Lebenslange Haft: Wer ist der Bierwirt?
Dieser Artikel erschien erstmals im profil Nr. 26 / 2021 vom 27.06.2021
Am Abend des 28. April 2021, einem Mittwoch, herrscht im Winarskyhof, einer Wohnanlage aus den 1920er-Jahren in Wien-Brigittenau, lebhaftes Treiben. Der Sommer naht; Kinder tollen auf dem Spielplatz, der inmitten des Hofs liegt. Plötzlich läuft eine Bewohnerin schreiend aus einem Trakt des Gemeindebaus, etwa zeitgleich, um 19.56 Uhr, geht ein Notruf an der Polizeileitstelle ein, wenige Minuten später ein zweiter. "Es wurde geschossen."
Man hört Polizeisirenen, die Rettung. Viele lehnen am Fenster, beobachten, wie schwerbewaffnete Polizisten der Sondereinheit WEGA an den Hausmauern entlang pirschen. Die Lage ist unklar. In der Mitte des Hofs, auf einer Bank am Rande des Spielplatzes, sitzt ein sturzbetrunkener Mann und grölt. Er zieht sich sein T-Shirt über den Kopf, schwankt vor und zurück, fällt schließlich bäuchlings von der Bank und bleibt liegen. Eine Wodkaflasche kullert, eine Pistole liegt ein paar Meter entfernt im Rasen. Ein junger Mann war auf den Betrunkenen zugestürzt und hatte ihm die Waffe geistesgegenwärtig aus der Hand geschlagen.
Eine schwerverletzte Frau wird auf einer Rettungstrage aus ihrer Wohnung im Erdgeschoss in ein Rettungsfahrzeug transportiert: Marija M.,eine 35 Jahre alte Krankenschwester und Mutter von zwei Kindern. Wenige Stunden später stirbt sie im Allgemeinen Krankenhaus.
Der Betrunkene wird als Tatverdächtiger festgenommen. Es handelt sich um Albert L., den Lebensgefährten des Opfers. Er soll die Schüsse auf Marija abgegeben haben. Für ihn gilt die Unschuldsvermutung.
In der Wohnung halten sich zum Tatzeitpunkt auch noch andere Personen auf: die gemeinsamen Kinder des Paares, die Tochter der Nachbarin, ein Nachbar. Marija ist gerade dabei, die Wäsche aufzuhängen, als ihr Lebensgefährte in die Wohnung kommt. Er soll den Nachbarn gefragt haben, warum er bei Marija sei. Dann habe er einen Schuss auf ihr Bein abgegeben. Sie stürzt getroffen zu Boden. Der mutmaßliche Täter habe den Nachbarn aufgefordert, die Wohnung zu verlassen und die Kinder mitzunehmen. Dann ein zweiter Schuss, der Marija am Kopf trifft.
Nachdem der Nachbar mit den Kindern in seine eigene Wohnung geflüchtet ist, läutet der mutmaßliche Täter Sturm und verlangt nach Alkohol. Der Nachbar stellt eine volle Flasche auf das Fensterbrett im Erdgeschoß. Der Betrunkene nimmt sie, geht in den Hof und setzt sich auf eine Bank.
Die schreckliche Nachricht macht im Gemeindebau schnell die Runde: Marija M. sei von ihrem Mann erschossen worden. Weil dieser vor nicht allzu langer Zeit zweifelhafte Berühmtheit erlangt hat, weiß es bald das ganze Land: Der Mordverdächtige ist derselbe, der im Jahr 2018 die Politikerin Sigrid Maurer geklagt hat. Sie hatte öffentlich gemacht, von seinem Facebook-Account obszöne Nachrichten erhalten zu haben, woraufhin er auf Entschädigung wegen Geschäftseinbußen klagte. Zu diesem Zeitpunkt führte er ein Bierlokal in der Strozzigasse im 8. Wiener Gemeindebezirk, und so nannten ihn die Medien den "Bierwirt".
Die Gerichtshändel des Bierwirts hatten sich über drei Jahre gezogen. Einmal wurde Maurer schuldig gesprochen, weil sie nicht nachweisen konnte, dass tatsächlich der Bierwirt die Chat-Nachrichten geschrieben hatte. Das Urteil wurde revidiert. Am Ende gab der Bierwirt auf und zog die Klage zurück. Maurer wurde freigesprochen.
Albert L., genannt "Ali" oder eben "der Bierwirt", galt schon damals als Paradebeispiel für toxische Männlichkeit. Vor Gericht sagte Maurer: "Ich wollte mir das nicht gefallen lassen, und da ich dort jeden Tag mehrmals vorbeigehen muss, habe ich beschlossen, ich mache das öffentlich, damit man sieht, wie der Herr L. so drauf ist, und auch damit er merkt, dass das nicht konsequenzenlos bleibt. Weil, er soll nicht glauben, er kann so etwas machen, und die betroffene Frau schweigt sich zu Tode."
Jetzt beschäftigen sich Justiz und Öffentlichkeit erneut mit dem Bierwirt, diesmal in einem unvergleichlich drastischeren Kontext. Was weiß man über diesen Mann, der als mutmaßlicher Mörder seiner Lebensgefährtin in der Justizanstalt Josefstadt auf die Anklage wartet?
Kaum jemand kennt Ali, den Bierwirt, so gut wie Christian Wagner. Der Gastronom, der gemeinsam mit seiner Lebensgefährtin einen Getränkehandel betreibt, sitzt in der Küche des Hauses seiner Mutter in Wien-Donaustadt und erinnert sich: 24 Jahre ist es her, als er Ali L. kennenlernte. Christian Wagner war damals 16 Jahre alt und vertrieb sich die Zeit im Donauzentrum, einem Shoppingcenter im 22. Wiener Gemeindebezirk. Er hätte gern etwas getrunken, doch er hatte kein Geld. Er stand herum und kam mit einem anderen Teenager ins Gespräch. Der war drei Jahre älter, hatte Geld und zahlte. Es war der Beginn einer Freundschaft, die mit Höhen und Tiefen bis heute andauert.
Christian war von Ali beeindruckt. Ali sei der Wildere, Abgebrühtere der beiden gewesen, er kam auch nicht wie Christian aus einem behüteten Elternhaus. Mit seinem älteren Bruder war Ali in einem Kinderheim der Stadt Wien im niederösterreichischen Biedermannsdorf aufgewachsen. Die beiden jüngeren Geschwister, ein Bruder und eine Schwester, waren hingegen bei den Eltern geblieben. In "Biedermannsdorf", so stellte sich später bei Recherchen in der Wiener Heimkommission heraus, wurden bis in die 1990er-Jahre hinein Kollektivstrafen, Drill und ein Kapo-System gepflogen, in dem der Schwächere unterlag.
Von seinem Vater, der früh verstorben sein soll, habe Ali geschwärmt; zur Mutter habe er ein gutes Verhältnis. Im Heim seien Ali und sein Bruder unter den Zöglingen die Anführer gewesen. Mehr gab Ali von seiner Kindheit und frühen Jugend auch Freunden gegenüber nicht preis.
Ali und Christian verbrachten fortan viel Zeit miteinander, phasenweise sahen sie sich täglich, gingen in Gasthäuser, hingen im Donauzentrum ab. Brav seien sie damals beide nicht gewesen, sagt Wagner. Sie begingen kleinere Delikte. Einmal fuhren sie mit Alis Auto aus dem Parkhaus des Donauzentrums und hatten keine Lust, die Parkgebühr zu zahlen. "Also haben wir den Schranken planiert",sagt Wagner. Das machten sie noch einmal, wurden ausgeforscht und fassten eine Verurteilung wegen Sachbeschädigung aus. "Jugendsünden", zuckt Wagner mit den Schultern. Sie hätten nichts gestohlen, nichts Weltbewegendes angestellt, bloß "kleine Gaunereien".
Ali habe "Ticks und Pascher" gehabt, beschreibt Christian seinen Freund. Aber er habe auch "viel im Hirn". Er habe immer gute Geschäfte gemacht und deshalb Bargeld gehabt. In der Clique verschaffte ihm das die Stellung des Alphatiers. Die anderen gingen einer mühseligen Arbeit nach, Ali machte schnelles Geld und konnte sich ein Auto leisten, zwischenzeitlich sogar einen Land Rover.
Mal handelte er mit Handys, mal mit Hundefutter. Alles, was er billig kriegen und teurer weiterverkaufen konnte, war ihm recht. Oft agierte er an der Grenze der Legalität, gelegentlich übertrat er sie. So vermittelte er Scheinehen. Solche Ehen, die dazu dienen, sich einen Aufenthaltstitel zu erschleichen, sind gesetzeswidrig. Eine Zeit lang ging das gut, dann flog er auf und wurde wegen Verstoßes gegen das Fremdengesetz verurteilt.
Einer von Alis Bekannten erzählt, Ali sei auch im Rotlichtmilieu tätig gewesen. Das ist jedoch nicht belegt. Aktenkundig sind Verurteilungen wegen gefährlicher Drohung, Körperverletzung und Verstoßes gegen das Waffengesetz. Ali kam regelmäßig mit dem Gesetz in Konflikt, doch musste er nie ins Gefängnis, fand immer wieder neue Jobs, und seine Freunde hielten zu ihm.
Diese Freunde, so ein Bewohner des Winarskyhofs, der mit Marija oft über Gott und spirituelle Dinge redete, hätten ihn schlecht beeinflusst. Das habe jedenfalls Marija geglaubt oder sich die Dinge auch nur schöngeredet, sagt er.
Im Freundeskreis des Bierwirts kannte man Alis derbe Art, Frauen anzumachen. Auf unverschämte Weise direkt sei er immer gewesen. Manche Frauen fanden das widerlich, doch immer wieder klappte seine Masche.
Ali sei kein einfacher Mensch, ein Freund beschreibt ihn als "extrem misstrauisch".Wenn sie zu dritt unterwegs gewesen seien und die beiden anderen sich kurz einmal ohne Ali unterhielten, habe er sofort zu fragen begonnen: "Was redet ihr schon wieder über mich?"
Vor allem Frauen habe er nie vertraut. Schnell habe er sie verdächtigt, ihn zu betrügen. Gleichzeitig wollte er seine Eifersucht nicht zugeben. Einer, der ihn gut kannte, sagt, Ali habe Frauen seinen Freunden gegenüber runtergemacht, als würden sie ihm nichts bedeuten. Doch wenn er mit seiner jeweiligen Freundin telefonierte, stellte er immer bohrende Fragen: "Wo bist? Bist du bei jemand anderem?"
Hatte Ali das Gefühl, er könnte betrogen werden, sei er auf eine ganz eigene Art böse geworden, sagt der Freund. Da habe es "Klick" gemacht, und man habe richtig Angst vor ihm kriegen können.
Ali L. und Marija M. lernten einander um das Jahr 2006 kennen. Sie war eine enge Freundin von Alis Schwester Martina, die beiden Frauen waren zusa mmen zur Schule gegangen. Alis Freunde wussten anfangs nichts von der Liebschaft, er verhielt sich auf überraschende Weise diskret.
Marija war ausgebildete Kinderkrankenschwester, erst in der Wiener Rudolfstiftung, später im Krankenhaus Nord. Im Restaurant Luftburg im Wiener Prater wurde sie gebucht, um zu erklären, wie man ein Baby richtig einölt und massiert. Wer Marija kannte, hatte sie gern, sagen ihre Nachbarinnen und ihre Kolleginnen im Krankenhaus, die ein Spendenkonto für die Kinder von Marija eingerichtet (Konto-NummerBAWAG Iban: AT101400004110021807 Kennwort Marija) haben.
Christian Wagner sagt, er habe Ali und Marija als "Musterpärchen" erlebt: "So hatte ich ihn vorher gar nicht gekannt." Der raue, aufbrausende Kerl habe sich in der Beziehung mit der Krankenschwester lange Zeit vorbildlich benommen. Wenn Wagner bei den beiden eingeladen war, habe es Kaffee und Brezeln gegeben, der Tisch sei gedeckt gewesen, und Ali habe sich als "sauber, fast krankhaft ordentlich" erwiesen.
2008 kam das erste gemeinsame Kind zur Welt, ein Mädchen.
Marijas Bruder Darko M. kann den Eindruck von einer glücklichen Beziehung zwischen Ali und Marija nicht bestätigen, im Gegenteil. Das Verhältnis zwischen den beiden sei von Beginn an "nicht wirklich gut und nicht wirklich schlecht" gewesen. Er hatte das Gefühl, sie hätten ihm oft bloß vorgespielt, dass alles in Ordnung sei. Marija habe an der Beziehung zu Ali festhalten wollen und deshalb vor ihren Eltern und Geschwistern verheimlicht, wie es um die beiden wirklich gestanden sei. Er selbst habe zu Ali nie ein freundschaftliches Verhältnis gehabt, er sei seinem Schwager aus dem Weg gegangen.
Bei einem gemeinsamen Sommerurlaub in Kroatien habe Marija ihn gebeten, die Reisepässe zu verstecken, und sie bat ihn auch, Ali nicht zu beachten, wenn er betrunken sei.
Mehrere Bekannte des Paars sagen, dass es immer wieder zu kurzen, heftigen Streits gekommen sei. Ali habe dann regelmäßig die gemeinsame Wohnung für ein paar Tage verlassen und sei in seine frühere, kleine Zweitwohnung übersiedelt, die im selben Bezirk liegt. Manchmal habe ihn Marija rausgeschmissen. Sie habe versucht, von ihrem Mann wegzukommen, sagt Darko M.
Christian Wagner, der selbst Vater ist, beschreibt seinen Freund Ali als "irrsinnig lieben Papa".Auf seinem Mobiltelefon hat er Fotos von gemeinsamen Ausflügen gespeichert. Bei einem waren die beiden Familien in den Blumengärten von Hirschstetten im Bezirk Donaustadt. Auf mehreren Aufnahmen ist Ali mit den Kindern zu sehen. Er schiebt den Kinderwagen des kleinen Sohnes, der jetzt drei Jahre alt ist.
Darko M., Marijas Bruder, hingegen erinnert sich, dass sich Ali bloß "notdürftig" um seine Kinder gekümmert habe. Habe seine Schwester in die Arbeit gehen müssen, sei er absichtlich zehn Minuten zu spät gekommen, um sie zu ärgern.
Eine Bewohnerin des Winarskyhofs berichtet, dass der Bierwirt sich oft um die Kinder gekümmert habe. Er sei auf der Bank beim Spielplatz gesessen, habe auf seinem Handy herumgetippt und die Kinder aus den Augenwinkeln beaufsichtigt. Das sei durchaus unüblich, im Winarskyhof sähe man auf dem Spielplatz sonst fast nur Frauen bei den Kindern.
Ein Bewohner des Gemeindebaus erzählt, er habe den Bierwirt mehrmals mit einem Freund, offenbar ein "best buddy", betrunken herumlungern sehen. Einmal habe der Bierwirt die spielenden Kinder im Hof angestänkert, habe mit deren Eltern geschrien und sich wie ein richtiger "Ungustl" benommen
Auffällig ist, dass Ali im Jahr 2009 seine für lange Zeit letzte Strafe ausfasste. Zehn Jahre lang kam er nicht mit dem Gesetz in Konflikt, erst durch die Auseinandersetzung mit Sigrid Maurer stand er wieder vor Gericht, allerdings als Kläger. Außerdem ging der gelernte Elektroinstallateur einem ordentlichen Beruf nach und arbeitete als Fahrer für ein Unternehmen, das Lieferdienste ausführte.
Irgendwann begannen Ali und Marija mit dem Glücksspiel, wobei Ali nach Aussagen von Freunden damit anfing und Marija erst später mitmachte. Die beiden sollen dabei viel Geld verloren haben, was immer wieder zu Streit führte.
Die gemeinsamen Kinder ließen Marija an Ali festhalten, sagen Nahestehende. Sie habe sich rührend um ihren Mann gekümmert, bestätigen auch seine Freunde. Seine Gesundheit war vom Alkoholkonsum angeschlagen, und Marija sorgte dank ihrer Ausbildung als Krankenschwester für ihn.
2017 begann Alis Karriere als "Bierwirt".Ursprünglich hatte das Geschäft Christian Wagner gehört, der Ali fragte, ob er einsteigen wolle. Ali war sofort dabei, Marija half mit, erinnert sich Wagner. Weil Ali aufgrund seiner Vorstrafen keinen Gewerbeschein bekommen hätte, schrieb Marija für ihn den Antrag. In der Zwischenzeit führte Michael L. das Geschäft. Bald kam es zwischen Christian und Ali zum Streit, wie das kleine Unternehmen zu führen sei, Christian stieg aus und übernahm nur noch die Webadministration für das Bierlokal. Die langjährige Freundschaft war fast am Ende.
Ali führte das Lokal allein weiter und kam mehr schlecht als recht über die Runden. Dann kam die Episode, die ihn in die Medien brachte.
Am 28. Mai 2018 machte Sigrid Maurer die widerlichen Worte, mit denen sie attackiert worden war, öffentlich bekannt und auch den Absender. Sie stammten vom Facebook-Account des Bierwirtes.
Marija M. sagte im ersten Prozess für ihren Lebensgefährten aus. Sie beklagte, dass durch diese Affäre ihr Familienleben und ihr wirtschaftliches Leben ruiniert würden. Sie könnten sich nichts mehr leisten, "nicht einmal mehr Familienausflüge machen". Ihr Lebensgefährte werde "ständig beschimpft, bedroht. Leute stoßen ihn."Was man ihm vorwerfe, sei falsch: "Er würde nie etwas machen, was unser ganzes Leben ruiniert. Das Geschäft ist im Aufbau."
Als Marija diese Aussage machte, war sie vermutlich schon mit dem zweiten Kind schwanger. Der Bub ist heute drei Jahre alt.
Eines weiteren Auftritts vor Gericht entschlug sich Marija M. mit Verweis auf Arbeit im Bierladen.
Rund um das Verfahren offenbarte Ali, der Bierwirt, auch öffentlich seinen Hang zu Provokation und Derbheit. Er trat vor Gericht großmäulig und patzig auf, in weißer Hose und weißem Hemd, einmal auch in weißen Shorts mit Flipflops. Der Brief an den Richter, mit dem der Bierwirt seine Klage gegen Maurer zurückzog, war schließlich in so vulgären, drohenden Worten formuliert, dass er nicht verlesen wurde. Der Bierwirt musste die Verfahrenskosten übernehmen.
Albert "Ali" L. hatte die Kontrolle über sich und sein Leben verloren. Seine Freunde wandten sich von ihm ab, weil seine Ausfälle immer heftiger wurden, wenn er getrunken hatte, und all das belastete wohl auch die Beziehung zwischen ihm und Marija.
Er fühlte sich ungerecht behandelt, von Medien und Justiz verfolgt. Wenige Tage nach den Schüssen im Winarskyhof wäre Albert L. ein weiteres Mal vor dem Richter gestanden. Er hatte im September 2020, als für ihn alles schon ziemlich schieflief, einen 63jährigen Passanten vor seinem Lokal angeherrscht, er solle sofort verschwinden, und dabei mit einem Elektroschocker hantiert. Das führte zu einer Anklage. Ihm nahestehende Menschen erzählen, er sei in eine Art Verfolgungswahn verfallen, habe behauptet, sein Geschäft werde beschmiert, er selbst werde attackiert. Der Bierwirt ließ eine Videokamera vor seinem Laden anbringen und stellte die Aufnahmen ins Netz, unter anderem ein Video mit dem Titel "Da ist der Dieb".
Der Bierwirt soll einen Kampfsportler als Bodyguard engagiert haben, um im Lokal für Sicherheit zu sorgen. Es ist denkbar-aber nicht belegt-,dass er sich in diesem Zeitraum den Revolver besorgt hat, den er am Tatort bei sich hatte. Die Polizei fand bei der Durchsuchung seiner Wohnung Dutzende Patronen des Kalibers 9 mm, aber keine weitere Waffe.
Ein Mitarbeiter von Wiener Wohnen, sagt, etwa eine Woche vor der grausigen Tat habe ihm Marija M. erzählt, dass Ali mit einem Freund, beide volltrunken, um drei Uhr morgens bei ihr aufgetaucht sei. Sie habe ihn hinausgeworfen.
Ein Freund vermutet, dass eine endgültige Trennung von Marija ihm wohl den Rest gegeben hat, nachdem er bereits gesundheitlich angeschlagen und finanziell in Schwierigkeiten war.
So weit bekannt, haben sich weder Marija noch ihre Angehörigen je an Behörden oder Beratungsstellen um Hilfe gewandt. Astrid Wagner, die Rechtsanwältin von Marijas Hinterbliebenen (die Namensgleichheit mit Christian Wagner, Alis Freund, ist Zufall),meint, dass es einen niederschwelligeren Zugang für eine erste Beratung bei Fällen von familiärer Gewalt brauche. Betroffene hätten oft Angst davor, eine Eskalation loszutreten, wenn sie die Polizei einschalteten. Vor allem die Sorge, dass staatliche Stellen einen möglichen Gewalttäter von der Familie absondern und ihm die Kinder entziehen, halte dessen Angehörige davon ab, Meldung zu erstatten, so Anwältin Wagner.
Im Winarskyhof sei gemutmaßt worden, dass bei dem Paar Gewalt im Spiel sei, doch niemand hatte etwas konkret gesehen oder gehört. Nach außen hin war davon nichts zu spüren, sagte eine Nachbarin. Drinnen und draußen, zwei Welten. Marijas Bruder Darko sagte in einem Interview mit "Krone TV": "Meiner Meinung nach sind die Nachbarn die Ersten, die etwas mitbekommen. Wir wussten, es passt nicht, aber wir haben nicht gedacht, dass es so schlimm ist."
Eine nahe Angehörige und Vertraute Marijas sagt, es gäbe in diesem Fall keine offenen Fragen. Es ging in eine Richtung. Marija habe das nicht glauben wollen.
Eine Woche vor der Tat kam es zu einem Vorfall zwischen Ali und der Familie seiner Lebensgefährtin Marija. Ali soll dabei seinen Schwiegervater bedroht und einen Schuss abgegeben haben, der den älteren Mann knapp verfehlte. Er habe außerdem gedroht, die gesamte Familie umzubringen. Marijas Vater erstattete keine Anzeige, weil er sich vor Ali fürchtete.
Am Tag, als Marija sterben musste, erhielt Christian Wagner überraschenden Besuch. Es war sein Geburtstag, und er verbrachte ihn im Garten des Hauses seiner Mutter. Plötzlich, gegen zehn Uhr Vormittag, tauchte Ali in Begleitung eines Freundes auf. Christian und Ali hatten einander nach ihrem Streit längere Zeit nicht gesehen. Ali tat überrascht, dass Christian seinen Geburtstag feierte. Er hatte kein Geschenk mitgebracht. Die Freunde tranken erst Bier, dann Schnaps. Ali sei "chillig, locker", gewesen, erinnert sich Wagner. Er habe Ali sogar gefragt, wie es ihm mit Marija ginge, und der habe geantwortet: "Alles okay, einmal so, einmal so."
Gegen zwölf Uhr Mittag verabschiedeten sich Ali und sein Begleiter wieder. Dieser Freund erzählte Wagner später, dass Ali sich unterwegs bei einem Supermarkt eine Flasche Rum gekauft und ausgetrunken habe. Ungefähr um 14 Uhr bekam Wagner noch WhatsApp-Nachrichten von Ali. Ein belangloser Chat.
Wenige Stunden später fielen im Winarskyhof zwei Schüsse.