Wenn geschleppte Syrer zu Schleppern werden
„ 21 Fremde unter qualvollen Umständen geschleppt“, steht in der Anklageschrift. Im Saal 1 des Landesgerichts Eisenstadt wird an diesem 7. Juli gegen mutmaßliche Schlepper verhandelt. Es ist Routine, vor den beiden Richterinnen stehen Tag für Tag Menschenschmuggler. Allein in dieser Woche drehen sich am Landesgericht neun von 18 medienöffentlichen Verhandlungen um Schlepperei.
Das Wort „qualvoll“ erinnert an die Toten von Parndorf. Rückblick: Im August 2015 erstickten 71 Flüchtlinge in einem Lkw, abgestellt auf einem Pannenstreifen nahe der burgenländischen Gemeinde. Die Flüchtlingstragödie schockierte die Welt und markierte einen Wendepunkt. Die Grenzen gingen auf. Und bald wieder zu. Das Geschäft der Schlepper nahm erneut Fahrt auf.
EU-Hotspot Burgenland
Das Burgenland avancierte in den Folgejahren zu einem europäischen Hotspot der Schlepperbekämpfung. Denn die meisten Täter gehen der heimischen Polizei an der ungarisch-burgenländischen Grenze ins Netz. Sie landen in der Haftanstalt Eisenstadt und im Nachbartrakt vor den Richtern.
230 Schlepperverfahren im Jahr 2022 markierten am Landesgericht Eisenstadt den vorläufigen Höhepunkt. Auch heuer waren es bereits über 100. In der Justizanstalt, die für 175 Häftlinge ausgelegt ist, sitzen 207 Inhaftierte, davon sind 60 Prozent Schlepper.
Der Kampf gegen das internationale Schlepper-Business ist eine teure Angelegenheit. Während Ungarn in einem höchst unsolidarischen Akt dazu übergegangen ist, Schlepper aus Kostengründen einfach laufen zu lassen, werden sie im Burgenland zu mehrjährigen Haftstrafen verdonnert. Das soll abschreckend wirken. Aber tut es das wirklich?
Derzeit ist das Schlepper-Business von Syrern dominiert: 2022 waren 103 tatverdächtige Schlepper Syrer, gefolgt von 68 Türken, 53 Ukrainern, 52 Rumänen und 34 Österreichern.
Belastende Chats
„Ich bin schuldig und bitte Sie, mir eine Chance zu geben. Meine Mutter ist krank.“ In Saal 1 fleht ein 34-jähriger Syrer aus Damaskus um Gnade. Er flüchtete 2015 nach Deutschland und lebt seither dort. Sein Anwalt hat ihm zu einem reumütigen Geständnis geraten. Die Beweislast auf dem Handy ist zu erdrückend. Im Oktober hatte sich sein Komplize, ein 25-jähriger Syrer, eine Verfolgungsjagd mit der burgenländischen Polizei geliefert und war als Geisterfahrer auf die Autobahn A3 gerast. An Bord des Renault-Vans: 21 Flüchtlinge, die er aus Ungarn schleppte – großteils Syrer. „Sie lagen auf engstem Raum, teilweise übereinander, und bekamen schwer Luft“, verliest die Staatsanwältin die Anklageschrift. Der nun Angeklagte 34-Jährige lenkte das Begleitfahrzeug und soll dem Fahrer Anweisungen gegeben haben.
Der Fahrer wurde bereits zu 3,5 Jahren verurteilt und in die Justizanstalt Innsbruck überstellt, um das Gefängnis in Eisenstadt zu entlasten. Von dort ist er als Zeuge per Video zugeschaltet. Über den heute Angeklagten sagt er: „Er hat mein Leben zerstört.“ Als die Polizei ihn anhalten wollte, hätten er und andere Hintermänner ihn angewiesen: „Fahr weiter, fahr weiter, du schaffst es.“ Der Syrer auf der Anklagebank in Eisenstadt bestreitet diese Version. Er sei kein Hintermann, sondern bloß für eine Party nach Budapest gefahren. Erst dort habe sich die Gelegenheit zur Schlepperfahrt ergeben. Die Touristen-Version kommt oft.
Kleine Fische, große Fische
profil beobachtete die Schlepperprozesse über Wochen. Sie folgen meist derselben Dramaturgie. Die Angeklagten bekennen sich schuldig, weil die Beweise durch Handy-Chats oder Fotos von Grenzkameras erdrückend sind. Sie wollen aber nur das letzte Glied in der Kette gewesen sein, Fußsoldaten, die nichts über die eigentlichen Bosse wissen – was oft zutrifft. Es ist wie bei naiven Straßendealern im Drogenmilieu. Sie zu schnappen, ist leicht, den international agierenden Banden den Kopf abzuschlagen, extrem schwer.
Auch wenn sie zum Teil nur kleine Fische sind, setzt es saftige Strafen. Das Landesgericht ist das härteste Gericht in Österreich, vielleicht auch in Europa. Schlepper werden automatisch als Teil einer kriminellen Vereinigung angeklagt und zu unbedingten, meist mehrjährigen Haftstrafen verurteilt (siehe Interview). In Saal 1 nimmt die Richterin dem Syrer die Rolle des unwissenden Mitläufers nur sehr bedingt ab. Er fasst 2,5 Jahre Haft aus. Nicht rechtskräftig. Es gilt die Unschuldsvermutung.
Schulden und schnelles Geld
Bereits am Höhepunkt der Flüchtlingskrise 2015 waren Syrer im Schlepperbusiness aktiv. Der Unterschied: Jene, die sich heute vor Gericht verantworten, sprechen passables Deutsch, haben eine Wohnung, ein Auto, meist Arbeit. Oftmals aber auch Schulden. So wie der 34-jährige Angeklagte in Saal 1. Er zieht die Arabisch-Dolmetscherin in der Verhandlung nur zu- rate, wenn es juristisch heikel wird. In Deutschland ist er Busfahrer. Sein Verdienst: 2400 Euro netto. Schuldenstand: 10.000 Euro. Sein Komplize, der Geisterfahrer auf der A3, spricht noch besser Deutsch als er. Vor seiner Inhaftierung als Schlepper arbeitete er als Lackierer in einer Autowerkstatt.
Ihre Fußsoldaten in Geldnot rekrutieren die Schlepperbanden übers Internet. In einem weiteren Prozess in Saal 6 sitzt ein 26-jähriger Syrer aus Aleppo auf der Anklagebank, der vergangenes Jahr in Deutschland subsidiären Schutz erhielt. Er soll laut Handyauswertung 19 Schlepperfahrten unternommen und übers Internet weitere Fahrer angeworben haben. Laut der Richterin wirft er in einem TikTok-Video mit Geldscheinen um sich. „Über Social Media werden in ganz Europa Fahrer angeworben wie von einem Reisebüro“, schildert der Präsident des Landesgerichts Eisenstadt, Karl Mitterhöfer, die Anwerbemethoden. Er saß in Hunderten Schlepperprozessen.
Oft an seiner Seite: eine Arabisch-Dolmetscherin namens Issa. Sie ist Stammgast bei Schlepperprozessen in Eisenstadt. Die Zahl der arabischsprachigen Angeklagten wie Syrer, Iraker oder Nordafrikaner, die ihre Dienste benötigen, habe in den vergangenen Jahren deutlich zugenommen. Die meisten wären in Deutschland, aber auch Schweden oder Frankreich wohnhaft. Syrer aus Österreich sind ihr in den letzten beiden Jahren nicht untergekommen.
„Selbstverständlich machen auch Syrer mit, die in Österreich leben“, weiß Gerald Tatzgern aus langjähriger Erfahrung. Er ist seit 22 Jahren Leiter der Zentralstelle zur Bekämpfung der Schlepperkriminalität im Bundeskriminalamt. „Syrer sind wegen der Sprachkenntnisse und ihrer Netzwerke besonders gefragt. Die einen wollen sich etwas dazuverdienen, die anderen ihre Schulden bei den eigenen Schleppern abbezahlen“, sagt er zur Motivlage. „Dazu kommt der Druck in der Community, die eigenen Landsleute zu schleppen.“ Das Unrechtsbewusstsein ist ebenfalls beschränkt, wenn man selbst geschleppt wurde.
Neue Lücke im Asylsystem
Reine „Syrer“-Transporte sind längst die Ausnahme. Vergangenes Jahr tauchten plötzlich Tausende Inder auf den Schlepperrouten auf, die per Flugzeug nach Europa gekommen waren und das serbische Visa-System ausnutzten. Serbien änderte die Visa-Regel auf internationalen Druck. Eine neue Lücke tue sich aktuell in Rumänien auf, schildert Tatzgern. „Das Land hat die Zahl der Arbeitsvisa für Bangladescher oder Pakistani von 100.000 auf 120.000 aufgestockt. Manche ziehen illegal weiter in andere EU-Länder.“ Lücke auf, Lücke zu. An ein Ende des starken Migrationsdrucks glaubt Tatzgern nicht. Im Gegenteil.
In der Justizanstalt Eisenstadt sind die Zellen großteils mit ausländischen Schleppern belegt. Nach drei Monaten sollten diese in andere Haftanstalten überstellt werden, um Eisenstadt zu entlasten. „Die Aufteilung ist schwer, weil die Justizanstalten im Osten Österreichs voll sind“, sagt der Leiter der Justizanstalt Eisenstadt, Klaus Faymann. An der Kapazitätsgrenze ist seit Jahren auch die burgenländische Polizei. Von 1600 Beamten sind 350 im Einsatz gegen die Schlepperei, heißt es aus der Landespolizeidirektion.
Drohnen, die nach Ungarn schauen
Wie lange geht sich das personell und finanziell noch aus? Den ungarischen Weg, Schlepper laufen zu lassen, kann Österreich nicht gehen. Weil sonst noch mehr illegale Migranten ins Land geschleust werden. Österreich muss Druck auf Ungarn ausüben, Schlepper nicht durchzuwinken. Auch auf EU-Ebene. Tatzgern setzt auf noch intensivere Zusammenarbeit der Polizei auf den Schlepperrouten und beteuert, dass internationale Banden sehr wohl immer wieder zerschlagen würden. Auch die verschärften Kontrollen direkt an der Grenze dürften wirken. Die Polizei Burgenland schwört dabei unter anderem auf Drohnen, die verdächtige Menschengruppen oder Fahrzeuge bereits in Ungarn aufspüren und sich an Kennzeichen heften können. Die engmaschigen Kontrollen zwingen Täter zum Ausweichen auf andere Routen – aktuell über die Slowakei, Tschechien nach Deutschland. Oder die Schlepper versuchen, umso brutaler durchzukommen.
Mit Gewalt über Grenze
In den vergangenen Monaten kam es bei Polizeikontrollen bereits zu 40 „Durchbrüchen“ von Schlepper-Fahrzeugen. Die Hintermänner der Banden weisen die Fahrer an, aufs Gas zu steigen, und opfern sie dadurch. Denn die Flucht gelingt praktisch nie. Für die Banden ist der Job damit erledigt, weil die "Kunden" über der Grenze sind. Und sie sparen sich das Geld für die Schlepper. Versprochen werden in der Regel 4000 bis 5000 Euro. „Mir ist noch nie ein Mandant untergekommen, der tatsächlich Geld erhalten hat, etwa in Form eines Akontos“, sagt der Anwalt des 34-jährigen Syrers, Thomas Nirk. Es gebe dennoch zu viele, die sich weiterhin auf das Geschäft einlassen.
Manche Schlepper versuchen bei Kontrollen nicht mit Gewalt durchzukommen, sondern mit Schmäh. „Ich habe mich verfahren. Ich wollte in die Werkstatt nach Wien“, sagt ein Lenker eines rostigen Mercedes-Busses, der Mitte Juli gestoppt wird. Während der Einvernahme werden in der Nähe des Lagerhauses
30 Geschleppte entdeckt – meist Syrer. Sie identifizieren den Lenker der Rostlaube postwendend als ihren Schlepper. Und Landsmann. Der Syrer wohnt eigentlich in Ostdeutschland. Jetzt sitzt er Eisenstadt und wird bald den Richtern vorgeführt.