Immer weniger Katholiken: Gehört das Christentum noch zu Österreich?
Von Gernot Bauer und Daniela Breščaković
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In einem Erdgrab in den Vatikanischen Grotten unter dem Petersdom fand Papst Paul VI. seine letzte Ruhe. Er starb am 6. August 1978 im 81. Lebensjahr in der päpstlichen Sommerresidenz in Castel Gandolfo an Herzversagen. In Österreich wurde Paul VI. durch ein Zitat unsterblich, das so nie gefallen ist. Bei einem Besuch von Bundespräsident Franz Jonas im Vatikan 1971 soll der Papst Österreich als „Insel der Seligen“ bezeichnet haben. Eher sprach er im persönlichen Gespräch mit Jonas von einer „isola felice“, einer „glücklichen Insel“. Und selbst das ist fraglich. In seiner offiziellen Ansprache sagte Paulus VI. zu Jonas: „Die Bevölkerung Ihres Landes bekennt sich seit Jahrhunderten in überwiegender Mehrheit zum christlichen, zum katholischen Glauben. Diese geschichtliche Tatsache hat in der Vergangenheit den politischen und kulturellen Werdegang Österreichs entscheidend bestimmt, und zwar zu seinem Segen.“
Dieser Segen hängt schief: Die römisch-katholische Kirche ist dabei, ihren Status als Volkskirche zu verlieren. Die Österreicherinnen und Österreicher fallen von ihrem Glauben ab: ausgerechnet im Land der Dome, das seit Jahrhunderten zutiefst katholisch geprägt ist; dessen Kaiser sich auf das Gottesgnadentum beriefen; das in der Ersten Republik mit Ignaz Seipel einen Prälaten als Bundeskanzler hatte; und dessen aktueller ÖVP-Nationalratspräsident zur Gebetsfeier ins Parlament lädt.
Doch Österreich wird immer säkularer, Zehntausende treten jährlich aus der Kirche aus. So vertrocknet wirkt der Katholizismus, dass sich eine fast blasphemische Frage aufdrängt: Gehört das Christentum noch zu Österreich?
Als Kipppunkt könnte der 11. Juni 2024 in die katholische Geschichte des Landes eingehen. An diesem Tag präsentierte der Wiener Bildungsstadtrat Christoph Wiederkehr, NEOS, eine Erhebung, wonach der katholische Glaube in öffentlichen Volksschulen der Bundeshauptstadt zum Minderheitenprogramm wurde. Die stärkste Gruppe machen mit 35 Prozent Kinder muslimischen Glaubens aus. Danach kommt die Gruppe der Schüler ohne religiöses Bekenntnis mit 26 Prozent. Erst an dritter Stelle folgen die Katholiken mit 21 Prozent. Christlich-orthodox sind 13 Prozent, protestantisch zwei Prozent. Betrachtet man den gesamten Pflichtschulbereich in Wien, sind die Zahlen noch dramatischer. 39 Prozent der Pflichtschüler sind Muslime, 23 Prozent ohne Bekenntnis und 19 Prozent Katholiken.
In der Bischofskonferenz unter dem Vorsitz des Salzburger Erzbischofs Franz Lackner leitet der Kärntner Diözesanbischof Josef Marketz das Referat für Pastoral, Katechese und Evangelisierung. Damit ist er für die Rundumbetreuung der Katholiken im Alltag und in Glaubensfragen zuständig. Zur Situation in den Wiener Schulen nimmt er auf Anfrage von profil so Stellung: „Ich sehe es eher als Herausforderung für die christlichen Kirchen und Gemeinschaften, auch in einer Minderheitensituation unseren Glaubensüberzeugungen treu zu bleiben und die Gesellschaft im christlichen Sinn mitzugestalten.“
Hinter den Zahlen steckt eine dramatische Dynamik. Der Trend in Wien wird sich fortsetzen und bald auch in den größeren Städten deutlich werden. Laut der aktuellen kirchlichen Statistik lebten mit Stichtag 31. Dezember 2022 4,73 Millionen Katholiken in Österreich. Dies entspricht auf Basis von Daten der Statistik Austria 52,7 Prozent der Bevölkerung. Extrapoliert man die Zahlen, beträgt der derzeitige Anteil der Katholiken 50,5 Prozent. Und in absehbarer Zeit – nach manchen Statistiken bereits im heurigen Herbst – werden die Katholiken weniger als die Hälfte der österreichischen Bevölkerung ausmachen, so sicher wie das Amen im Gebet. Bald sind die Katholiken also in der Minderheit.
Ende der Volkskirche
„Die Volkskirche kommt in vielen Bereichen an ihr Ende“, sagt Gabriele Eder-Cakl – und kaum ein Bischof würde ihr widersprechen. Eder-Cakl ist Leiterin des Österreichischen Pastoralinstituts der Bischofskonferenz. Vergangenen Montag sitzt sie in ihrem Büro am Stephansplatz mit prächtigem Blick auf den Dom. 1951 waren noch 91 Prozent der Österreicher katholisch. Nun kann die Kirche nicht mehr für sich beanspruchen, das ganze Volk zu repräsentieren. „Wir leben nun mal in dieser Welt. Die Gesellschaft ist, wie sie ist, und wir müssen mit den Bedingungen, die wir vorfinden, umgehen“, sagt Eder-Cakl.
Diese Welt bedeutet: Freizeit statt Religionsausübung; Überstunden statt Gebetsstunden; Shopping-Kathedrale statt Kirchgang. Eder-Cakl: „Es ist klar, dass die Menschen heutzutage am Sonntagvormittag auch anderes zu tun haben, als in den Gottesdienst zu gehen.“ Trotzdem sei man „ein kompletter Christ“.
Als junge Frauen sind Ute und Sabine zuerst aus der Kirche ausgetreten und nach Jahren wiedereingetreten. Im Gespräch mit profil haben sie darum gebeten, anonym zu bleiben. Die eigene Religion sei nichts, worüber man öffentlich spricht. Nicht einmal jetzt, nachdem sie als Erwachsene die Entscheidung getroffen haben, in die Kirche zurückzukehren. Beide Frauen sind am Land aufgewachsen, wurden katholisch erzogen. Ute kommt aus Kärnten, Sabine lebt in Oberösterreich. Die katholische Kirche prägte einen großen Teil ihrer Kindheit. Der Glaube galt als Tradition und der Besuch von sonntäglichen Gottesdiensten als Gebot. Doch je älter sie wurden, desto stärker verspürten sie den Drang, sich davon zu lösen. Bei Ute war es die Neugier auf etwas Neues. Sie suchte eine andere Religion, in der sie sich besser aufgehoben fühlte. Bei Sabine waren es die Missbrauchsskandale und die fehlende Spiritualität, die sie zum Austritt veranlassten: „In der Kirche ging es nur darum, brav zu sein und kleingehalten zu werden. Die Schafe hatten zu schweigen und zu lauschen. Andernfalls kommt Gott, der mit Sünden als Strafe droht.“ Irgendwann konnten sie ihre Unzufriedenheit nicht länger ignorieren und stellten sich die Frage: Warum bin ich überhaupt noch in diesem Verein? Doch die erleuchtende Erklärung blieb aus. Beide Frauen lösten mit einem Formular ihre amtliche Beziehung mit der Kirche auf.
Rekord bei Kirchenaustritten
Eine Entscheidung, die im Jahr 2022 insgesamt 90.975 Katholiken trafen, so viele wie nie zuvor. Ein Grund: Die Österreicher sind immer weniger religiös, wie eine neue Studie, die vom ORF beauftragt und in Kooperation mit der Universität Wien erarbeitet wurde, belegt. Demnach glauben nur noch 22 Prozent der in Österreich lebenden Menschen an Gott – ein historischer Tiefstand. Gleichzeitig finden 71 Prozent, dass Religion nach wie vor wichtige Werte vermittelt. Der Widerspruch zeigt: Glaube und Kirche hängen nicht zwingend zusammen.
Nach ihrem Austritt lebte Sabine sieben Jahre lang ohne Bekenntnis. Ute trat nach 20 Jahren vor wenigen Wochen wieder ein. In der Zwischenzeit war das Leben der Ex-Katholikinnen ein Sammelsurium aus Spirituellem, mit dem Ziel, den vermeintlich verborgenen Sinn des Lebens wiederzufinden. Ute wurde zur Buddhistin, Sabine machte eine Ausbildung zur Yogalehrerin.
Obwohl beide mit der neuen Ausrichtung ihres Lebens zufrieden waren, schlich sich im Lauf der Jahre das einst vertraute Gefühl ein, und die Sehnsucht nach der Kirche wurde größer. Sie fingen an, einen inneren Zuzug hin zur Kirche zu spüren, und wollten wieder ein Teil der sakralen Gemeinschaft werden. „Es fühlte sich an wie Heimkommen“, sagt Sabine, die ihr Leben ohne zwischenzeitliche Religionszugehörigkeit trotzdem „nach christlichen Werten“ ausgerichtet habe. Ähnlich wie Ute, für die eine Reversion die „logische Schlussfolgerung“ gewesen sei. Schließlich habe sie nach ihrem Austritt nie aufgehört zu glauben.
Christian Schamberger
Der Ombudsmann der Erzdiözese Salzburg berät "Austrittsgefährdete" und versucht sie von ihrem Vorhaben abzuhalten. Viele nennen finanzielle Gründe häufig als Grund für die Unzufriedenheit oder kritisieren das überholte Frauenbild und den Umgang mit den Missbrauchsfällen in den vergangenen Jahren.
Ein Phänomen, das Christian Schamberger kennt. Er ist als Ombudsmann der Erzdiözese Salzburg dafür zuständig, Wiedereingetretene an die Kirche heranzuführen und „Austrittsgefährdete“ von ihrem Vorhaben abzuhalten. Innerhalb einer Woche läutet sein Telefon zweimal, manchmal viermal. Die meisten treten still und leise aus. Ein Formular, eine Unterschrift – das war’s. Nur wenige suchen ein Gespräch: „Das sind diejenigen, die mit sich hadern.“ Anders ist es bei Wiedereingetretenen. In diesen Fällen ist ein Gespräch verpflichtend. Viele, die wiedereintreten, tun das aus formalen Gründen, erklärt Schamberger. Oft weil sie als Taufpatin oder Firmpate auserkoren wurden. Wenige setzen sich ernsthaft mit der Glaubensfrage auseinander. 2022 feierten 4486 Menschen ein katholisches Comeback, also nur fünf Prozent davon, die im selben Jahr ausgetreten waren. Bloß 315 Erwachsene ohne religiöses Bekenntnis ließen sich im Vorjahr neu taufen.
Brauchtum rettet Christentum
Doch was bedeutet das für die Kirche? Könnte das Katholische aus der österreichischen Gesellschaft verschwinden und Kulturchristen zur neuen Mehrheit werden, die zwar katholisch geprägt, aber ungläubig sind? Und welche Mitglieder bleiben der katholischen Kirche überhaupt noch?
Die Zeit als Mehrheitskirche ist mit großer Wahrscheinlichkeit vorbei, sagt die Religionssoziologin Regina Polak, die die Studie der Uni Wien leitete. Das Christentum würde dem Land aber weiterhin erhalten bleiben. Das hat vorwiegend mit der Geschichte und Brauchtumstradition zu tun. „Österreich wird seinen Charakter als christliches Land nicht so schnell verlieren, schon allein wegen der prägenden Kirchenfeste wie Ostern und Weihnachten. Auch Menschen, die sich vom Glauben entfernt haben, besorgen sich Adventkränze und stellen Christbäume auf“, sagt Gabriele Eder-Cakl vom Pastoralinstitut.
Die Studie der Universität zeigt, dass Religion in Österreich nicht generell abgelehnt wird. Allerdings sei das nicht statisch zu verstehen, wie Regina Polak erklärt. Zwar fühlt sich die Mehrheit in irgendeiner Form christlich, aber es gibt Abstufungen. Für die einen gehört die Kirche zum Leben eines Christen dazu. Für die anderen ist Glaube nichts, was an eine Institution gebunden ist. Polak spricht von unterschiedlichen Graden der Zugehörigkeit: „Das war schon immer die Stärke des Katholischen.“
Regina Polak
Die Religionssoziologin sieht das Ende der Volkskirche. Trotzdem spürt man in der Bevölkerung keine generelle Ablehnung gegenüber der Religion. Das hat primär mit der Geschichte und dem Traditionsbewusstsein der Österreicherinnen und Österreicher zu tun.
Der regelmäßige Kirchgang ist längt aus dem bürgerlichen Pflichtbewusstsein verschwunden. Die Gebetshäufigkeit hat abgenommen, ebenso die Notwendigkeit einer Mitgliedschaft. Ob die Zahl der Mitglieder noch weiter zurückgeht, hängt auch von der Kirche ab. Mitentscheidend sei laut der Religionssoziologin, wie der synodale Prozess im Oktober 2024 ausgehen wird. Papst Franziskus rief die Weltsynode vor drei Jahren ins Leben, um den künftigen Weg der Kirche zu definieren. Im Herbst sollen die Ergebnisse präsentiert werden. Einige Diözesen stellten bereits Prognosen auf. Die Erzdiözese Salzburg hat erstmalig mit dem Internationalen Forschungszentrum für soziale und ethische Fragen einen Fragebogen ausgearbeitet, um zu eruieren, warum Menschen aus der Kirche austreten. Laut Christian Schamberger reichen die Gründe von der Höhe des Kirchenbeitrags und der Unzufriedenheit beim Umgang mit den Missbrauchsskandalen bis hin zu den Auswirkungen der Pandemie. Eine umfassende Präsentation ist für Anfang 2025 geplant.
Revolution von unten
Die radikalsten Vorschläge zur Kirchenreform kommen von der Katholischen Aktion, der offiziellen Laienorganisation der katholischen Kirche in Österreich, die sich „als Avantgarde einer neuen kirchlichen Präsenz“ versteht, so ihr Präsident, der Oberösterreicher Ferdinand Kaineder. Die Katholische Aktion fordert vor allem mehr Mitspracherechte: „Laien müssen bei Bischofsbestellungen mitreden dürfen.“ Insgesamt sei die Kirche „zu männlich, klerikal und hierarchisch“. Kaineder: „Institutionell ist die Kirche mit ihrem Fokus auf die Bischöfe im Empfinden vieler Menschen grau und weit weg. An der Basis in den Pfarren ist sie bunt.“ Sogar sehr bunt: Die Katholische Aktion setzt sich für die Klimaaktivisten der Letzten Generation, das EU-Renaturierungsgesetz und für LGBTIQ*-Personen ein. Kaineder: „Natürlich ist es nett, wenn ein Bischof oder der Papst sich für die Segnung Homosexueller einsetzt. Aber das darf kein Gnadenakt sein, sondern gehört gewissermaßen in die Verfassung der Kirche.“
Bei anderen Laienorganisationen wie der Arbeitsgemeinschaft der Katholischen Verbände (AKV) hat die Katholische Aktion einen links-grünen Ruf. Statt gesellschaftspolitische Ansagen zu treffen, will man bei der AKV lieber „unkompliziert katholisch“ sein. Man könnte es auch als „konservativ“ bezeichnen. Vermittler zwischen beiden Welten ist der Präsident des Katholischen Laienrats, der Wiener Rechtsprofessor Wolfgang Mazal, dem die basisdemokratischen Vorstellungen der Katholischen Aktion zu weit gehen dürften: „Kirche verwirklicht sich nur in der Einheit mit den Bischöfen. Als Laien versuchen wir, unseren Weg durch die Zeit im Dialog mit den Bischöfen zu gehen. Dass manche Veränderungen notwendig sind, ist Konsens; wie und wann sie erfolgen, entscheidet sich nicht in Österreich.“
Quantität oder Qualität der Gläubigen?
Zum strategischen Umgang mit der Glaubenskrise gibt es unter Österreichs Klerikern und Laienvertretern zwei Denkschulen. Die eine hält am volkskirchlichen Konzept der „Kirche der vielen“ fest. Begründung: Nur in einer großen Gemeinschaft werde der katholische Glaube seine Relevanz behalten können. Die andere Denkschule setzt auf einen Reinigungsprozess, auf Qualität statt Quantität, auf eine „Kirche der wenigen“ oder auch: eine „Kirche der Entschiedenen“. Mitläufer, „Taufscheinchristen“, sind weniger erwünscht. Der Kärntner Bischof Marketz glaubt eher an die Volkskirche: „Gerade in Krisenzeiten sollten wir unserem Auftrag, das Evangelium allen Menschen bekannt zu machen, nicht momentanen Zweckmäßigkeiten opfern.“
Der Theologe – und spätere Papst Benedikt XVI. – Josef Ratzinger schrieb schon 1958, dass „die Kirche von Heiden, die sich noch Christen nennen“ mitbestimmt werde. Die Kirche werde aber „die Selbstabgrenzung zur kleinen Herde hin“ vollziehen. Vom Ratzinger-Schüler Kardinal Christoph Schönborn wird erzählt, er habe sich bisweilen damit abgefunden, dass der Katholizismus sich auf eine glaubensfeste Schar verenge. Allerdings zählt der Wiener Erzbischof auch zu jenen Spitzenklerikern, die versuchen, der Kirche mit neuen Bewegungen, den sogenannten Movimenti, neues Leben einzuhauchen. Dazu zählen etwa das Neokatechumenat und die Loretto-Gemeinschaft. Schönborn ist mittlerweile 79 Jahre alt. Nun verdichten sich die Hinweise, dass Papst Franziskus das Rücktrittsgesuch des Kardinals aus dem Jahr 2020 endlich annehmen werde. Dem Vernehmen nach laufen bereits die Vorbereitungen für einen großen Abschlussgottesdienst im Jänner 2025 im Wiener Stephansdom. In Bezug auf die Nachfolge soll bereits ein Vorschlag mit drei Namen zwischen der Apostolischen Nuntiatur in Wien und Rom kursieren.
Die unterschiedlichen Grade der Zugehörigkeit waren schon immer die Stärke des Katholischen.
Was alle Beteiligten – Klerus, Kirchenfunktionäre und Laienvertreter – von linkskatholisch bis fundamental-konservativ verbindet, ist der starke Glaube an das eigene Produkt: dass das Christentum zu Österreich gehört wie die Auferstehung zu Ostern. „Ohne die Kirche würde der Gesellschaft mit Sicherheit etwas fehlen. Man denke an all die sozialen Einrichtungen, die Ordensspitäler, die Bildungsinstitute, die konfessionellen Schulen und die Seelsorge“, sagt Gabriele Eder-Cakl.
Vor allem am Land trägt die Kirche auch das kulturelle Leben, in Kirchenchören, Theatergruppen oder Musikkapellen. „Ohne das Christentum würde auch ein Menschenbild und Wertekanon verloren gehen, der unsere Kultur über Jahrhunderte geprägt hat. Werte verschwinden ja nicht einfach, sondern sie werden ersetzt durch andere Idealvorstellungen vom Menschen. Heute prägt das Bild, dass Menschen gnadenlos perfekt sein müssen. Das Christentum hat dieses reduzierte Menschenbild überwunden“, sagt Susanne Kummer, Sprecherin des als streng konservativ geltenden Laienordens Opus Dei, dessen Mitglieder rigide nach christlichen Prinzipien leben. Die Rückbesinnung zieht. Das Opus Dei leidet nicht unter Nachwuchssorgen.
„Aus Studien wissen wir, dass es eine soziologische Tendenz gibt, dass der liberale Flügel in der Kirche still und leise verschwindet, während der konservative übrig bleibt“, sagt Regina Polak. Sie halte das für eine schlechte Entwicklung. Denn: „Die Kirche braucht die Spannung zwischen diesen Flügeln, weil nur dadurch etwas Neues entstehen kann. Das ist in einer Demokratie nicht anders als in einer Kirche. Ohne Konflikte wird es nicht gehen.“
Jung und religiös
Nur wenige sind wie Réka Ponner und Daniel Theuer. Die beiden sind 16 Jahre alt, glauben an Gott und gehören der Kirche an. Das wird sich in Zukunft auch nicht so schnell ändern, obwohl ihr Glaube regelmäßig belächelt, ungefragt kommentiert, oder sie selbst als seltsame Sonderlinge abgestempelt werden. Früher war das anders. Junge Menschen ministrierten, und die Firmvorbereitung war eine exklusive Clique außerhalb der Schule, wo Andersgläubige von vornherein ausgeschlossen wurden.
Heute ist das längst nicht mehr der Fall. Das bekommen auch Réka und Daniel zu spüren. Immer dann, wenn es wieder einmal um die ablehnende Haltung der Kirche gegenüber queeren Personen geht; wenn im Freundeskreis das überholte Frauenbild diskutiert wird; wenn jemand die Frage aufwirft, warum ausgerechnet ein alter weißer Mann das Kirchenoberhaupt sein muss; wenn es um die Missbrauchsskandale, Versäumnisse und fehlende Konsequenzen geht, um den Papst, das Zölibat und Sex.
Réka Ponner
Die 16-Jährige muss sich oft für ihren Glauben rechtfertigen. Trotzdem will sie nicht aus der Kirche austreten, sondern "von innen heraus" eine Veränderung bewirken.
Immer dann müssen sich Réka und Daniel rechtfertigen. „Ich fühle mich, als müsste ich für Dinge geradestehen, die ich nicht einmal zu verantworten habe“, sagt Réka. Die beiden 16-Jährigen aus Wien sind aufgeschlossen, lehnen Queerfeindlichkeit und veraltete Haltungen der Kirche ab. Dass eine Frau keine Priesterin sein darf, kann Daniel noch immer nicht verstehen: „Ich halte das für unbegründet und nicht zeitgemäß.“
Die Kirche kämpft jedenfalls um ihre Nachwuchschristen. Zur Maturazeit erhielten die Kandidaten nach einer Anmeldung Segenswünsche auf ihre Smartphones. Bei einer ökumenischen Feier im Stephansdom wurde eine Kletterwand für die Maturanten aufgestellt, um die Überwindung von Hindernissen zu symbolisieren.
Statistische Phänomene
Junge Gläubige sind ein Phänomen in der Statistik. Das zeigt eine Erhebung im Rahmen der Europäischen Wertestudie: „Wir haben überall Einbrüche bei religiösen Indikatoren gesehen, nur nicht bei den Jungen. Das hat uns irritiert“, sagt Religionssoziologin Regina Polak. Zu einem ähnlichen Ergebnis kommt eine Befragung der Katholische Kirche in der Steiermark, die vor wenigen Tagen veröffentlicht wurde. Diese zeigt, dass die jüngste befragte Altersgruppe der 16- bis 29-Jährigen suchender ist und der Kirche positiver gegenübersteht als die 30- bis 49-Jährigen. Das habe laut Polak mit multiplen Krisen zu tun: „Die traditionellen Ordnungssysteme sind durcheinandergeraten. Die Zukunft schaut momentan nicht so rosig aus. Dass man auf der Suche nach einem neuen Sinn im Leben ist, wo man Halt bekommt, ist naheliegend.“
Daniel Theuer
Der 16-Jährige bekennt sich zur Kirche, trotz deren Versäumnisse. Kritik äußert er zum Frauenbild der Kirche und kann nicht nachvollziehen, warum eine Frau nicht als Priesterin tätig sein darf.
Polak und ihre Kollegen der Uni Wien untersuchten auch den Zusammenhang zwischen Parteipräferenzen und Religion. Das überraschende Ergebnis: Nur noch 24 beziehungsweise 22 Prozent der Personen, die ÖVP oder FPÖ nahestehen, glauben an den christlichen Herrgott. 43 Prozent der ÖVP-Anhänger und 39 Prozent der Sympathisanten glauben an ein anderes höheres Wesen. „Wir bemerken seit Jahren eine enorme Politisierung des Christentums im Sinne einer nationalen Identität. Das wird hauptsächlich genutzt, um Migrantinnen und Migranten auszugrenzen“, sagt Polak. Dabei lebt die Kirche vom Zuzug. In Wien sind mehr als ein Drittel der Katholiken Migranten. Insgesamt gibt es bis zu 27 anderssprachige katholische Gemeinden. In deutschen Städten wie Hamburg ist mittlerweile die Mehrheit der Christen migrantisch, erklärt die Religionssoziologin.
Donauinsel der Seligen
Gegen wuchtige Entwicklungen einer säkularen Wohlstandsgesellschaft kann sich die Kirche nicht stemmen. Laut Europäischer Wertestudie gaben 1990 knapp 80 Prozent an, „ein religiöser Mensch“ zu sein. Heute ist es nur noch die Hälfte. „Wir stellen einen Abbruch der Religiosität fest, Österreich ist ein anderes Land als noch vor 30 Jahren. Das ist eine massive Herausforderung für die Kirchen, ihre Pastoral, ihre Organisation und Kommunikation“, sagt der Werteforscher Christian Friesl.
Da scheint es fast wie Beschwörung, wenn Bischof Marketz meint: „Wenn wir neben dem materiellen Vermögen Wohlstandsaspekte wie Zeit, soziales Beziehungsnetz, Solidarität, Lebenssinn berücksichtigen, hat die christliche Religion nach wie vor einen Platz in unserer Gesellschaft.“ Auch die Hoffnung mancher Laien, Reformen in der Kirche würden reichen, um die Relevanz des Glaubens wieder zu erhöhen, ist wohl Irrglaube.
Ausgerechnet während der Corona-Krise ab 2020 nahm die Religiosität – wie eine Sonderbefragung der Wertestudie zeigt – weiter ab, obwohl in Ausnahmezeiten das Bedürfnis nach Trost und spirituellem Beistand groß ist. Doch der Glaube verflüchtigt sich ohne Praxis. Die Kirchen waren offen, allerdings fanden keine Gottesdienste statt. Und das soziale Leben in den Jungschargruppen oder den Pfarrgemeinden kam zum Erliegen.
Als Gegenmaßnahme bleibt der Kirche ein altes Prinzip, das Papst Franziskus zu Beginn seines Pontifikats hervorhob: die Mission, also die Verbreitung des Evangeliums. „Als Kirche zeigen wir uns. Wir kennen keine Scheu“, sagt Pastoralinstitutsleiterin Eder-Cakl. Und keine Berührungsängste gegenüber nicht gerade katholischen Organisationen: Beim großen Donauinselfest der Wiener SPÖ vergangene Woche waren 40 Seelsorgerinnen und Seelsorger der Erzdiözese Wien im Einsatz, in einem eigenen Zelt und in mobilen Teams. Insgesamt führten sie 800 Gespräche mit Festbesuchern.
Ein Wochenende lang wurde das Festivalgelände so auch zur Donauinsel der Seligen.
Gernot Bauer
ist seit 1998 Innenpolitik-Redakteur im profil und Co-Autor der ersten unautorisierten Biografie von FPÖ-Obmann Herbert Kickl. Sein journalistisches Motto: Mitwissen statt Herrschaftswissen.
Daniela Breščaković
ist seit April 2024 Innenpolitik-Redakteurin bei profil. War davor bei der „Kleinen Zeitung“.