Masern decken Impflücken auf
Kinderarzt Michael Sprung-Markes kennt die Gefahr aus den Lehrbüchern und reagiert prompt, als der erste Masernfall bei ihm aufschlägt. Die Krankheit kann auch im Vorbeigehen übertragen werden, das weiß der Pädiater. Eines der infizierten Kinder war sogar mit der Straßenbahn zum Arzt gefahren. Die Kinderarztpraxis ist gesteckt voll. Sprung-Markes zögert keine Sekunde, postiert eine Mitarbeiterin an der Eingangstür und zieht eine Art Impfstraße auf. An die 40 Personen, Erwachsene wie Kinder, werden sogleich gegen Masern geimpft. Eine Mutter verweigert die Impfung und verlässt mit ihrem Neugeborenen fluchtartig die Praxis. Vier Babys sind keine sechs Monate alt und dürfen deshalb nicht geimpft werden, sie kommen ins Spital. Sprung-Markes behandelt drei der aktuellen 15 Masern-Fälle. Vergangenes Jahr verzeichnete Wien 82 Fälle, sie führten zu 638 Absonderungsbescheiden, also zu Quarantäne. Heuer zogen die bisher insgesamt 25 Fälle schon 445 Bescheide nach sich.
Die jüngsten Masernausbrüche reihen sich in eine beachtliche Statistik ein. Im Jahr 2023 gab es in Österreich 186 Infizierte, 2024 bereits 542. „Masern sind ein guter Indikator dafür, wie es um die Durchimpfung steht“, sagt Infektiologe Kollaritsch. „Sie decken Impflücken gnadenlos auf. Das Masernvirus findet jene, die nicht geimpft sind, darauf kann man sich verlassen.“ In Österreich sind dies gefährlich viele. Es bräuchte eine Durchimpfung von 95 Prozent, doch davon ist man mit rund 85 Prozent weit entfernt. Österreich ist insgesamt Schlusslicht in der Europäischen Union, nur in Rumänien, wo es jährlich rund 30.000 gemeldete Masernfälle gibt, schaut die Situation noch schlechter aus als in Österreich.
Impfgegner in der Politik
Was das Impfen angeht, hinkt Österreich generell nach. Vergangenes Jahr verzeichnete die Ages (Österreichische Agentur für Gesundheit und Ernährungssicherheit) 15.465 Fälle von Keuchhusten, damit waren annähernd so viele daran erkrankt wie in den 1960er-Jahren, noch bevor es die Impfung dagegen gab. Aktuell liegt die Durchimpfung bei Keuchhusten, also Pertussis, bei 84 Prozent – es ist die niedrigste in Europa. Auch die FSME-Impfung (Zeckenschutzimpfung), einst vor allem in Österreich sehr erfolgreich, wird weniger verabreicht, sagt Kollaritsch. „Das alles sind Nachwehen der Covid-Pandemie und der Impfskepsis, die sich ausgedehnt hat. Es haben sich Ressentiments durchgesetzt.“ Dazu tragen auch politische Parteien im In- und Ausland bei, die diese Vorbehalte befeuern, sagt Kollaritsch, etwa Robert F. Kennedy, ein dezidierter Impfgegner, der in der Trump-Administration Gesundheitsminister geworden ist. Angesicht der politischen Gemengelage sei jedenfalls damit zu rechnen, dass die Situation noch schwieriger werden könnte, so der bekannte Infektiologe. Die schwarz-rot-pinke Regierung will mit Gratisimpfungen und App-Impfpässen gegensteuern. Ob diese Maßnahmen fruchten werden, ist fraglich.
Fehlende Impfpässe
Zu einer teilweise impfskeptischen Mehrheitsbevölkerung kommen zugewanderte Gruppierungen hinzu, die das Impfen ebenfalls ablehnen. Dazu zählen manche Kreise der tschetschenischen Community, erzählt Kinderarzt Sprung-Markes aus dem Ordinationsalltag in Wien-Ottakring, genauso aber wie viele Zuwanderer aus Balkanstaaten, die die Masernimpfung vielfach ablehnen. „In diesen Gruppierungen hält sich hartnäckig die Vorstellung, dass die Masernimpfung Autismus auslöst – eine Theorie des britischen Arztes Andrew Wakefield, die mehrfach widerlegt wurde.“
Viele Impflücken haben banalere Ursachen. Sie sind weniger auf Politik und Verschwörungsmythen zurückzuführen, sondern wahrscheinlich schlichtweg auf Schlamperei und fehlende Unterlagen. Viele Erwachsene wissen nicht, dass sie nicht oder nicht ausreichend geimpft sind, etwa gegen Masern, sagt Lukas Weseslindtner vom Zentrum für Virologie der Medizinischen Universität Wien. „Viele haben ihre alten Impfpässe nicht mehr und keinen Überblick darüber, wie ihr Status ist.“
500 Meter von der Kinderarztpraxis von Michael Sprung-Markes entfernt sitzt Ingo Stein in seinem Büro in der Neuen Mittelschule in der Koppstraße 110 und versucht mithilfe eines A4-Zettels zu rekonstruieren, was in den vergangenen Wochen wann passiert ist. Stein ist Direktor der Schule, hier war mit fünf Fällen jüngst ein regelrechter Masern-Hotspot. Der erste Fall kam nicht aus der Schülerschaft, sondern aus dem Lehrkörper. Eine Lehrerin rief aus dem Spital an. Danach trudelten Meldungen über zwei weitere infizierte Kinder aus ihrer Klasse ein. Im Schulgebäude, das zwei Schulen unter einem Dach beherbergt, halten sich an Unterrichtstagen an die 700 Schülerinnen und Schüler und 60 Lehrerinnen und Lehrer auf. Die Magistratsabteilung 15, das Gesundheitsamt der Gemeinde Wien, geht davon aus, dass die Infektionen sich innerhalb der Schule verbreitet haben. Wie das Virus an die Schule kam, konnte bisher noch nicht festgestellt werden. Theoretisch ist es jedoch möglich herauszufinden, woher es stammt.
Genau das macht Lukas Weseslindtner vom Zentrum für Virologie. An seinem Institut werden Viren auf ihre Herkunft untersucht. Die allermeisten Masernviren, die in Österreich untersucht werden, stammen aus Osteuropa. Reisen und Kontakt mit Menschen aus anderen Ländern bringen das Virus immer wieder nach Österreich. „Das wäre jedoch kein Problem, wenn genügend Menschen geimpft wären.“