtschaftliche Vielfalt und Tradition: 115 Betriebe sind älter als 100 Jahre, im Sommer locken Seen und Berge Touristen in die Region. In Vöcklabruck könne man „arbeiten, wo andere urlauben“, lautet ein Lieblingsspruch der örtlichen Wirtschaft.

Doch das reicht schon lange nicht mehr. „Ich kann mich noch gut an die Zeit erinnern, als ich auf eine Stelle 25 Bewerbungen bekommen habe“, sagt Doris Hummer, Geschäftsführerin des Fassadenherstellers „Domico“ und Präsidentin der Wirtschaftskammer (WKO) Oberösterreich. Heute ist die 51-jährige ÖVP-Politikerin mit blondem Kurzhaarschnitt „froh, wenn pro Ausschreibung zwei, drei Bewerbungen eintrudeln“. Das Familienunternehmen beschäftigt rund 150 Personen, den Großteil davon auf einem Hügel am Rand von Vöcklamarkt, 15 Autominuten von der Bezirkshauptstadt entfernt.

Doris Hummer

Die frühere ÖVP-Landesrätin für Bildung, Wissenschaft und Forschung, Frauen und Jugend ist Geschäftsführerin des Fassadenherstellers „Domico“ und seit 2017 Präsidentin der Wirtschaftskammer Oberösterreich.

In Vöcklamarkt halten nur Regionalzüge, an Sommerwochenenden zudem zweimal täglich „Bäderzüge“ der Westbahn. Steigt man von dort in die Atterseebahn, die neben Vöcklamarkt und St. Georgen auch bei der Haltestelle „Seniorenheim“ stehen bleibt, ist man in einer halben Stunde am Attersee.

Mangel am See 

Das türkise Wasser, der Schafberg und die Klippen des Höllengebirges verzauberten Künstler wie Gustav Klimt, der die Landschaft in über 40 Gemälden einfing. Auch heute lockt die Seenregion jährlich Millionen Touristen ins Salzkammergut – und damit etwa mit Attersee und Mondsee in den Bezirk Vöcklabruck. 2023 gab es mehr als 1,2 Millionen Nächtigungen in den 712 Tourismusbetrieben des Bezirks.

2024 ist das Salzkammergut zudem Kulturhauptstadt. Das Schlosshotel Mondsee war Anfang Juli dennoch schlecht gebucht – bis die deutsche Nationalmannschaft am 5. Juli bei der Heim-Europameisterschaft im Viertelfinale gegen Spanien verlor. Danach nächtigten auch deutsche Fußballfans wieder am Mondsee, die Buchungslage beruhigte sich.

Seit 2021 regieren ÖVP und FPÖ in Oberösterreich. Bei der heurigen Europawahl war die FPÖ im Bundesland klar an erster Stelle, das war im Bezirk Vöcklabruck nicht anders. Corona-Nachwehen, Migrationsthematiken und die Teuerung waren die Hauptmotive, die FPÖ zu wählen.

Dabei ist trotz der schwierigen wirtschaftlichen Lage der Anteil offener Stellen in keinem EU-Land höher als in Österreich. 4,5 Prozent aller Stellen konnten im Juni hierzulande nicht besetzt werden. Der EU-Schnitt liegt laut Eurostat bei 2,6 Prozent. 

Bei einer Umfrage im Auftrag der WKO im April gaben 82 Prozent der befragten Unternehmen an, von Arbeitskräftemangel betroffen zu sein. Die Folgen: In fast zwei von drei betroffenen Unternehmen müssen die vorhandenen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter mehr Überstunden leisten, mehr als die Hälfte der betroffenen Firmen klagen über Umsatzeinbußen – und fast jedes zehnte Unternehmen überlegt, Teile der Produktion ins Ausland zu verlegen. Bisher hatten nur 7,8 Prozent der befragten Unternehmen eine Niederlassung im Ausland.

Auch die Firma „Domico“ könnte künftig mehr im Ausland produzieren. „In Österreich sind die Lohnkosten pro Kopf doppelt so hoch wie in Tschechien“, sagt Geschäftsführerin Hummer: „Bei manchen Abläufen kann man sich mit optimierten Prozessen zumindest wettbewerbsfähig halten. Aber bei ganz einfachen Tätigkeiten geht das schlicht nicht mehr.“ Billiger werden Arbeitskräfte wohl kaum, die Bevölkerungsentwicklung steht dem entgegen: Schon jetzt fehlen laut Fachkräftemonitor des Landes Oberösterreich in den Bezirken Vöcklabruck und Gmunden rund 5000 Fachkräfte. 

An der B1 zwischen Vöcklamarkt und der Stadt Vöcklabruck wird der Mangel sichtbar: Der Baumarkt „Greinöcker & Willibald“ nutzt seine Werbetafel an der Landesstraße, um nach Lehrlingen, Monteuren, Bodenlegern und Einzelhandelskaufleuten zu suchen. Die Firmen wissen, was ihnen droht: 2040 dürften in der Region fast 20.000 Fachkräfte fehlen. Beinahe jede fünfte Stelle könnte folglich nicht besetzt werden. Das ist Demografie: Wer in 16 Jahren in den Arbeitsmarkt eintreten soll, wird spätestens heuer geboren.

Die andere Seite der Medaille: „Wer gut ausgebildet ist, hat kein Problem am Jobmarkt“, sagt Karin Gerhart. Die 46-Jährige leitet das Arbeitsmarktservice (AMS) Vöcklabruck, das direkt am friedlich dahinfließenden Fluss Vöckla liegt. Spätestens nach der Corona-Krise 2020 hätten die Unternehmen in der Region umgedacht, sagt Gerhart: Es werden auch in wirtschaftlich schwierigen Zeiten weniger Kündigungen ausgesprochen – aus Angst, später kein qualifiziertes Personal zu finden. WKO und AMS arbeiten im Bezirk besonders eng zusammen: Alle 14 Tage gibt es Besprechungen, um Arbeitskräfte so schnell wie möglich zu vermitteln.

Kampf um die nächste Generation

Der demografische Wandel zwingt die Firmen, die eigene Zukunft selbst auszubilden. In jeder Gemeinde des Bezirks gibt es zumindest einen Lehrlingsbetrieb, pro Lehrstellensuchendem stehen zehn Lehrstellen frei, sagt WKO-Bezirksstellenleiter Josef Renner. Die Bezirkslehrlingsmesse im Mai ist die größte ihrer Art in Oberösterreich. Heuer waren 76 Aussteller und 2000 Besucher vertreten – beides ein Rekordwert. Die Betriebe werden kreativ: Selbstironische Image-Videos sollen die Generation TikTok von Traditionsunternehmen in der Region überzeugen. Firmeneigene Shuttleservices bringen Lehrlinge auch an entlegene Standorte. Und der Kunststoffhersteller „Camo“ verspricht besonders fleißigen Lehrlingen einen Helikopterflug mit dem Geschäftsführer.

Doch auch einfachere Maßnahmen können zum Erfolg führen: Der Fassadenhersteller „Domico“ baute 2019 eine neue Zentrale. „Seitdem bekommen wir vereinzelt Blindbewerbungen“, sagt Geschäftsführerin Hummer: Ein Softwareentwickler habe sich etwa gleich nach der Schule initiativ bei der Firma beworben – auch weil er den auffälligen Überhang des Firmensitzes vom Vorbeifahren kennt. Ein rarer Fang, umso mehr als WKO-Oberösterreich-Präsidentin Hummer sicher ist: „Der Engpass an Arbeitskräften wird entscheiden, ob der Standort Oberösterreich mittelfristig wachsen kann oder nicht.“ Auch wenn „Domico“ derzeit in Österreich nicht expandiert, sorgt die Firma mit Schulungen, Betriebsführungen und Ferialjobs dafür, dass junge Menschen das Unternehmen kennenlernen. Denn obwohl man bei Kinderbetreuung, Steuersystem, Arbeitsmarktpolitik oder der Zuwanderung von Fachkräften dem Arbeitskräftemangel entgegensteuern könne, sei klar: „Ich kann nicht einfach Menschen herbeizaubern“, so Hummer.

Der Faser-Hersteller „Lenzing“ weiß als internationales Industrieunternehmen schon länger, dass man qualifizierte Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter halten muss – selbst dann, wenn sie sich neu orientieren wollen: Die Chefin der Personalverrechnung in Lenzing war etwa zuvor Anlagenmonteurin, der oberste Produktionsplaner Industriechemiker. Offene Stellen werden zuerst zwei Wochen lang intern veröffentlicht, erst danach wird öffentlich ausgeschrieben, sagt René Kellner, Personalchef an den Standorten Lenzing und Heiligenkreuz.

Standortfrage Kinderbetreuung

Gelockt wird mit flexiblen Arbeitszeiten, dem Strahleffekt einer internationalen Marke – und zahlreichen Goodies: Für 40 Euro die Saison genießen „Lenzing“-Mitarbeiter einen eigenen Badeplatz am Attersee neben Schloss Kammer, 20 Radminuten vom Werk entfernt, im Online-Shop werden Produkte aus Lenzing-Fasern angeboten und regelmäßig Tickets zu Kulturveranstaltungen unter Mitarbeitenden verlost. Die firmeneigene Kinderbetreuungsstätte „Fasernest“ droht allerdings aus den Nähten zu platzen. Lenzing bietet daher für ältere Kinder Sommercamps an und will das Angebot künftig etwa um Kindergruppen erweitern.

In Sachen Kinderbetreuung sei im Bezirk noch Luft nach oben, sagt AMS-Bezirksleiterin Gerhart. Während im Bundesland die Zahl der Kinder in Tagesheimen von 2015 bis 2022 laut Statistik Austria um 15 Prozentpunkte gestiegen ist, stürzte sie in der Bezirkshauptstadt mit Beginn der Coronapandemie ab – und befand sich 2022 gar unter dem Niveau von 2015. Bürgermeister Peter Schobesberger (SPÖ) hatte das Vöcklabrucker Rathaus 2021 auch mit dem Versprechen besserer Betreuung erobert. 

Bis Jahresende sollen zwei neue Krabbelgruppen entstehen, die Kapazität an einem Standort verdoppelt werden, bloß: „Es ist viel leichter, Räume für fünf neue Kindergartengruppen zu bauen, als das Personal dafür zu finden“, sagt Schobesberger. Ein Image-Video unterstützte die Gemeinde letztes Jahr bei der Suche. Der Bürgermeister weiß aber auch: „In Zukunft müssen wir bei der Personalsuche noch kreativer werden.“

Ein Satz, den man in Vöcklabruck und ganz Österreich noch öfter hören wird.

Max Miller

Max Miller

ist seit Mai 2023 Innenpolitik-Redakteur bei profil. Schaut aufs große Ganze, kritzelt gerne und chattet für den Newsletter Ballhausplatz. War zuvor bei der „Kleinen Zeitung“.