Widerstand im Krieg: Sind wir in Europa Romantiker?
Der kluge Ivan Krastev sagt in einem „Spiegel“-Interview, Europa befinde sich in einer „romantischen Phase“. Der Widerstand gegen Putins Krieg werde als Freiheitskampf gegen ein Imperium gesehen; ein Kampf David gegen Goliath, mit ukrainischen Helden und Heroinen.
Sind wir wirklich Romantiker?
Wie wäre die Geschichte ausgegangen, hätte sich das Bundesheer im März 1938 den deutschen Panzern entgegengestellt? Wären ausländische Mächte Österreich zu Hilfe geeilt, Hitlers Kriegslüste schon im Keim erstickt worden – oder hätte es ein sinnloses Blutvergießen gegeben? Wir wissen es nicht. Aber vielleicht ist aus der Geschichte etwas zu lernen.
Der Antiheld im Zentrum des Geschehens hieß damals Kurt Schuschnigg. Sohn einer Offiziersfamilie in dritter Generation, ein scheuer, verschlossener Charakter. Als Internatszögling beliebt bei den Erziehern, weniger bei seinen Mitschülern, vollgestopft mit klassischer Bildung und Elitedenken. In der Demokratie sah er die Gefahr „jener öden Gleichmacherei, die bereits Plato und Aristoteles gebrandmarkt haben“, das Parlament als schädliche Institution. Als Justizminister war er treibende Kraft hinter dem Staatsstreich 1933, der Abschaffung des Parlaments, dem Verbot von Parteien. Und er tat es kalt. Die Hinrichtung eines sozialdemokratischen Schutzbündlers, der schwer verletzt auf einer Bahre zu seiner Hinrichtung getragen wurde, bezeichnete er in seinen Memoiren als „Fauxpas“, so als hätte jemand in einem Salon einen Furz gelassen.
Er wurde Kanzler, als Engelbert Dollfuß beim erfolglosen Nazi-Putsch 1934 im Bundeskanzleramt seinen Verletzungen erlag.
Da war Schuschnigg 37 Jahre alt. Kein Volkstribun, kein Charisma, keine Spur Selenskyj. Schuschnigg war gegen den „Anschluss“ an Deutschland, sah jedoch für Österreich eine „deutsche Sendung“, eine Art kultureller Vorherrschaft. Im ersten Jahr seiner Kanzlerdiktatur gelang es ihm zwar, naziinfiltrierte Heimwehrverbände zu entmachten. Doch das ging nicht auf Dauer. Der Zwangsumtausch von 1000 Mark, den Hitler jedem deutschen Urlauber abverlangte, legte den österreichischen Fremdenverkehr lahm.
Schuschnigg gab nach. Er erfüllte Hitlers Forderung, den Chef des österreichischen Generalstabs, einen ausgewiesenen Hitler-Gegner, zu pensionieren.
Am 12. Februar 1938 war Schuschnigg von Hitler nach Berchtesgaden zitiert worden. Gedemütigt kam der österreichische Kanzler zurück. Hitler hatte ihn stundenlang warten lassen, gebrüllt, gedroht, dem nervösen Kettenraucher untersagt, sich eine Zigarette anzuzünden, und am Ende einen Nationalsozialisten als Innenminister in der Regierung in Wien verlangt.
Nicht erst an diesem Punkt der Geschichte hätte Selenskyj einen Unterschied gemacht. Hitlers Mätzchen hätten nicht verfangen, er hätte ins Leere gebrüllt.
Jedenfalls gab Schuschnigg auch in diesem Punkt nach, gegen alle Bedenken von Bundespräsident Wilhelm Miklas, der gewarnt hatte: „Jedes andere Ressort, aber nicht die staatliche Exekutive.“ Als Alfred Jansa wenige Wochen vor dem Debakel seine Pensionierung aus der Zeitung erfuhr und den Bundespräsidenten aufsuchte, sagte ihm dieser, er bedaure, dass Schuschnigg Hitler nicht Einhalt gebieten wolle.
In letzter Sekunde versuchte der Kanzler, mit der Ankündigung einer Volksbefragung über den „Anschluss“ innerhalb von vier Tagen Hitler zu überrumpeln. Auch das misslang. Der Termin – der 13. März – wurde von einer Sekretärin am Ballhausplatz nach Berlin verraten (einzig, dass jetzt alles so schnell gehen musste, hatten die Deutschen nicht vorausgesehen).
Im Morgengrauen des 11. März 1938 unternahm das Österreichische Bundesheer Aufklärungsflüge an der deutschen Grenze. Am Nachmittag saßen die Rekruten des Österreichischen Bundesheeres, die sich nach Mobilisierungsplakaten brav gemeldet hatten, noch immer untätig in den Kasernen. Kein flammender Appell von Schuschnigg im grünen Military T-Shirt, natürlich nicht. Am frühen Abend kamen die Ultimaten aus Berlin, stündlich verschärft: Absage der Volksbefragung, Austausch der Regierung. Sonst nehme man Österreich mit Gewalt.
Um 19.50 Uhr gab Schuschnigg auf. In einer zweieinhalbminütigen Radioansprache sagte er, es werde „keinen wesentlichen“, um sich rasch zu korrigieren „keinen Widerstand“ geben. Die militärische Spitze war kurz zuvor informiert worden. Der Einzige, der einen Plan gehabt hätte, war nicht mehr im Amt. Nach dem Jansa-Plan hätte das Bundesheer entlang der Traun Stellungen bezogen, sich ein paar Tage gehalten, Zeit verschafft, um vielleicht den (müden) Völkerbund und andere Staaten zu aktivieren.
Im Bundeskanzleramt ging in dieser Nacht schon die Gestapo ein und aus. Einzig der Bundespräsident weigerte sich bis weit nach Mitternacht, die Ernennung der neuen Nazi-Regierung zu unterschreiben. Hitler hatte auch auf einem sogenannten „Hilferuf“ bestanden, mit dem er den Einmarsch propagandistisch untermauern wollte. Der wurde schließlich gefakt.
In Europas Eliten hatte keiner geglaubt, dass Hitler es ernst meinte. Einmarsch in Österreich – „ein lächerliches Gerücht. Hitler hat nichts mit Österreich vor“, stritt an diesem Abend der Philosoph Ludwig Wittgenstein mit einem alten Freund.
Künstler, Intellektuelle, wer immer den Ersten Weltkrieg erlebt hatte, konnte sich nicht vorstellen, dass ein solches Massaker nur zwei Dekaden später wieder möglich sei. Europa war in Friedensstimmung.
Der britische Premier Neville Chamberlain saß an jenem Tag mit dem neu ernannten deutschen Außenminister Joachim von Ribbentrop in London zusammen. Es sei nichts Besonderes geplant, beruhigte Ribbentrop.
Eine schwache Protestnote aus London und Paris erreichte spätnachts die Berliner Reichskanzlei. Die Tschechoslowakei nahm in dieser Nacht Tausende Flüchtlinge auf.
Die Machtergreifung in Wien ging innerhalb weniger Stunden vor sich. Die Kartei der Kriminalpolizei mit Linken und Nazi-Gegnern war in den Händen der Gestapo. Eine Verhaftungswelle setzte ein.
Angesichts der begeisterten Massen auf den Straßen kabelte Hermann Göring an Hitler: „Warum machen wir es nicht ganz?“ Selbst die Nazis waren von dem Rausch dieser Nacht überrascht; die deutschen Wehrmachtsverbände wurden nun rasch in Bewegung gesetzt. Am Flugfeld Aspern landeten deutsche Luftwaffeneinheiten. Am 12. März flogen den ganzen Tag über Hunderte Maschinen über Wien, machten einen Höllenlärm und einen bedrohlichen Eindruck. Millionen Propagandaflugblätter wurden abgeworfen, und es regnete kleine glänzende Hakenkreuze.
Propagandistisch war der Einmarsch der Wehrmacht mit 50 Übertragungswagen für die Wochenschauen ein Riesenerfolg, aber militärisch ein Fiasko. Es fehlte an Benzin und Straßenkarten. Pferde verendeten auf der Strecke, der damals in Österreich geltende Linksverkehr war für die Deutschen ungewohnt, Autos blieben liegen. Das Gros der deutschen Panzer musste mit dem Zug nach Wien gebracht werden. Der Auftritt Hitlers am Heldenplatz verzögerte sich dadurch um zwei Tage. Mit einem Einmarsch, der auf Widerstand gestoßen wäre, wie der russische in der Ukraine jetzt, hätte sich Hitler vielleicht ebenso blamiert, der weitere Gang der Weltgeschichte wäre ein anderer gewesen.
Adolf Hitler hatte erfolgreich gedroht. Ein halbes Jahr später opferten die europäischen Mächte die Tschechoslowakei. Die sudetendeutschen Gebiete, in denen die NSDAP monatelang die Stimmung aufgeheizt, terroristische Aktionen organisiert und ein Freikorps aufgerüstet hatte, wurden dem Deutschen Reich zugeschlagen. Zur „Sicherung des Friedens in Europa“, so hieß es. Man anerkenne die „Größe des Opfers“ der Tschechen und garantiere dafür die neuen Grenzen der Tschechoslowakei. Das war der Inhalt einer britisch-französischen Depesche an die Prager Staatskanzlei.
Auch hier denkt man unwillkürlich an Putins Krieg in der Ukraine. Doch laut einer Harvard-Studie sind asymmetrische Kriege, also Davids gegen Goliaths, immer öfter zu gewinnen. Einen Einmarsch wie 1938 in Österreich hatte sich Putin wohl vorgestellt, sagt Militärhistoriker Erwin Schmidl im profil-history-podcast. Doch es kam anders. Weil er es nicht mit Schuschnigg zu tun hatte.