Für Beate Meinl-Reisinger gibt es keine Ausrede dafür, an einer Wahl nicht teilzunehmen, aber jetzt muss sogar sie eine Ausnahme machen. Vor ihr steht ein Paar, seit neun Jahren wohnhaft hier im Tiroler Telfs, schon länger wahlberechtigt, gerade zurück vom Einkaufen. Die beiden haben vor dem Shoppingcenter von den NEOS ein weißes Cornetto und eine direkte Frage bekommen: Haben Sie bei der vergangenen EU-Wahl Ihre Stimmen abgegeben? Die Frau muss kurz überlegen und nachfragen. Wann war die noch mal? „Ah, 2019. Na, das haben wir verschludert“, sagt sie im Tiroler Dialekt und dreht sich zu ihrem Mann. „Da waren doch deine Herzinfarkte!“ Nicht nur einer, sondern gleich mehrere medizinische Notfälle – das lässt selbst jemand als Grund gelten, der gerade 500 Kilometer gefahren ist, um die Wahlbeteiligung zu erhöhen. Beate Meinl-Reisinger wünscht sich also, dass die beiden gesund bleiben, dass sie am 9. Juni zur EU-Wahl gehen und, sollten sie unentschlossen sein, den NEOS ihre Stimme geben. In dieser Reihenfolge.
Ihre Gesprächspartnerin wird das Paar nicht am Wahlzettel finden. Der Spitzenkandidat der NEOS heißt Helmut Brandstätter. In der Partei herrscht Arbeitsteilung: Er ist in erster Linie dafür verantwortlich, Wählerinnen und Wähler von sich zu überzeugen, vor allem mit TV-Auftritten. Als energische Parteichefin hat sich Beate Meinl-Reisinger selbst dafür zuständig erklärt, Menschen von der EU zu überzeugen. Seit dem Pfingstwochenende tourt sie durch die Gemeinden mit der geringsten Wahlbeteiligung. Mit einem kleinen Team, einem großen Plakat-Autoanhänger und einer schwierigen Aufgabe: Nichtwähler im Idealfall in NEOS-Wähler zu verwandeln.
In Telfs wird das nicht leicht, das merkt auch ein Mitarbeiter, während er gerade die Eispackungen in den Retro-Eiswagen räumt und in die Runde fragt: „Hat der mir gerade den Mittelfinger gezeigt? Der Tag fängt ja gut an.“
Hier könnten unterschiedliche Welten aufeinanderprallen, und das ist durchaus so gewollt. 8,4 Prozent der Menschen, die 2019 österreichweit zur Wahl gingen, gaben den NEOS ihre Stimme. Diese Gruppe war nach einer Befragung des SORA-Instituts proeuropäisch, optimistisch, breit interessiert und formal höher gebildet.
40,2 Prozent der Menschen, die 2019 zur Wahl hätten gehen können, taten es nicht. Sie waren vergleichsweise pessimistisch zur Entwicklung der EU, skeptisch zur österreichischen EU-Mitgliedschaft und den politischen Parteien eingestellt.
In Telfs – 8000 Bäume im Ortsbereich, 134 Vereine, 33 Prozent für die ÖVP bei der Nationalratswahl – sollten besonders viele von ihnen zu finden sein. 10.931 Menschen hätten ihre Stimme abgeben können, aber nur 4116 von ihnen gingen tatsächlich ins Wahllokal, also 38 Prozent. Meinl-Reisinger nimmt ein Mikrofon in die Hand, ihre Stimme hallt noch auf dem recht leeren Platz vor dem Shoppingcenter: „Mein Anspruch ist, konstruktiv über die EU zu diskutieren, und ich gehe gerne dorthin, wo einer sagt: Ich möchte das ganze Europa nicht.“
So einfach ist das aber nicht, denn eigentlich sagt das zu ihr hier niemand. Meinl-Reisinger trifft einen Mann, der ein geeintes Europa will. Eine Frau, die sie für ihre Linie zur Neutralität lobt. Wer wenig Interesse an politischer Mitsprache hat, möchte offenbar auch nicht mit Politikerinnen sprechen. Ein Mann mit Schnauzer, weißen Locken und skeptischem Blick lehnt jedenfalls eine Unterhaltung ab. Nur dem Wahlkampfhelfer gibt er noch einen Tipp mit: „Du tust das freiwillig? Dann hör auf damit!“
Die Sonne brennt an diesem Pfingstsamstag auf den Platz, das Eis schmilzt schnell, Meinl-Reisinger zieht ihren blauen Hoodie mit der europäischen Flagge aus. Sie sollte aber ohnehin auch in ihrem weißen T-Shirt ohne NEOS- oder EU-Branding erkennbar sein: Um sie herum verteilen Mitarbeiter Wahlinformationen in Reisepass-Form (für die Vereinigten Staaten von Europa), und am Plakatanhänger sieht man nicht nur sie selbst, sondern auch einen großen Schriftzug: „EU, einfach unnötig?“
Endlich ein Nichtwähler
Am Ende finden die NEOS jemanden, der zumindest nicht von der EU überzeugt ist, und das sogar im Schatten. Der Mann steht an seinem Gemüsestand, vor ihm die Bündel an Petersilie, die Kisten mit Kohlrabi – und Beate Meinl-Reisinger. Er ist unzufrieden und enttäuscht. Vor allem vom Umgang der Europäischen Union mit kleineren Landwirtschaften. Er wisse schon, hochgerechnet mache die Förderung für Agrardiesel einiges aus, aber sie helfe vor allem großen Betrieben. „Bei uns sind das im Jahr 150 Euro, das ist nach ein Mal Tanken weg.“ Gleichzeitig glauben viele, er sei als Bauer privilegiert. „Sie sagen zu mir: Ihr kriegt’s den Diesel eh geschenkt!“
Beate Meinl-Reisinger hört zu, gibt ihm Kontra („Ich habe den Eindruck, dass die Agrarlobby recht laut ist in Brüssel“), aber auch recht: Die Interessen in Frankreich seien beispielsweise andere als in Österreich, vor allem, wenn es um kleinteiligere Landwirtschaften geht. Sie verabschiedet sich mit einem Appell: „Ich weiß, Sie fühlen sich ohnmächtig, aber nützen Sie Ihre Stimme. Sie müssen gar nicht uns wählen, aber Sie können es ja mal probieren. So schlimm sind wir auch wieder nicht.“
Danach schaut Meinl-Reisinger spontan bei einem Fest der türkischen Community auf einen schnellen Adana Dürüm und eine kurze Wahlwerbung vorbei: „Es ist unser Österreich, unser Europa. Ihr müsst uns ja nicht wählen, aber versprecht uns, hinzugehen!“
Erstaunlich selten kommt Beate Meinl-Reisinger in die Situation, massiv Werbung für eine hohe Wahlbeteiligung machen zu müssen. Auch bei ihrem allerersten Tourstopp außerhalb Wiens.
Am Abend vor dem Telfser Besuch war das NEOS-Team in einem geliehenen Wagen aus Vorarlberg gekommen. Im Auto diskutierten sie noch darüber, ob sie Musik vom Eurovision Song Contest oder von Taylor Swift hören wollten, aber davor hatten sie vor allem ausgiebige Gespräche über europäische Politik.
In Lech, einer 1600-Einwohner-Gemeide, in der noch Schnee liegt und Nebensaison herrscht, lud Meinl-Reisinger in eine von zwei offenen Pizzerien. Werbung für den Abend wurde in den Tagen zuvor per Postwurfsendung ausgeschickt.
Am Ende sitzen die NEOS mit einem Dutzend Europa-Fans am Tisch und essen zu Abend, eine Herzerl-Pizza für „Signorina Beate“, um über Verteidigungspolitik, das Einstimmigkeitsprinzip und Bürokratie zu sprechen. Auch hier trifft sie keinen Nichtwähler, aber Meinl-Reisinger gesteht ein: „Ich habe Lech unrecht getan!“ Als Gemeinde mit der geringsten Wahlbeteiligung verschrien, klärte der Bürgermeister auf: Die Wahlkarten wurden 2019 noch nicht der jeweiligen Gemeinde zugerechnet, und damals war eben Ferienzeit.
Ab der kommenden Wahl ändert sich die Zählweise, es gibt also keine Ausreden. „Aber vielleicht erzähl ich auch die Geschichte“, meint Meinl-Reisinger scherzhaft, „dass ich hergekommen bin und die Wahlbeteiligung erhöht habe.“
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Iris Bonavida
ist seit September 2022 als Innenpolitik-Redakteurin bei profil. Davor war sie bei der Tageszeitung "Die Presse" tätig.