Gesundheit

Wie die Pflege-Misere in Österreich gelöst werden könnte

Die Regierung macht mehr Geld für die Pflege locker, doch das reicht nicht. Denn die Zahl der Alten und chronisch Kranken steigt stark. Österreich braucht 100.000 zusätzliche Pflegerinnen und Pfleger. Ist das möglich?

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Die Horrorvision vieler Familien geht so: Die Alten werden zu Pflegefällen, es findet sich kein Platz in einem Heim und die Betreuung lastet allein auf den Schultern der nächsten Generation.

Die Vision könnte bittere Wirklichkeit werden: Denn die Prognostiker der Statistik Austria gehen davon aus, dass bereits in zwölf Jahren jeder vierte Österreicher über 65 Jahre alt sein wird. Aktuell zählt nur jeder Fünfte zu dieser Altersgruppe.

Damit wird die Zahl der Pflegebedürftigen steigen – während gleichzeitig viele Betreuer aus der Babyboomer-Generation in Pension gehen. Der Pflegenotstand, der schon jetzt Spitalsbetreiber zu OP-Schließungen zwingt, wird sich zuspitzen.

Die Regierung versucht, die Misere abzumildern. Im Vorjahr wurde eine Milliarde Euro für die Pflege lockergemacht, in der Vorwoche folgten weitere 120 Millionen Euro.

Damit wird die Förderung für 24-Stunden-Betreuerinnen auf 800 Euro im Monat erhöht. Das überlastete Personal soll auch durch Zivildiener unterstützt werden. Sie dürfen künftig bei der Basisversorgung mithelfen und freiwillig eine Pflege-Grundausbildung absolvieren. Auch der Einstieg in den Pflegeberuf wird erleichtert: Nach vier Lehrjahren kann jeder zum Pfegeassistenten avancieren. Bisher führte der Weg in die Pflege nur über eine akademische Ausbildung.

Viele Ansätze, viel Geld – aber reicht das? Experten aus dem Pflegebereich sind skeptisch. Was müsste sich noch ändern, um den Notstand abzuwenden?

1. Pflegeberufe attraktiver gestalten

“Zukunftsfit ist Österreich mit dem neuen Pflege-Paket nicht”, attestiert Elisabeth Potzmann, Präsidentin des Österreichischen Gesundheits- und Krankenpflegeverbands (ÖGKV) im Gespräch mit profil. Der Pflegeberuf entspreche zwar den Bedürfnissen der jungen Generation, glaubt Potzmann: Eine sinnvolle Beschäftigung, flexible Zeiten und Krisensicherheit. Man könne jungen Menschen die Jobs jedoch nur schwer verkaufen, weil die Rahmenbedingungen bei der Ausbildung nicht passen würden, bedauert die ÖGKV-Präsidentin. Dazu zählt sie den Betreuungsschlüssel (in Österreich kommen 7 Pflegekräfte auf 1000 Einwohner), die Nachtdienste und Überforderung. Fast die Hälfte der Pflegekräfte denkt ans Aufhören, ergab eine Umfrage der Arbeiterkammer aus 2021.

Elisabeth Potzmann

"Wir sind schon in einer Pflegekatastrophe, denn wir können die Qualität nicht mehr bieten, die den Menschen zusteht."

Elisabeth Potzmann, Präsidentin des Österreichischen Gesundheits- und Krankenpflegeverbands

Für Caritas-Präsident Michael Landau gibt es in der aktuellen Pflegekrise eine gute und eine schlechte Nachricht, wie er im profil-Gespräch betont. Es seien heute so viele Menschen in den Betreuungs- und Pflegeberufen beschäftigt, wie noch nie zuvor. Für ihn heiße das, dass grundsätzlich viele Menschen bereit sind, diesen Beruf zu ergreifen. Die schlechte Nachricht sei aber, so Landau, dass noch deutlich mehr Menschen gebraucht werden.

2019 waren in Österreich rund 127.000 Pflege- und Betreuungspersonen beschäftigt; rund 67.000 im Krankenhaus und rund 60.000 in der Langzeitpflege, also in einem Betreuungsverhältnis von länger als acht Wochen. Teilzeitbeschäftigung ist in der Pflege üblich: Um 10 Vollzeitstellen zu besetzen, braucht es 13 Personen. Über 30 Prozent des gesamten Personals sind laut Gesundheitsministerium über 50 Jahre alt und älter, was bedeutet, dass diese Personen bis zum Jahr 2030 in Pension gehen werden. Diese Stellen müssen nachbesetzt werden, was einem Ersatzbedarf aufgrund von Pensionierungen von rund 42.000 Personen bis zum Jahr 2030 entspricht.

Seit 20 Jahren wird vor dieser Entwicklung gewarnt. Die Pflegekatastrophe trifft genau diejenigen, die keine Entscheidungen getroffen haben. Jetzt stellt sich nur die Frage, ob es eine harte oder etwas weichere Landung wird.

Österreich war bisher durch seine geographische Lage die ideale Zieldestination arbeitswilliger Pflegekräfte aus dem Ausland. In Skandinavien bekommen sie bessere Arbeitsbedingungen geboten, was dazu führt, dass immer weniger Pflegekräfte die bürokratischen Hürden hierzulande auf sich nehmen. Personalvermittler verdienen gutes Geld damit, Pflegekräfte aus Ländern wie Kolumbien oder Vietnam anzuwerben. Etwa 10.000 Euro zahlen die künftigen Arbeitgeber pro Person. Auch wenn die FPÖ über die Arbeitsmigration noch so tobt – ganz ohne Zuwanderung wird sich die Personalnot nicht lösen lassen.

2. Mehr Rechte für Pflegekräfte

Helmut Lutz, Geschäftsführer von Malteser Care

Österreich hat eines der teuersten Gesundheitssysteme Europas. Das Geld kommt allerdings kaum in der Pflege an. Investiert wird vor allem in die Akutversorgung – und in die Spitzenmedizin. Für den Pflegebereich stehen laut ÖGKV 0,7 Prozent des Bruttoinlandsprodukts zu, nur halb so viel wie in skandinavischen Ländern.

Was passiert, wenn man die Pflege dem privaten Markt überlässt, zeigt sich bei der 24-Stunden-Betreuung. Von 900 Organisationen, die 24-Stunden-Betreuerinnen vermitteln, sind nur 40 vom Staat zertifiziert. Bei den 860 anderen läuft es so: Die Betreuerinnen, zu 80 Prozent Frauen, müssen einen Teil ihres Lohns an die Vermittlungsorganisation abgeben oder ihren Transport nach Österreich selbst bezahlen. Sie sind oft Quereinsteigerinnen aus Ländern wie Rumänien oder Slowenien. “Es gibt praktisch keine Vorgaben in diesen Verhältnissen”, so Potzmann.

Helmut Lutz, Geschäftsführer der Hilfsorganisation Malteser Care, hält fest: Die Betreuungspersonen kommen teilweise aus Berufen ohne Pflege-Affinität, haben aber eine theoretische Ausbildung zur Helferin absolviert und trauen sich den Job zu, weil sie entsprechende Erfahrungen im Familienumfeld gemacht haben. Doch auch er fordert mehr Reglementierung, indem alle Agenturen etwa zu einer Zertifizierung verpflichtet werden und mehr Qualitätskontrollen stattfinden. Die 24-Stunden-Betreuung dürfe kein freies Gewerbe bleiben.

Doch auch in den öffentlichen Spitälern und Heimen gibt es viel zu verbessern: Für Untersuchungen, Verbands- und Katheterwechsel sollten die Menschen nicht einen ganzen Tag im Krankenhaus verbringen müssen, wo die Betten dringend für die Akutversorgung gebraucht werden, findet Potzmann. Sie fordert, gewisse Prozesse aus den Krankenhäusern auszulagern. Eine ausgebildete Pflegekraft habe die Kompetenz, diese selbst durchzuführen. In diesem Punkt lobt Potzmann die Regierung: Diplomierte Pfleger dürfen Medizinprodukte wie Inkontinenzbedarf künftig selbst verordnen.

3. Pflegeheime statt Krankenhäuser

Landau bewertet das Regierungs-Paket zwar als sinnvoll, eine Pflegereform sei das aber definitiv noch keine, wie er betont: Denn die „enormen Herausforderungen“ würden dadurch nicht gelöst. Bis 2030 werden 75.000 bis 100.000 Pflegekräfte fehlen und ein Drittel der derzeit aktiven Pflegepersonen pensioniert sein, rechnet der Caritas-Präsident vor.

Potzmann hält es für völlig unrealistisch, dass dieser Personalbedarf gedeckt werden kann. Laut der ÖGKV-Präsidentin muss an zwei Schrauben gedreht werden: Einerseits brauche es mehr Personal, andererseits müsste man den Personalbedarf senken. Das Gesundheitssystem stütze sich auf personalintensiven Strukturen, etwa in Krankenhäusern. “Ich verstehe nicht, dass wir überhaupt noch darüber nachdenken, neue Krankenhäuser zu bauen”, kritisiert die ÖGKV-Präsidentin: “Wir haben genug Krankenhäuser - und hinter Deutschland die höchste Bettenzahl pro Kopf im europäischen Raum.”

Caritas-Präsident Michael Landau

Das Problem ist: Wer in ein Pflegeheim will, kommt erst auf eine Warteliste - zur Überbrückung gibt es die mobile Pflege, auf die Betroffene oft auch länger warten müssen. Als Alternative bleibt nur die 24-Stunden-Betreuung, die jedoch teuer und unreguliert ist. “Und so stauen sich die Patienten im System und belegen Betten in Spitälern, die sie eigentlich gar nicht brauchen”, erklärt Potzmann. Und: “Wir sind schon in einer Pflegekatastrophe, denn wir können die Qualität nicht mehr bieten, die den Menschen zusteht.” Rund 30.000 Menschen nehmen laut Malterser Care in Österreich die 24-Stunden-Betreuung in Anspruch. Das kostet im Schnitt 3000 Euro im Monat.

4. Angehörige entlasten

Viele Menschen wollen ihre Angehörigen im Pflegefall unterstützen und begleiten, erzählt Landau aus der Praxis. Andererseits habe sich die Demografie verändert, große Familienstrukturen sind weniger geworden, berufliche Erfordernisse der Flexibilität haben sich verändert. Die Menschen leben heute verstreut in Österreich, in Europa und der Welt.

“Wir haben ein System, das auf Angehörigen beruht”, kritisiert Potzmann. Wer krank wird, habe nicht die Kraft, für sich zu kämpfen - das dürfe auch nicht sein. Nicht jede pflegebedürftige Person habe auch Verwandte, die für sie die Anwaltschaft übernehmen. Dazu kommt: “Und es kann nicht die Pflicht der Kinder sein, irgendwann die pflegebedürftigen Eltern betreuen zu müssen.” Noch immer übernehmen überwiegend Frauen die Versorgung in der Familie. “Aus unserer Sicht muss jeder, der es möchte, Zugang zu professioneller Pflege haben”, sagt Potzmann. Der Staat müsse im Bedarfsfall eine Pflegekraft vermitteln.

“Da geht es um Menschenleben und um Lebensqualität. Und man hat es versäumt, dort hinzuschauen”, so Potzmann. Die Maßnahmen müssten über eine Legislaturperiode hinausgedacht werden - den Erfolg ernte man möglicherweise erst in 30 Jahren.

5. System vereinheitlichen

Momentan werden Bedürftige in Tirol anders gepflegt als in Oberösterreich. Laut Potzmann sind manche Pflegeteams halb so klein wie andere. “Es ist ein Unterschied, ob in einem Heim drei Pflegekräfte im Nachtdienst arbeiten oder nur eine ”, sagt Potzmann. Man könne sich vorstellen, welche Unterscheide das in der Versorgung und in der Qualität ausmache.

Laut Landau gehe es darum, österreichweit einheitliche und vergleichbare Qualitäts-, Versorgungs- und Finanzierungsstandards anzustreben: “Die Bundesregierung versäumt es, mit einer strukturellen Pflegereform die österreichweite Harmonisierung und langfristige Finanzierung der Pflege sicherzustellen.” Hier geht es vor allem um die Arbeitsbedingungen des Pflegepersonals, aber auch um Angebot und Verfügbarkeit von Pflegeplätzen. Jetzt gibt es weder für die Betroffenen noch für die Angehörigen, noch für die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter diese Standards, unabhängig davon, wo man sich in der Republik aufhält. “Die Republik ist einfach zu klein für einen Flickenteppich”, sagt Landau.

Elena Crisan

Elena Crisan

war bis Oktober 2024 Journalistin im Online-Ressort.

Philip Dulle

Philip Dulle

1983 in Kärnten geboren. Studium der Politikwissenschaft in Wien. Von 2009 bis 2024 Redakteur bei profil.