Hinter Gittern
Seine ersten Zellengenossen: Zwei volljährige Algerier. Die beiden Männer masturbierten neben ihm. Er wollte, dass sie aufhören, sie weigerten sich, er schlug zu. Chaos brach aus, einer der Algerier bedrohte Mitaev mit einem angespitzten Buttermesser. Der junge Tschetschene hat Kampfsporterfahrung und warf den Erwachsenen zu Boden. Dessen Kopf schlug hart auf dem Gefängnisboden auf. Mitaev drückte die Notruftaste.
Immer wieder wurde Mitaev in andere Zellen versetzt, immer wieder gab es Probleme mit den Mitinsassen, immer wieder Gewalt. Zum Schluss saß der damals 14-Jährige mit Dschihadisten ein, Männern, die nach Syrien reisen wollten, um Andersgläubige zu töten und für die Terrormiliz IS zu sterben.
„Dass sich ein Jugendlicher die Zelle mit erwachsenen IS-Anhängern teilt, ist ein echtes Negativbeispiel“, sagt Veronika Hofinger. Die Kriminalsoziologin der Uni Innsbruck hat untersucht, wie Jugendliche zu IS-Sympathisanten wurden. Verdammt zur Untätigkeit, allein mit den eigenen Gedanken und der Wut auf die Gesellschaft, bietet das Gefängnis einen guten Ort zur Radikalisierung. „In einer solchen Krisensituation kann der Dschihadismus ein attraktives Angebot sein“, erklärt Hofinger: „Statt dem Strafrecht gilt das göttliche Gesetz. Und aus schuldig gesprochenen Ausgeschlossenen werden Auserwählte.“
„In Tschetschenien wurden wir durch Russland unterdrückt. Dann sind wir nach Österreich geflüchtet und wurden in der Schule scheiße behandelt, auf der Straße scheiße behandelt und im Gefängnis scheiße behandelt“, erzählt Mitaev profil heute: „Diese Ungerechtigkeit im Gefängnis, rassistische Bemerkungen, die Ohnmacht: Das löst alles etwas in dir aus.“
Die Terrormiliz IS bediente dieses Opfernarrativ: Muslime würden stets unterdrückt, es sei Zeit, zurückzuschlagen. Dazu liefen 2014 dauernd Bilder aus dem syrischen Bürgerkrieg über die Fernsehschirme. Nach und nach keimte die radikale Saat in Mitaevs jungem Hirn: „Ich wollte es allen heimzahlen.“
Nach der Haft
In der Haft hatte sich Ahmad Mitaev radikalisiert. Als Jugendlicher wollte er 2016 nach Syrien fahren.
Gelernte Lektionen
Heute sollte eine Radikalisierung in Haft schwerer möglich sein. „Wenn eine Person wegen einer terroristischen Straftat in Haft ist, erhält sie ab dem ersten Tag externe Unterstützung“, sagt Caroline Walser. Die Juristin leitet die Koordinationsstelle Extremismusprävention und Deradikalisierung (KED) im Justizministerium. Die Stelle wurde nach dem Wiener Terroranschlag vom 2. November 2020 eingerichtet und sammelt seit 2022 Informationen zu den 138 Personen, die derzeit als extremistische Straftäter in Österreichs Gefängnissen sitzen. 84 von ihnen haben gegen das Verbotsgesetz verstoßen, 46 sind aufgrund terroristischer Straftaten hinter Gittern.
Ein Standardprogramm zur Deradikalisierung gibt es in Österreichs Gefängnissen nicht. Sozialarbeiter, Therapeuten, Justiz und Staatsschutz schätzen den Täter ein und erstellen einen individuellen Vollzugsplan. Bei schwer ideologisierten Hasspredigern steht der Schutz der Bevölkerung im Vordergrund. Bei Jugendlichen auf der schiefen Bahn die Bemühung, sie auf den richtigen Weg zurückzubringen. So soll etwa Österreichs Jugendgefängnis noch heuer aus dem niederösterreichischen Gerasdorf nach Wien ziehen. „In der Stadt ist es einfacher, mit Familien und Freunden in Kontakt zu bleiben oder Betreuungsmöglichkeiten und Jobs zu finden“, erklärt Walser.
Wenn eine Person, die aufgrund des Terrorparagrafens eingesperrt ist, bedingt entlassen werden soll, ist seit 2022 eine Fallkonferenz aus Gericht, KED und der Clearingstelle der Direktion für Sicherheit und Nachrichtendienst (DSN) verpflichtend. Dabei geht es nicht nur um Sicherheitsabwägungen. Mit einer bedingten Entlassung soll dem ehemaligen Häftling auch geholfen werden, nicht rückfällig zu werden. Das sei keine Wohltat des Rechtsstaates, sondern „ein Mittel der langfristigen Resozialisierung“, erklärt Walser. Nur, wenn bedingt entlassen wird, kann der Täter etwa zu Deradikalisierungsmaßnahmen – zum Beispiel eine therapeutische Begleitung – verpflichtet werden. Ist er hingegen bis zum letzten Tag in Haft, hat er danach keine Auflagen.
Bei Anzeichen einer erneuten Radikalisierung in Freiheit kann der Staatsschutz dann alle relevanten Einrichtungen zu einer „Fallkonferenz Staatsschutz“ bitten. Die heranwachsende Bedrohung soll dabei nach Möglichkeit zivilgesellschaftlich gestoppt werden. Ein Beispiel: Ein Jugendlicher war aufgrund einer terroristischen Straftat in Haft und wird bedingt entlassen. Doch in der Freiheit findet er keinen Job und verliert den Lebenswillen. Dank der engmaschigen Betreuung läuten nun alle Alarmglocken: In einer Fallkonferenz wird neben DSN, Landesamt Staatsschutz und Sozialarbeitern auch das Arbeitsmarktservice (AMS) hinzugezogen, um rasch eine Beschäftigung für den jungen Menschen zu finden.
Mitaev setzt noch früher an. Der mittlerweile 24-Jährige hat die dschihadistische Ideologie hinter sich gelassen. Stattdessen geht er aktiv auf gefährdete Jugendliche zu, erzählt ihnen seine Geschichte und hört sich ihre Sorgen an. Der gläubige Moslem erreicht die Jugendlichen mitunter auf einer anderen Ebene als die meisten Sozialarbeiter. Wenn sie fragen: „Bruder, warum machst du das?“, antwortet er: „Damit ihr nicht dieselben Fehler macht wie ich.“
Cop und Che
Mandelbaum-Verlag. 200 Seiten, 20 Euro
Ex-profil-Autorin Edith Meinhart über Ahmad Mitaev, der vom kriminellen Jugendlichen zum TikTok-Star mit „Cop“ Uwe Schaffer wurde.