Wie der 11. September einen Afghanen aus mir machte
Am 11. September 2001 war ich neun Jahre alt und lebte in Innsbruck. Dort war ich geboren und aufgewachsen, dort ging ich zur Schule. Rund zwei Jahre zuvor hatten meine Familie und ich die österreichische Staatsbürgerschaft erhalten. Jenseits der Tiroler Alpen hatte ich noch nicht viel gesehen, über das Land meiner Eltern wusste ich praktisch nichts.
Als ich an jenem Tag nach Hause kam, freute ich mich auf das übliche Zeichentrickprogramm im Fernsehen. Doch daraus wurde nichts. Meine Eltern starrten bestürzt auf das Gerät, auf allen Sendern lief eine Sonderberichterstattung. Man sah die einstürzenden Türme in New York. Panische Reporter wurden live zugeschaltet. Dann wurde das Bild eines bärtigen, Turban tragenden Mannes gezeigt.
Mein Wissen über Afghanistan war beschränkt, doch mir war klar, dass Osama bin Laden kein afghanischer Name war. Allerdings sollte er in irgendeiner Art und Weise mit den Taliban zu tun haben, die zum damaligen Zeitpunkt über weite Teile Afghanistans herrschten. Ich wusste damals noch nicht, wie sehr mich diese zwei Begriffe, „bin Laden“ und „Taliban“, in den darauffolgenden Tagen und Jahren verfolgen würden. In der Schule war ich plötzlich „der Afghane“.
„Emran, ihr seid doch aus Afghanistan. Weißt du, warum die das gemacht haben?“, fragte mich die Volksschullehrerin vor versammelter Klasse. Stotternd versuchte ich, eine Erklärung abzugeben. „Bin Laden ist aber kein Afghane … Das haben meine Eltern gesagt …“, brachte ich schließlich heraus. Rückblickend war das wohl der Anfangspunkt einer langen Entwicklung, die mich zu dem gemacht hat, was ich heute bin: Fortan war ich der ewige Erklärer des Krieges in Afghanistan, ein Land, das ich als Jugendlicher zum ersten Mal bereiste.
Ihr seid doch aus Afghanistan. Weißt du, warum die das gemacht haben? “
In der Pause ging es weiter mit dem Afghanistan-Thema. Meine Mitschüler meinten, dass mein Land bombardiert werden müsse und dass wir „es verdient hätten“. Der Dritte Weltkrieg, Atombombenabwürfe und allerlei mögliche Schreckensszenarien wurden an die Wand gemalt. „Die machen euch und die Taliban platt!“, waren Sätze, die ich hörte. Oder: „Ist Osama bin Laden dein Onkel?“ Heute weiß ich, dass ich damals nicht der Einzige war, dem es so erging. Viele Kinder wurden in der Schule drangsaliert, schikaniert und gemobbt – und das nur aufgrund der Tatsache, dass sie Muslime waren oder als solche gesehen wurden. Den Erwachsenen ging es nicht anders. Auch meine Eltern wurden regelmäßig aufgrund ihrer Herkunft diskriminiert und ausgeschlossen.
Meine Mitschüler wurden zu rassistischen Kriegstrommlern. Doch letzten Endes handelte es sich um Kinder, die nachplapperten, was die Erwachsenen zu Hause redeten, nämlich dass alle Afghanen Terroristen wären und man sie mit Bomben und Kampfjets bestrafen müsse. Bis heute finden sich zahlreiche Journalisten und vermeintliche Experten, die die Floskeln von damals wiederholen. Sie halten Afghanistan für einen „Terrorstaat“ oder wissen nicht, dass Osama bin Laden aus Saudi-Arabien stammte und nicht aus Afghanistan.
In meiner Familie hingegen stieg die Angst vor einem Angriff auf Afghanistan durch die USA, der sich nun immer deutlicher abzeichnete. Plötzlich machte man sich nicht nur um Verwandte vor Ort Sorgen, sondern auch um wildfremde Landsleute, die durch Bombardements getötet werden könnten. Für mich war das ein neues, besorgniserregendes Gefühl. Mein Land wird bombardiert, dachte ich mir wieder und wieder. Es gab Tage, an denen mich der Stress erdrückte. Während ich immer unruhiger und nervöser wurde, lechzten die Menschen um mich herum nach Vergeltung und sehnten den Krieg regelrecht herbei.
Tatsächlich war das nicht nur in meinem persönlichen Umfeld der Fall. Kaum jemand stellte einen Angriff auf Afghanistan infrage. Auch die höchsten politischen Institutionen der Welt, darunter die Vereinten Nationen, segneten jenen Krieg ab, den der damalige US-Präsident George W. Bush als „Kreuzzug“ bezeichnete. Im US-Repräsentantenhaus stimmte lediglich eine Abgeordnete, die Demokratin Barbara Lee aus dem Bundesstaat Kalifornien, gegen den Kriegseinsatz. „Ich will nicht erleben, dass diese Spirale außer Kontrolle gerät. Falls wir voreilig zurückschlagen, besteht die große Gefahr, dass Frauen, Kinder und andere Nichtkombattanten ins Kreuzfeuer geraten“, sagte sie damals. Außerdem warnte Lee vor einem Krieg „mit offenem Ende“ und „ohne Exit-Strategie“. Die Geschichte hat ihr recht gegeben. Doch damals wurde sie verhöhnt und als Terrorsympathisantin abgestempelt – ein Begriff, der in den folgenden Jahren inflationär gebraucht wurde.
Am 7. Oktober 2001 begann der längste Krieg der amerikanischen Geschichte. Bomben und erstmals auch Kampfdrohnen kamen im gesamten Land zum Einsatz. Am Boden verbündeten sich US-Spezialeinheiten mit verschiedenen afghanischen Warlords, Drogenbaronen und allerlei anderen fragwürdigen Akteuren, deren Biografien auf den ersten Blick deutlich machten, dass es Washington und seinen Verbündeten weder um Menschenrechte noch um die Demokratisierung des Landes ging. Innerhalb kürzester Zeit wurde das Taliban-Regime zu Fall gebracht. Während in Städten wie Kabul viele Männer ihre Bärte abschnitten, Frauen ihre Burkas ablegten und zu den Klängen der vor Kurzem noch verbotenen Musik feierten, begann in den ländlichen Regionen des Landes ein brutaler Krieg, der Zehntausende Zivilisten das Leben kostete.
Im Dezember 2009, zwei Monate, nachdem Bundeswehroberst Georg Klein den Befehl zu einem Luftangriff in der nördlichen Provinz Kunduz gegeben hatte, bei dem mehr als 150 Zivilisten getötet wurden, behaupteten Journalisten im öffentlich-rechtlichen Fernsehen, dass die westlichen Truppen „zu sanft“ wären und „viele Afghanen“ ein härteres Vorgehen begrüßen würden. Damit schlossen sie sich dem politischen Neusprech Washingtons und anderer Kriegsparteien an.
Diese Rhetorik war letztendlich auch einer der Gründe, warum ich selbst zur Schreibfeder gegriffen habe und Kriegsreporter geworden bin.
Die westliche Kriegsberichterstattung hat mich meistens frustriert – nicht nur in Sachen Afghanistan. Oftmals war sie geprägt von rassistischen und orientalistischen Stereotypen. Allein schon von „den Afghanen“ zu sprechen, offenbart große Ignoranz, denn die verschiedenen Gruppen und Ethnien des Landes sind überaus heterogen. Dennoch glauben viele westliche Journalisten, aus ihren Beobachtungen in den urbanen Ballungszentren wie Kabul allgemeingültige Rückschlüsse ziehen zu können.
Dabei reichte oftmals eine kurze Autofahrt aus, um auf jene Menschen zu treffen, die von den Entwicklungen in den Städten ausgeschlossen waren und Sympathien für die Taliban hegten. Sie waren nicht nur Opfer der Korruption und der damit verbundenen Armut, sondern wurden vom US-Militär und ihren Verbündeten regelmäßig bombardiert und drangsaliert. Ihr Blick auf Freiheit, Frauenrechte und Rechtsstaat unterschied sich fundamental von meinem eigenen, westlich geprägten. „Westlich und liberal“ war meist nur eine kleine, elitäre Schicht. Die Mehrheit Afghanistans – und die lässt sich in den Dörfern finden und nicht in den Städten – war stets traditionell und konservativ.
Dass man das nicht mit Gewalt aus den Menschen herausprügeln kann, haben nicht nur die Kriege in Afghanistan gezeigt, sondern auch ein Mann namens Andreas Hofer, der im Tirol des 19. Jahrhunderts einen Bauernaufstand gegen die bayerischen Truppen Napoleons anzettelte und seinen Kämpfern den „Märtyrertod“ wünschte. Der vollbärtige Hofer gilt bis heute als unantastbarer Nationalheld Tirols. Hätte er im heutigen Afghanistan agiert, hätten ihn wohl US-Drohnen gejagt.
Nun haben die Amerikaner ihren „längsten Krieg“ am Hindukusch verloren. Berichten zufolge wurden die letzten Soldaten ausgerechnet von jenen Taliban-Kämpfern zum Flughafen eskortiert, die sie zwei Jahrzehnte lang bekämpft haben. In zukünftigen Geschichtsbüchern wird womöglich geschrieben, dass Afghanistan sich wieder einmal als „Friedhof der Imperien“ bewiesen habe. Für mich persönlich wurde in den vergangenen 20 Jahren allerdings nur eines deutlich: Afghanistan ist in erster Linie ein riesiger Friedhof.
Heute weiß ich, dass ich in meiner Innsbrucker Volksschule nicht der Einzige war, der gehänselt und ausgeschlossen wurde. Im Westen fand mit dem 11. September 2001 eine Zäsur statt. Eine Welle des antimuslimischen Rassismus nahm ihren Anfang, Menschen wie ich erlebten Hass und Diskriminierung. Sie wurden als „anders“ gebrandmarkt – oder, wie in meinem Fall, „zum Afghanen“ gemacht.