Der Verfolgte: Wer ist der Täter von Stiwoll?
In jenem Moment, in dem sich die kleine Gemeinde Stiwoll im Westen der Steiermark für immer verändert hat, stimmte Pater Stephan in der Kirche am Dorfplatz gerade zum "Vater Unser" an. Im Gasthaus nebenan standen wie gewöhnlich schon Kaffeetassen und Rotweingläser für die Kirchgänger bereit und Alfred Zwanzger fiel wie so oft und zu seinem Bedauern beim sonntäglichen Wirtshaustratsch aus, weil er stattdessen im Fabriksgebäude des nahegelegenen Wasserkraftwerks seinen Dienst zu verrichten hatte. Der 57-jährige Zwanzger war einer der wenigen Stiwoller, der die Schreckensnachricht aus dem Radio hörte. Doch schon bevor sein Handy zu klingeln begann, machte sich eine Vermutung in ihm breit: "Wenn in Stiwoll das Unglaubliche passiert, dann muss es mit dem Fritz zu tun haben." Später wird sich herausstellen: Diesen Gedanken teilten viele Menschen in jenen Minuten nach Bekanntwerden der Tat – weit über die Grenzen der 700-Einwohner-Gemeinde hinaus.
Wenn in Stiwoll das Unglaubliche passiert, dann muss es mit dem Fritz zu tun haben
Am 29. Oktober, um 9:15 Uhr, soll sich der Pensionist Friedrich F., 66 Jahre alt, im Obergeschoss seines Hauses in Stiwoll verschanzt und mit einem Kleinkalibergewehr auf seine Nachbarn geschossen haben. Laut dem vorläufigen Obduktionsergebnis wurde Adelheid H. (55) drei Mal getroffen, ihr Ehemann Gerhard E. (64) zwei Mal. Beide waren sofort tot. Martina Z. (68) erwischte ein Projektil am linken Oberarm. Sie überlebte schwer verletzt. Als die Polizei in Stiwoll eintraf, war F. längst verschwunden. Er flüchtete mit seinem weißen VW-Kastenwagen, der einen Tag später in einem nahegelegenen Waldstück gefunden wurde. Von F. fehlt bis jetzt jede Spur. Im gesamten Schengenraum wird inzwischen nach dem mutmaßlichen Doppelmörder gefahndet.
In den Tagen nach den tragischen Ereignissen zieht sich eine unheimliche Stille durch Stiwoll, die nur hin und wieder durch das laute Dröhnen der Hubschrauberpropeller durchschnitten wird. Dutzende Polizeiautos flankierten die Ortseinfahrt, gepanzerte Fahrzeuge rollen die schmalen Straßen entlang. Schulen und Kindergärten sind geschlossen. Hinter den versperrten Türen aber geistert eine Frage durch den Ort: Wie konnte es so weit kommen?
Wir wussten, dass die Situation einmal eskalieren wird
"Wir wussten, dass die Situation einmal eskalieren wird", sagt Alfred Zwanzger und schüttelt den Kopf. "Aber damit hat niemand gerechnet." Zwanzger hat sich nach dem Gottesdienst zu Allerheiligen mit ein paar Dorfbewohnern für einen Umtrunk ins Gasthaus gegenüber der Kirche gesetzt. Er ist einer der wenigen Stiwoller, den Friedrich F. als einen Freund bezeichnete.
Friedrich F., verheiratet, Vater von drei inzwischen erwachsenen Töchtern, ist in Stiwoll geboren und aufgewachsen. Er arbeitete viele Jahre lang in einer Papierfabrik im nahegelegenen Gratkorn, später machte er sich als Imker selbstständig. Nebenbei führte F. eine kleine Landwirtschaft, die er Mitte der 1970er-Jahre von seinen Eltern übernommen hatte. Die Dorfbewohner kauften zwar immer wieder ein Glas Honig bei F., in die Gemeinschaft war er aber schon lange nicht mehr integriert. Bis vor einigen Jahre engagierte sich F. in der Pfarrkirche, doch nachdem er eine Intrige des Paters und der Gemeinde gegen ihn vermutete, trat er nicht nur aus dem Pfarrgemeinderat, sondern gleich aus der katholischen Kirche aus. Im Dorf war er als Querulant bekannt, immer wieder habe er Streit angezettelt. Auch das Motiv für den mutmaßlichen Doppelmord soll, nach derzeitigem Ermittlungsstand , ein jahrelanger Disput zwischen den Nachbarn um eine Wegerecht sein. F. habe nicht gewollt, dass die Anrainer die Zufahrtsstraße vor seinem Haus, die teilweise ihm gehört, befahren. Doch kann ein Streit um einen Weg einen Mann zum Mörder machen?
Der Fritz ist ein hilfsbereiter und fleißiger Mensch, aber sobald ihm jemand Vorschriften machte, war es vorbei
Wer in das Leben von F. eintaucht, seine veröffentlichten Schriften durchkämmt, mit Nachbarn und Arbeitskollegen spricht, der wird sich wiederfinden in einer Welt voller Verschwörungstheorien, die in zwei Gruppen geteilt ist: in wenige Verbündete und viele Gegner. "Der Fritz ist ein hilfsbereiter und fleißiger Mensch, aber sobald ihm jemand Vorschriften machte, war es vorbei", sagt ein Stiwoller, der zwei Häuser weiter von F. wohnt. "Er hat sich permanent verfolgt und ungerecht behandelt gefühlt." Schon immer habe er Probleme mit Autoritäten gehabt. Und sein größtes Feindbild – das veranschaulichen auch seine Blogbeiträge, die er ab 2012 regelmäßig im Internet veröffentlichte -war der österreichische Rechtsstaat.
Schon in den 1980er-Jahren hielt F. Hungerstreiks vor Gerichtsgebäuden und Behörden in der Umgebung ab. Warum genau, weiß hier heute niemand mehr. "Wahrscheinlich weiß es nicht mal der Fritz selbst", sagt Alfred Zwanzger. Seit Jahrzehnten befindet sich Friedrich F. im Dauerprotest gegen das Justizsystem und politische Parteien.
Per Postwurfsendung verteilte F. regelmäßig Flugblätter im gesamten Bezirk, in denen er über Justizbedienstete, Politiker, Firmen und Dorfbewohner wetterte. Sie alle stehen jetzt auf einer Gefährdungsliste der Kriminalpolizei und werden verstärkt von Einsatzkräften geschützt. "Das Problem ist, dass Herr F. anscheinend mit Gott und der Welt zerstritten ist", sagt Polizeisprecher Jürgen Haas. Friedrich F. war in unzählige Gerichtsverfahren verwickelt, überflutete Behörden mit Anzeigen, warf ihnen Korruption und Amtsmissbrauch vor. Im Straflandesgericht und im Oberlandesgericht in Graz wurde ein Hausverbot gegen F. verhängt, nachdem er Richter und Staatsanwälte bedroht hatte.
Für Herrn F. war die Welt schneeweiß und tiefschwarz. Schattierungen gab es nicht
Als im Jahr 2012 die Einwohner im nahegelegenen Frohnleiten gegen die Schließung des örtlichen Bezirksgerichts protestierten, lehnte sich F. als Einziger gegen die Demonstranten auf. Vor dem Eingang der Behörde platzierte er einen Pappkarton mit der Aufschrift "SPÖ-Justiz-Terror! BZG Frohnleiten sofort schließen." Zwei Jahre zuvor, im Oktober 2010, schaffte es der 66-Jährige in die "Kronen Zeitung", weil er sich zuerst weigerte, seinen Kühen eine gesetzlich verordnete Impfung zu verabreichen, und danach, die Strafe dafür zu bezahlen. Im Wochentakt standen Polizeibeamte und Gerichtsvollzieher vor Friedrich F.s Eingangstür. "Und uns hat er dann als Unmenschen beschimpft", erzählt Burkhard Thierrichter, der seit 20 Jahren Bezirkshauptmann von Graz-Umgebung ist und fast genauso lange mit Friedrich F. zu tun hat. "Für Herrn F. war die Welt schneeweiß und tiefschwarz. Schattierungen gab es nicht", sagt er. Thierrichter habe ihm zugetraut, dass er einmal etwas "wirklich Dummes" macht. "Aber im Nachhinein ist man immer gescheiter."
Hinweise, dass von Friedich F. eine reale Gefahr ausgeht, gab es in den vergangenen Jahren viele. Hätten Behörden schon früher handeln müssen?
Allein seit 2012 waren fünf Verfahren gegen F. bei der Staatsanwaltschaft Leoben anhängig, unter anderem wegen übler Nachrede und gefährlicher Drohung. Sie alle wurden eingestellt, weil F. für unzurechnunsfähig erklärt wurde. Im Juni 2016 sorgte er für das bis dahin größte öffentliche Aufsehen, weil er mit seinem VW-Bus mit der Aufschrift "Heil Hitler" durch die Steiermark fuhr. Doch auch das Ermittlungsverfahren wegen Verstößen gegen das Verbotsgesetz wurde eingestellt, weil man F. keinen Wiederbetätigungsvorsatz nachweisen konnte. "Nach dem Verbotsgesetz ist strafbar, wer sich im nationalsozialistischen Sinne propagandistisch betätigt", sagt der Grazer Oberstaatsanwalt Kloibhofer gegenüber profil. "Friedrich F. hat aber mit seinen Aktionen die Justiz mit dem Nationalsozialismus gleichgesetzt und beides kritisiert. Somit war er gerichtlich nicht strafbar."
Dass Friedrich F. ein Neonazi ist, bestreiten auch die Dorfbewohner. "Der Fritz wollte einfach mit allen Mitteln Aufmerksamkeit erregen", lautet der Tenor in Stiwoll. Auf F.s Facebook-Freundesliste fanden sich zwar kurz nach der Tat neben zahlreichen FPÖ-Funktionäre auch AfD-Politiker und Anhänger der Identitären Bewegung, seine Schriften selbst lassen jedoch nicht auf einen ideologisch gefestigten rechtsextremen Verfasser schließen.
Im Oktober 2016 spitzte sich die Situation zu: Friedrich F. drohte, sich vor dem Oberlandesgericht in Graz in die Luft zu sprengen. Die Staatsanwaltschaft Leoben leitete ein Ermittlungsverfahren ein und bestellte erneut einen psychiatrischen Gutachter. Er sollte nicht nur prüfen, ob F. zurechnungsfähig ist, sondern auch, ob eine Gefahr von ihm ausgeht. "Das Gutachten hat ergeben, dass er zwar eine schwere paranoide Persönlichkeitsstörung hat und unzurechnungsfähig ist, eine Gefährlichkeit aber nicht gegeben ist", heißt es von der Staatsanwaltschaft Leoben gegenüber profil. Das war – mutmaßlich – eine tragische Fehleinschätzung.